Dann ging er ins Schlafzimmer, das nichtsahnend im Dämmerlicht dalag. Zugezogene Vorhänge, ein Raum mit geschlossenen Augen. Er zog den Pinsel über die Unterseite der Polster auf dem Doppelbett — die beinahe klare Restfeuchtigkeit wurde von dem Gewebe des Polsterüberzugs aufgesogen und, soweit er das erkennen konnte, spurlos absorbiert.
Two hairs and some air, nannte das der Meister Bob Ross immer.
Robert ging zurück ins Wohnzimmer, zu den Büchern. Interviews mit Sterbenden. Der Pinsel machte seine beruhigenden Geräusche auf dem Buchrücken, dann ging er zu den anderen Büchern über. Vielleicht würde er Willis Asthma dadurch heilen, wer weiß.
Plötzlich klopfte es. Beinahe fiel Robert der Pinsel aus der Hand. Er erstarrte, lauschte.
Aber das Klopfen war nur in den Wänden. Gedämpft, sich wiederholend. Ein Nachbar hängte vermutlich ein Bild auf oder befestigte ein Regal an der Wand.
Robert holte ein letztes Mal Nachschub. Der Pinsel bekam diesmal eine satte, sichtbare Ladung. Und er bohrte das Essstäbchen tiefer in die Sohle seines Schuhs, dort, wo unter der hartgetretenen Schicht noch etwas weichere, hellere Masse wartete. Er betupfte damit die Fenstergriffe und hätte beinahe auch die Klinke der Wohnungstür bestrichen, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass er sie heute noch selbst anfassen musste. Also verpasste er den letzten, schon wieder etwas blasseren Strich der Maus von Willis Computer, die sowieso eine leicht bräunliche Farbe hatte.
Zufrieden machte sich Robert auf den Heimweg. Zeitung, Essstäbchen und Pinsel hatte er mitgenommen und in einiger Entfernung von Willis Wohnung in einen Mülleimer geworfen. Während er ging, prüfte er den Geruch seiner Finger. Sie rochen ein wenig verschwitzt, aber sonst war alles in Ordnung.
Wie um ihm zuzujubeln, zeigte ihm ein Geschäft für Kinderspielzeug, an dem er vorbeikam, ein lachendes Gesicht.
Forever Young stand unter dem Gesicht.
Auf dem Nachhauseweg dachte er an die leere Wohnung. Er wusste, was er zu empfinden hatte. Cordula war weg. Sie hatte gepackt, alle ihre Kleider in die Reisetasche gestopft, die nach dem dunklen Jahr der schlimmen Panikattacken roch, und war an ihm vorbeigegangen. Sei froh, hatte sie zu ihm gesagt. Du hast es endlich geschafft.
Wenn er versuchte, darüber entsetzt zu sein, so wie heute Morgen in der Küche, war da nichts, nur die Erinnerung, wie sich ihr Bauch angefühlt hatte, als er ihn –
Er hielt den Moment an. Pausetaste. Aber es kam immer noch nichts.
Verwirrt trat er in eine Pizzeria am Jakominiplatz und bestellte eine Margherita zum Mitnehmen. Dann trug er den Karton wie eine Zeichenmappe nach Hause, Öl tropfte neben ihm auf die Straße, und er ließ es tropfen. Als er den Karton öffnete, war der Käse ganz auf eine Seite gerutscht. Schlaganfall-Pizza.
Draußen, in der Abenddämmerung, spielten nur mehr einige wenige Autos auf der Straße Fangen. Er aß, ging auf die Toilette, dachte daran, wie es wäre, ein Kind in einem Rollstuhl eine steile Straße hinunterrasen zu lassen, und stellte sich unter die Dusche. Warmes Wasser. Das Schwindelgefühle unterdrückende Gesicht von Alicia fiel ihm wieder ein. Seine Erektion sah dumm und unglücklich aus. Er drückte die Eichel an die weißen Fliesen der Dusche, spielte ein wenig mit dem winzigen Fischmaul, zu dem sich die Harnröhrenöffnung formen ließ. Das Kind im Rollstuhl, abwärts rasend, wurde immer schneller und knallte durch eine große Fensterscheibe, die von zwei Stummfilmstatisten in Zeitlupe über die Straße getragen wurde. Glassplitter überall. Der Beutel vom künstlichen Darmausgang des Kindes wirbelte davon und landete auf dem Briefkasten eines Hauses (einem dieser amerikanischen, auf einem langen Stecken, mit einem kleinen roten Fähnchen, das hochgeklappt wird, wenn Briefe gekommen sind).
