Mein Gott, diese Stadt, wie klein im Herbst alles in ihr wurde, sogar die Einkaufsstraße erschien ihm verkürzt. Er ging in der Herrengasse an der kleinen Kirche mit dem Glasfenster vorbei, auf dem Hitler und Mussolini dargestellt waren, vorbei an einer Bettlerin, die einen ewigwährenden epileptischen Anfall hatte, vierundzwanzig Stunden lang, manchmal lief ihr sogar etwas Speichel aus dem Mund. Ihr Becher war beinahe leer, und Robert hatte den Verdacht, dass sie sich von Münzen ernährte.
Seine früheren Schulkollegen waren alle nordwärts gezogen. Nach Wien, jeder einzelne. Wie Luftballone, die, einmal freigelassen, automatisch nach oben schwebten. Und wie man hörte, waren sie alle erfolgreich im Leben untergekommen, schutzgepanzert wie eh und je, so windsicher und wetterfest wie Nano-Anoraks, und hielten in ihren vergrößerten Sitzungszimmern wahrscheinlich in dieser Sekunde Zeigestöcke gegen Diagramme oder brüllten Menschen am Telefon an, die sich hinterher bei ihnen viele Male für den Anruf bedankten, oder sie saßen einfach nur herum und wurden von Minute zu Minute erfolgreicher. Max Schaufler war in den Betrieb seiner Eltern eingestiegen. Kunststück. Robert bekam von ihm immer noch jedes Frühjahr eine Einladung zu irgendeinem Fest auf dem Firmengelände. Selbst die Unterschrift darauf war gedruckt und jedes Jahr exakt gleich.
Er hatte sich die Adresse des Lehrers auf die Hand geschrieben. Im Grunde war er überrascht gewesen, dass der Mann noch am Leben war. Nicht wegen seines Alters, denn wie alt mochte er jetzt sein, vierzig vielleicht, höchstens fünfundvierzig, jedenfalls nichts Weltbewegendes, aber er hatte immer so eine unangenehme Energie ausgestrahlt, als geschähe alles, was er tat, unter einem mysteriösen Zwang. Selbst wenn er schweigend herumstand, wirkte er besessen. Wenn er lächelte, sah er aus wie jene Leute, die ein Exemplar der aktuellen Zeitung in die Kamera halten, damit die Angehörigen zu Hause sehen, dass sie noch am Leben sind. Und beigebracht hatte er ihnen auch nichts.
Einmal hatten sie trigonometrische Aufgaben durchgenommen. In einem Beispiel war es um einen Raum gegangen, in dem ein Mann wohnte. Das Bett ist so groß und der Schrank so, und quer durch den Raum verläuft eine Wasserader, die das Bett und den Schrank in einem bestimmten Winkel schneidet. Jetzt ist der Mann, der natürlich nicht auf einer Wasserader liegen will, weil er nicht über Nacht Krebs in der Wirbelsäule bekommen möchte, dazu gezwungen, sein Bett so zu verrücken, dass es in dem vom Einfluss der Wasserader unberührten Bereich steht. Und nun war die optimale Position des Bettes und auch des Kleiderschranks zu berechnen (denn auch die Kleider könnten die böse Energie der unterirdischen Wasserader nachts in sich speichern und bei Tag an ihren Träger weitergeben). Der Mathematiklehrer hätte ihnen eigentlich erklären sollen, wie sie das Beispiel angehen sollten, aber dann hatte ihn die Situation des Mannes offenbar amüsiert, und er hatte zu plappern angefangen. Mit dem winzigen Kreidestück (er schrieb immer mit diesem fast kreisrunden Knubbel und dazu noch in diesen Baby-Blockbuchstaben, die kein Mensch lesen konnte) in der Hand ging er vorne an der Tafel auf und ab, blickte hin und wieder in die weit entfernten Gesichter seiner Schüler und sagte, dass der Tod des alten Mannes (im Beispiel war nichts über das Alter des Mannes gestanden) gewissermaßen vorprogrammiert sei: Denn er verrückt sein Bett immer wieder, weil zwei verschiedene Medien, Rutengänger mit ihren Draht-Ypsilons, vielleicht sogar drei, bei ihm waren, und natürlich gibt es da einander widersprechende Messergebnisse, und der alte Mann weiß nicht, welches er für das glaubhaftere halten soll, also sucht er nach einem Kompromiss, denn es gibt einen Bereich, links vorne (er deutete auf die Tafel), dort wo der Schreibtisch steht, der von allen drei Messungen als ungefährlich angezeigt wurde, also denkt sich der alte Mann, sicher ist sicher, und rückt ganze Nachmittage lang sein Bett durch den Raum, zwischendurch bricht er erschöpft auf ihm zusammen und ruht sich aus, und am dritten Tag, hahaha, da bekommt der wasseradersensitive Alte beim Verrücken des Bettes einen Herzinfarkt und bleibt in der Mitte des Zimmers liegen. Und von oben betrachtet, erinnert seine Haltung an einen Kletternden in einem fast vertikalen Berghang. (Der Lehrer zeichnete eine Strichmännchenskizze von dem Toten. Sie sah aus wie eine zertretene Heuschrecke.)
