Davon hatte ich Julia nichts erzählt. Die seltsame Vision war nicht wiedergekommen, und ich wollte sie nicht beunruhigen. Sie war froh darüber, dass ich inzwischen in einer normalen Schule arbeitete. Ich hatte nur eine halbe Lehrverpflichtung und musste nicht so früh aufstehen wie damals, als ich im Helianau-Institut beschäftigt gewesen war.
Die Faktoren, die man bedenken muss
Bald schon erhielt ich einen weiteren Anruf von Gudrun Stennitzer.
— Hey, sagte sie.
— Oh, guten Tag, Frau Stennitzer, sagte ich. Wie geht es Ihnen?
— Huh, ja, wo anfangen, wie geht es mir, ah, ja, wie geht es mir eigentlich? Ah…
Sie wirkte außer Atem.
— Wie geht es Christoph? Hat er sich erholt von…?
Ein Knopf am Telefon wurde gedrückt. Tüüt.
— Ich wollte Ihnen bei unserem letzten Gespräch eigentlich schon davon erzählen, sagte Frau Stennitzer. Ihnen erzählen von den Veränderungen, die sich da… so… ereignet haben, nacheinander, und alles… ah ja, was war da noch…
Man hörte, wie Papier relativ nahe am Hörer zusammengeknüllt wurde.
— Veränderungen?
— Ach ja, Sie wissen ja bestimmt, wie das so ist. Panta rhei, alles verändert sich. Ist immer im Wandel. Nichts bleibt so, wie man es einmal festgehalten hat. Christoph ist… Also, er hat den Ausflug relativ gut verkraftet. Die Matratze ist natürlich auch längst trocken, inzwischen. Er liest jetzt wieder, Gott sei Dank. Und… ja, also, er erinnert sich natürlich noch gut an Sie. An Ihren Besuch.
— Freut mich.
— Na ja, es geht ihm den Umständen… also, eigentlich nein, natürlich nicht, wie sollte es ihm gehen. Wissen Sie, ich wollte Sie unbedingt noch einmal anrufen, quasi einen Kontakt aufbauen, weil ich mir sonst sehr allein gelassen vorkommen würde, wissen Sie?
— Inwiefern allein gelassen?
Ein heftiges, ungeduldiges Ausatmen von Frau Stennitzer. Dann sagte sie:
— Das Schlimme ist, dass man immer erst hinterher schlau ist. Ich nehme an, das kennen Sie. Dieses Gefühl, dass man hinterher schlauer ist als vorher. Und diese beiden Arti-kel damals und alles, das war schon, also… ich bin jedenfalls schlauer geworden, das wollte ich Ihnen auf jeden Fall sagen. Per Telefon. Wenn wir uns schon nicht persönlich gegenüberstehen.
— Hat Ihnen der Artikel nicht gefallen? fragte ich. Ich habe Ihnen doch damals beide Teile geschickt. Gut, er ist hinterher ziemlich gekürzt worden, und die Bilder wurden ergänzt…
— Ja, jajaja, das alles, ja, sicher, das weiß ich natürlich… sicher… Ich wollte nur, also damit da keine Missverständnisse entstehen, ich wollte nur… Christoph hat das alles nicht gutgetan, wissen Sie? Er ist, ich meine… Er war schon vorher eher in sich gekehrt, aber der Artikel und alles, das war, also… und dann das Schwimmbad, das war eher symptomatisch, wissen Sie? Ich meine, es war zwar nur ein Hallenbad, aber trotzdem.
Ein weiteres heftiges Ausatmen. Ich setzte mich aufs Bett.
— Warten Sie, ich wechsle nur zum Headset über, dann können wir besser reden.
— Headset, nein, nicht nötig, rief Frau Stennitzer. Ich wollte sowieso –
Ich tat so, als hörte ich sie nicht mehr, ließ mir Zeit mit dem Einstöpseln und dem Finden des richtigen Winkels zwischen Mikrofon und Lippen.
— Hallo? sagte ich dann. Da bin ich wieder. So können wir besser reden.
— Ja, sagte Frau Stennitzer mit zerknitterter Stimme. Ich wollte Sie nicht lang belästigen. Christoph hat den Umzug nicht gut verkraftet, und dann noch Ihr Artikel und dass jetzt auch noch seine Kumpels ausbleiben — pah, diese dreckigen Skinheads nennt er auch noch seine Kumpel, lächerlich…
— Warten Sie, sagte ich. Ich hab das nicht richtig verstanden. Sie sind umgezogen?
— Ja, können Sie sich nicht mehr erinnern? Als Sie bei uns waren? Die Kartons und die Garage und alles, na ja, sicher, Sie waren ja nur an zwei Tagen bei uns, da sieht man nur, was man sehen muss, gewissermaßen. Für die Arbeit, haha.
