Robert warf das Buch in die Ecke. Schnaufend stand er auf, riss sich die Knopfhörer aus den Ohren und ging quer durchs Zimmer, dann griff er nach der Jeans, die zufällig vor ihm auf dem Boden lag, und begann an ihr zu zerren und zu ziehen. Natürlich war der Stoff zu fest, er konnte ihn nicht zerreißen. Er zog noch eine Weile, bis ihm die Kraft ausging, dann lief er zu Cordula.
— Warum gibt du mir so einen Unsinn zu lesen?
— Robert! Du bist ja ganz rot im Gesicht. Was ist passiert?
— Was passiert ist? Du gibst mir lächerlichen Müll zu lesen, das ist passiert!
— Schrei doch nicht so. Hat es dir nicht gefallen?
Robert wusste nicht, was er sagen sollte. Vielleicht wollte sie ihn fertigmachen. Sie saß vollkommen ruhig auf einem Küchenstuhl neben dem Fenster, hatte ein Knie angewinkelt, rauchte und schaute hinaus. Vor ihr stand der Aschenbecher, den er ihr geschenkt hatte. Er sah sich den Aschenbecher nehmen und damit auf sie einschlagen. Aber dann sagte er:
— Es ist überhaupt nicht lustig.
— So? Na ja, ich hab’s schon ziemlich ulkig gefunden. Wie weit bist du gekommen? Haben sie schon den außerirdischen Therapeuten getroffen?
Robert schüttelte den Kopf.
— Ich werde …, sagte er. Du weißt schon.
Er deutete auf seinen Mund und formte Daumen und Zeigefinger zu einer Tablette.
— Okay, sagte Cordula und wandte sich wieder dem Anblick der Stadt zu.
Dächer, Balkone, Satellitenschüsseln. Baukräne, Wolken.
Nachdem Robert eine Dosis Sviluppal geschluckt hatte, stellte er sich ans Fenster und wartete auf die Wirkung. Kleine chemische Puzzlesteine verteilten sich in diesem Augenblick in seinem Körper und suchten nach einem passenden Nachbarn, einer Andockstation. Im Hof bewegte sich nichts, das Laub war größtenteils schon abgefallen, und die Erde war davon auch nicht schöner geworden.
In der Nähe der Fahrräder entdeckte Robert Frau Rabl und ihren Sohn. Er erkannte sie an der Jacke. Es war dieselbe wie damals, als sie bei ihm geklingelt hatte. Es war immer dieselbe. Die Nachbarin stand direkt vor ihrem Kind. In der Hand hielt sie ein Marmeladenglas, aus dem sie mit einem Löffel kleine Kostproben nahm und dem Kind zu essen gab. Der Junge verzog bei manchen Bissen das Gesicht, als wäre die Marmelade ungeheuer sauer, bei anderen schaute er ganz normal, obwohl es immer dasselbe Glas war.
Robert wunderte sich darüber, wie wenig Hass er in diesem Augenblick empfand. Er stellte sich vor, wie jemand mit einer Axt auf das Kind losging, aber es fühlte sich vollkommen falsch an. Merkwürdig. In Gedanken nahm er der schemenhaften Gestalt sogar die Axt aus der Hand und schlug sie damit in die Flucht. Seltsam.
Als er das Fenster aufmachte, hörte er den Lärm eines kleinen Festumzugs, der sich ganz in der Nähe durch eine der engen, verwinkelten Gassen des Bezirks bewegen musste. Einige hohe Jubelschreie wehten in voller Lautstärke zu ihm herüber. Schnell machte er das Fenster wieder zu.
Am Abend desselben Tages kamen Willi und seine neue Freundin zu Besuch. Willi war schnell, was das Ablegen alter und Auftreiben neuer Freundinnen anging. Mit dieser hier, Magda, die sehr hübsch, aber nicht langweilig war, hatte er bereits jetzt seine Probleme. Und er machte kein Geheimnis daraus.
— Aber das Schlimmste! schnappte Willi und hob einen Zeigefinger. Das Schlimmste ist, wenn sie sich, nachdem sie aufs Klo … hast du was dagegen, Schatz, wenn ich’s erzähle?
Magda, deren Profil in Roberts Kopf immer noch gelegentlich mit dem von Elke verschmolz, machte eine Ist-mir-ganz-egal-Schatz-Geste mit den Schultern. Willi lachte erleichtert und fuhr fort:
— Also wenn sie aufs Klo geht und … macht … ja? Also, ich meine, wenn sie fertig ist, ja? Dann steht sie auf, natürlich, tupft sich ab (er imitierte die weibliche Art, sich nach dem Pinkeln mit Klopapier von den letzten Tropfen Urin zu reinigen, als wäre es eine zutiefst lächerliche Idee, Papier zu verwenden, wenn einem die Natur dafür doch eine Unterhose gegeben hat) und, na ja, dann … (er gluckste, weil er den schwer zu deutenden Blick seiner neuen Freundin aufgefangen hatte) … und dann kommt sie raus und fragt, ob ich auch zufällig muss, weil wir so Wasser sparen können.