Zugegeben, sie hatten über die Geschichte herzlich gelacht, aber trotzdem waren die Mathematikstunden immer unmöglich gewesen. Viel zu viel Zeit hatte der Lehrer mit seinen komischen Abschweifungen vergeudet, der dann auch noch — ja, genau, Robert erinnerte sich — andauernd über Kopfschmerzen geklagt hatte, obwohl man ihm bestimmt gesagt hatte, wie furchtbar unsensibel das gegenüber den Schülern der Helianau war. Aber gerade deswegen, weil er kein Geheimnis aus seinen häufig auftretenden Kopfschmerzen und Schwindelattacken und Konzentrationsproblemen machte, hatten manche Schüler ihn gern gemocht.
Und derselbe Typ hatte einem Mann bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Wie zum Teufel machte man das überhaupt? Allein das Gebrüll …
Aber er ist doch gar nicht …, sagte Cordulas Stimme in seinem Kopf. Sie war seit gestern nicht mehr zu erreichen. Brauchte wahrscheinlich ein bisschen Zeit, um abzukühlen. Er hatte sich ja bei ihr entschuldigt und alles. Gut, sie war rausgelaufen und hatte gerufen, gratuliere, herzlichen Glückwunsch — so als hätte er es jetzt endlich geschafft, sie zu vergraulen.
Okay, er hatte einen Fehler gemacht.
But we don’t make mistakes. We only have happy accidents.
So wie sein erstes Mal. Es war nichts, woran er sich gern erinnerte. Er war neunzehn, und er bewegte sich — in seinem Kopf — immer noch in der Zone. Ein warmes, sicheres Gefühl war das gewesen, zumindest jetzt, im Rückblick. Er hatte einen Termin mit einer Frau vereinbart, die sechzig Euro die Stunde kostete, Aufpreise würden erst später, währenddessen, diskutiert werden.
Robert wusste, dass er eigentlich an Cordula denken sollte. Aber seine Gedanken wurden in die Vergangenheit gezogen. Der Fahrtwind der Gegenwart war einfach zu stark.
Die Frau hatte ihn an der Tür ihres Apartments begrüßt — so nannte man diese kleinen Räume, an deren Türen Poster mit vergrößerten Coverbildern von Pornovideos hingen. Robert trat in den Raum und versuchte, nicht allzu verschreckt zu wirken. Er hielt der Frau als Erstes das Geld hin. Sie nahm es und verstaute es in einer hölzernen Schublade. Aus irgendeinem Grund war es der Anblick dieser Schublade, der Robert etwas entspannte. Es war ein Ding, das auch in Märchen vorkommen konnte.
Die Frau sprach nur schlecht Deutsch, aber mit einigen deutlichen Gesten gab sie ihm zu verstehen, dass er ihr demonstrieren soll, was er gerne mit ihr machen würde.
— Normal, sagte Robert.
Dann deutete er auf seinen Mund und auf ihren. Sie schüttelte den Kopf.
— Aber ich kann …, sagte sie.
Und machte ihm vor, was sie stattdessen tun konnte: ihm in den Mund spucken. Die Pantomime war sehr überzeugend, Robert verstand sofort. Merkwürdigerweise dachte er sogar einen Augenblick über dieses Angebot nach. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass es ihm gar nicht gefiel. In den Mund spucken. Widerlich. Er winkte ab. Dann deutete er eine gewöhnliche Missionarsstellung an und bewegte sich vor und zurück.
Die Frau griff sich kurz an die Schläfen, schüttelte den Kopf.
So schnell, dachte Robert.
Er sagte nichts.
— Wie alt? fragte die Frau und deutete auf ihn.
— Neunzehn.
Er zeigte einmal seine zehn Finger, dann nur noch neun. Sie nickte und bedeutete ihm, jaja, sie habe schon beim ersten Mal verstanden. Dann half sie ihm, die Kleider auszuziehen. Hin und wieder entkam ihr eine Art Stöhnen, und sie atmete tief durch.
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