— Das ist mir wirklich nicht aufgefallen. Und Christophs Freunde kommen nicht mehr, sagen Sie?
— Na, das ist auch besser so. Die sollen ruhig wegbleiben.
— Sagen Sie, Frau Stennitzer, habe ich Sie vielleicht mit irgendetwas verärgert? fragte ich vorsichtig. Das, was Sie sagen, klingt nämlich ein wenig so, als –
— Nein, nein, nein, rief Frau Stennitzer, und man spürte, dass sich irgendwo auf der Welt eine Faust ballte. Ich wollte nichts in dieser Richtung… Aber die Situation, die… die Ereignisse haben sich einfach überstürzt seither. Dass der Umzug notwendig geworden ist, nach Ihrem Artikel, das war ja vorauszusehen, und natürlich habe ich mir das alles vorher gut überlegt, sonst hätte ich Sie ja nicht in mein Leben gelassen, Sie verstehen.
Sie lachte. Es war ein tiefes, kehliges Lachen, dem jede Spur von Erleichterung fehlte.
— Tut mir leid, falls meine Artikel negative Folgen gehabt haben, sagte ich. Was ist denn genau passiert? Haben die Leute im Ort Sie nicht in Ruhe gelassen –
— Nein, nein, Sie missverstehen mich, ach, ich hab mich wirklich falsch ausgedrückt. Es ist nur so, dass sich die Ereignisse gewissermaßen schon seit Längerem überstürzen, und das war einfach zu viel für Christoph. Er meint es aber nicht so.
— Was meint er nicht so?
— Na ja, ich wollte Sie damit nicht belästigen.
— Sie belästigen mich nicht, Frau Stennitzer. Bitte erzählen Sie. Was ist mit Christoph?
— Na ja, sagte sie und nahm einen großen, knackenden Biss von einem Apfel, so nahe am Hörer, dass ich erst den Widerstand und dann das Gefühl platzender Apfelhaut in meinem eigenen Kiefer spüren konnte. Na ja, seine Freunde sind seit dem Schwimmbadbesuch nicht mehr gekommen, und das hat ihn durcheinandergebracht. Es ist natürlich auch die Phase im Leben, wo alles irgendwie finster aussieht. Und da gibt es natürlich immer viele Faktoren, die man bedenken muss.
— Zum Beispiel…?
— Ach, na ja, das Grenzen-Austesten, zum Beispiel. Das wird in der Phase natürlich ganz groß geschrieben. Bittergroß.
Sie nahm einen weiteren Biss vom Apfel, und ich hatte eine plötzliche Vision, in der mir der Apfel rot vor Augen stand. Ein roter Ballon knapp vor Frau Stennitzers Gesicht. Die Falten um ihren Mund, die sich straffen, wenn sie zubeißt.
— Und welche Probleme hat er denn nun genau?
— Na ja, sagte sie und holte tief Luft. Es ist bestimmt nicht Ihre Schuld. Ihr Besuch, damals. Und die beiden Artikel. Nicht, dass Sie das denken.
— Aber was –
— Kinder sagen viel und tun natürlich auch sehr viele Dinge, die sie lieber nicht tun sollten. In dieser Hinsicht sind sie wie… wie…
Ihr schien kein passender Vergleich einzufallen. Stattdessen folgte ein weiterer, etwas leiserer Apfelbiss.
— Das klingt aber sehr besorgniserregend, sagte ich ins Headset. Geht es ihm denn nicht gut?
— Verheilt alles. Wie gesagt, Grenzen austesten. Wird ganz groß geschrieben in der Phase. Und man darf natürlich auch all die anderen Faktoren nicht außer Acht lassen.
— Ja, da haben Sie wohl recht. Aber ich weiß noch immer nicht –
— Ein Mann von der APUIP war da und hat ihn sich angeschaut. Der Herr Baumherr hat ihn uns empfohlen.
— APUIP. Das ist doch diese Gleichbehandlungsorganisation?
— Na ja, so werden sie manchmal dargestellt. Aber die machen eigentlich mehr gemeinnützige Dinge, wie… Sie kennen den Herrn Baumherr gar nicht?
— Persönlich nicht, nein.
— Er ist aus Wien, sagte Frau Stennitzer apfelkauend.
Und er kennt sich wirklich sehr gut aus mit solchen Fällen. Er hat in der Vergangenheit schon einige Relokationen betreut.
Einer Voodoopuppe mit meinen Gesichtszügen wurde irgendwo, in einem entfernten Land, eine Nadel ins Auge gestochen.
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