— Was? sagte Cordula.
— Na ja, wegen Wasser sparen und so. Wenn wir beide pissen gehen und nur ein Mal spülen, dann — schau mich doch nicht so an!
— Aber du machst es kaputt, wenn du’s so erzählst, sagte Magda. Bei dir klingt es so, als würde ich dich zwingen. Es ist nur eine Idee, dem Planeten zu helfen.
— Indem ich jedes Mal deine Hinterlassenschaft begutachten muss, wenn ich pinkeln gehe?
— Ach, du bist so ein Rhinozeros, sagte sie und gab ihm einen respektvollen, überniedlichen Stupser mit ihrem Zeigefinger.
Robert musste wegsehen. Seine Hand betastete die Unterseite des Tisches. Er fand eine Schraube, schob die scharfe Kante des einige Millimeter hervorstehenden Schraubenkopfs unter seinen Fingernagel. Wie war es wohl, Hunderte winzige Fliegen einzuatmen und an ihnen zu ersticken? Das innere Gesumm, das Schlagen der Flügel …
— Wasser wird auf diesem Planeten in den nächsten fünfzig Jahren immer knapper werden, sagte Magda. Der nächste Krieg wird um Trinkwasser geführt werden.
Cordula nickte ernst.
— Aber wenn ich nicht einmal mehr allein aufs Klo gehen kann, sagte Willi, dann kann mir der Planet den Buckel runterrutschen.
Draußen vor dem Fenster schlug eine V2-Rakete lautlos auf der Erde ein. Die Explosion spürte Robert unter seinem Fingernagel. Er zog die Hand unter dem Tisch hervor und untersuchte die verletzte Stelle. Ein kleiner roter Schimmer.
— Außerdem können wir doch ums Wasser kämpfen, sagte Willi. Es wird ja nicht wirklich weniger, als würde es von Außerirdischen abgesaugt, sondern es wird verschmutzt. Da hat sie natürlich recht.
— Ich find’s eigentlich gar keine schlechte Idee, sagte Cordula. Ich meine, Wasser zu sparen. Jedes Mal, wenn Robert badet, denke ich mir: Mein Gott, diese Tonnen von sauberem Trinkwasser. Dabei könnte man doch auch in einem Fluss baden.
— So wie in Indien, sagte Magda.
— Im Ganges? sagte Willi. Mein Gott, diese schmutzige Brühe. Also, das ist doch hauptsächlich eine Maßnahme zur Eindämmung der Bevölkerung, dieser Fluss. Ich meine, in Indien, wo eh schon so unendlich viele Leute leben, Slums, einarmige Kinder, die Flöte spielen, und was weiß ich was alles, also haben die einfach diese Hindu-Religion erfunden, bei der sie nicht wie normale Leute in eine Kirche, sondern eben in diesen Fluss gehen und dort in den Wellen beten. Und der Fluss ist voller E.-coli-Erreger und toter Ratten und so weiter.
— Iieh, sagte Cordula.
— Warum musst du immer aus allem das Schöne rauszupfen? fragte Magda.
Willi hob die Hände.
— Ich finde es bizarr, sagte Robert.
Alle schauten ihn an, glücklich darüber, dass er sich am Gespräch beteiligte. Robert musste sich wieder abwenden. Aber er sprach weiter:
— Ja, ich finde es bizarr, wie viele Filme in Indien jedes Jahr produziert werden.
— O mein Gott, Bollywood! sagte Willi.
Wie bereitwillig sie sich auf sein Thema stürzten. Ihn einbeziehen. Den ausgebrannten Dingo. Er tastete nach der tröstenden Schmerz spendenden Schraube, konnte sie aber nicht mehr finden.
— Alles wird immer zum Musical! sagte Willi. Hamlet? Musical. Superman? Am Ende tanzen sie und singen. Sogar das Leben von Abraham Lincoln ist von denen verfilmt worden, und irgendwann gibt es eine Schlägerei zwischen Abolitionisten und Anti-Abolitionisten in einer Bar, und dann singen sie wieder und tanzen um eine verschleierte Frau … Indien überhaupt, ein total bizarres Fernsehland. Da gab’s diese Show, wo irgendein Kind Michael Jackson dargestellt hat.
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