Er zwang sich dazu, ihren Namen zu denken: Cordula. Er sagte ihn laut, Wasser aus dem Duschkopf lief ihm in den Mund. Er schluckte es, wie zur Strafe. Wofür gibt es mich? Ich stehe in der Dusche. Ich male ein oder zwei Bilder im Jahr.
Er schwankte, als er aus der Dusche stieg und sich abtrocknete.
Sanfte Amoklauffantasien begleiteten ihn im Halbschlaf. Eine Messerstecherei, so weich und federnd wie eine Kissenschlacht. Der Mann ohne Schultern, der ihn im Bankfoyer angesprochen hatte, trat auf ihn zu und überreichte ihm eine neue Visitenkarte. Als Ersatz für die alte, flüsterte er Robert zu, der ihn angewidert mit beiden Händen von sich stieß und sich vom gespannten Drahtseil in die düstere Manege des Schlafs fallen ließ, wo andere Lebewesen schon auf ihn warteten.

5 Die Relokation der Magda T
[Grüne Mappe]
Raue, migränegelbe Kopfschmerzen wechselten sich mit Schwindelattacken ab. Aber dabei, sagte ich mir immer wieder, war doch gar niemand in meiner Nähe. Das kühle, mit schleimig weißem Shampoo vermischte Wasser hatte die (nicht fiebrige, sondern mehr atmosphärische) Hitze aus meinem Kopf nicht vertreiben können. Die Symptome wurden auch nicht besser, als ich, nur mit einem Bademantel bekleidet, durch die nächtlichen Korridore des Hotels ging und mich vor dem Snackautomaten aufstellte, um mich in dem eiskalten Licht der Getränkedosen und Schokoriegel ein wenig hin und her zu drehen. Ich kehrte zurück ins Hotelzimmer, legte mich ins Bett und zählte.
Eine Stunde und noch eine Stunde…
Bei der Rückkehr auf die Weide vergleichen die Schafe die Nummern, die ihnen der schlaflose Mann in seinem Bett heute Nacht zugewiesen hat: Welche Nummer hast du bekommen? — Die Neunzehn, wieder. — Wer ist die Nummer eins? He, Nummer eins! Wir müssen wissen, wer der Anführer ist. Enttäuschte, gramgebeugte Muttertiere, deren Kinder nur eine dreistellige Zahl ergattert haben, wieder nicht bei den ersten Einhundert dabei! Auch still vor sich hin weinende, heute nummernlos gebliebene Schafe sind dabei. Die meisten von ihnen lassen die Köpfe hängen, unzufrieden mit dem Leben. Aber sie gehen trotzdem jeden Abend zu ihm, dem Schlaflosen in seiner abgedunkelten Kammer, der sie zählt, um müde zu werden. Sie brauchen es, genauso wie er es braucht. Im Grunde lieben sie den Moment, da sie die Zahl trifft, mitten in den wolligen Bauch. Es lässt sie für einen Augenblick vergessen, dass ihre Anzahl, so wie die Tage und Nächte des Schläfers, endlich ist.
Schließlich stand ich auf, ein sich mit Tag-Geschwindig-keit bewegender Körper in der verlangsamten Nachtzeit. Ich fühlte mich wie ein Raumschiff.
Ich nahm die Unterlagen, die mir Oliver Baumherr gegeben hatte, aus der grünen Mappe und studierte sie. Die Relokation der Magda T. Ich ordnete die Zeitungsausschnitte auf dem schmalen Hotel-Schreibtisch. In den ältesten Artikeln war das Gesicht eines Kindes zu sehen, das von einem schwarzen Anonymitätsbalken verdeckt war, dann, in den jüngeren, hatte man darauf verzichtet: ein Mädchen von dreizehn Jahren. Zahnspangenlächeln. Helle, fröhlich wirkende Augen.
Ihr geht es jetzt gut, lautete der erste Satz eines Artikels. Er datierte vom 5. Mai 2001. In ihm wird erwähnt, dass der Vater, Theodor T., mit seiner Tochter irgendwann im Jahr 1999 umgezogen sei. Er sprach aber nicht von Umziehen, sondern von Relokation. Die früheste Erwähnung dieses Wortes, dachte ich in der Stimme des Oxford English Dictionary. Die kleine Familie wohnte nun bei einem Onkel des Mädchens, der Gefängniswärter in einer Justizanstalt an der deutsch-österreichischen Grenze war. Tagsüber habe sie oft in einem Raum gespielt, der völlig leer gewesen sei. Bei einer späteren Inspektion der Anstalt fiel den Beamten ein Raum auf, der wie ein Kinderzimmer eingerichtet war. Aber darin sei Magda niemals gewesen, hieß es, das Zimmer sei einzig für die Besuche von Kindern eingerichtet worden. Kindern von Häftlingen.
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