Ich setzte mich auf. Dodo lag neben mir, nun zu einer friedlichen Katzenkugel zusammengerollt, ihr Kinn auf die Pfoten gebettet. Als sie merkte, dass ich sie ansah, öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Ich zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte höflich zurück. Dann legten wir uns wieder hin. Ich träumte davon, dass ich in Belgien war. Irgendwo auf dem Land, zwischen mehreren niedrigen, weißen Gebäuden. Hinter mir, in der Ferne, stand ein Reisebus, der mich hierhergebracht hatte. Und zu meinen Füßen lag ein Grab, nicht größer als ein Balkon-Gemüsebeet, verziert mit einem faustgroßen Stein. Es war das Grab jener Maus mit dem menschlichen Ohr auf dem Rücken. Endlich habe ich es gefunden, dachte ich im Traum und erwachte mit tränenverklebtem Gesicht.
An der Wand neben meinem Bett hing ein Bild von Max Ernst, der Engel der Feuerstätte, dessen Anblick mich normalerweise immer glücklich machte, egal, wo mir das rätselhafte Wesen mit pferdeähnlichem Kopf begegnete, das unter ekstatischem Gelächter über eine Ebene tanzt. Jetzt konnte ich es nicht ansehen, da ich mir vorstellen musste, wie sich ein Kind im Institut dieses Kostüm anlegt und anschließend weggebracht wird.
Am Nachmittag kam Julia von der Arbeit. Sie brachte den Geruch von Ratten, Heu und Federn mit. Sie setzte sich zu mir ans Bett und fragte mich, wie das Gespräch gelaufen sei. Da ich nicht antwortete, sondern nur den Kopf schüttelte, griff sie nach dem kleinen, violetten Plastikdinosaurier auf dem Nachttischchen und ließ ihn über meine Brust hüpfen.
Als sie meine Verletzungen sah, erschrak sie.
Später, als ich wieder aufstehen und herumgehen konnte, machten wir einen kurzen Spaziergang. Die Luft im ganzen Bezirk roch leicht verbrannt, aber nicht unangenehm. Möglicherweise fand irgendwo ein Grillfest statt.
Ich beschrieb Julia einige interessante Graffiti, die sich weit oben an der Wand eines Hochhauses in der Nähe des Oeverseeparks befanden. Es gibt wenige Dinge in einer Stadt, die ästhetisch so befriedigend sind wie Graffiti an unerreichbaren Stellen. Das Auge braucht nur eine Sekunde, und schon sieht es die geflügelten Wesen vor sich, die dieses Werk hervorbringen, mit mehreren Armen ausgestattet, schwingen sie sich über die Bauelemente, glatt und in gefährlicher Schräglage, und der Blick des Betrachters rekonstruiert ihre an Marvel-Superhelden erinnernden Kletterkunststücke, die zum Erreichen all dieser wunderbaren unmöglichen Plätze notwendig sind: der Querverstrebungen der Stahlkonstruktion in der Mitte einer Brücke; des hervorspringenden Gebäudeteils, fern aller Balkone; des Inneren eines Tunnels, der vierundzwanzig Stunden am Tag befahren wird; oder der Außenwand von Fahrstühlen — ich erinnerte mich, vor Jahren einmal von einem solchen Fall gelesen zu haben. Im Zuge des Umbaus eines zweiundzwanzig Stockwerke hohen Gebäudes in Wien wurde der Fahrstuhlschacht verbreitert und die Kabine durch eine neue, größere ersetzt. Als die Arbeiter die alte entfernten, sahen sie, dass jeder Zentimeter der normalerweise an ihrem Stahlseil auf und ab schwebenden Metallbox außen mit Tags und gesprayten Liebesszenen bedeckt war. Es hieß, vor lauter Ratlosigkeit hätten die Arbeiter die alte Fahrstuhlkabine sofort entsorgen lassen.
Julia bemerkte, dass ich langsamer redete als sonst.
— Ich sehe nicht mehr klar, sagte ich. Es ist alles schwierig geworden.
— Inwiefern?
— Meine Stirn fühlt sich komisch an, sagte ich.
Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und brachte ein wenig Ordnung in den Inhalt der rotkarierten Mappe. Ich las in Norman Cohns faszinierender Studie Apokalyptiker und Propheten im Mittelalter über verschiedene Kinderausschluss-Rituale, kopierte die entsprechenden Seiten aus dem Buch und legte sie in die Mappe. In Deutschland und Österreich war es auf dem Land bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein offenbar Brauch, zu Neujahr ein ausgewähltes Kinderpaar symbolisch zu verheiraten, erzählte Cohn, in ein weißes Pelzgewand zu stecken und danach für eine ganze Woche für unberührbar zu erklären. Niemand durfte ihnen antworten oder auf sie reagieren, wenn er ihnen auf der Straße begegnete, sie waren ganz auf sich allein gestellt, wenn sie Dinge stahlen, wurden sie nicht bestraft und selbst dann ignoriert, wenn sie verzweifelt darum baten, das Spiel abzubrechen. Sie waren ritualistisch unsichtbar, wie Cohn es nennt. Diese Riedln oder Riedser genannten Kinder durften außerdem während dieser Woche von niemandem ins Haus gelassen werden und mussten sich Nahrung und Unterkunft selbst organisieren (meist wurden allerdings von den Eltern und näheren Verwandten an einer vorher vereinbarten Stelle kleine Pakete mit Notproviant hinterlegt). Dieser Brauch galt nicht als Bestrafung, denn nach der in vollkommener sozialer Isolation verbrachten Woche wurden die Kinder in einer feierlichen Zeremonie wieder in die dörfliche Gemeinschaft aufgenommen und mit reichen Gaben belohnt.
Während ich die Ausschnitte und Zettel in der rotkarierten Mappe durchblätterte und ordnete, hörte ich mir auf CD einige der 555 Sonaten von Scarlatti an, die in den Achtzigerjahren vom amerikanischen Virtuosen Scott Ross komplett eingespielt wurden, der das Cembalo so fein und majestätisch wie niemand sonst spielen konnte. Ein Triller war bei ihm nicht einfach nur ein schnelles Hin und Her zwischen zwei Noten, sondern konnte alles ausdrücken, das ängstliche Zittern eines eingeklemmten Gelenks, das drohende Rasseln einer Klapperschlange, das Grummeln im Bauch eines hungrigen Menschen, das Flattern einer Fahne im Wind, das ungeduldige Pulsieren bestimmter Sterne am Nachthimmel.
If I were perfect, I would believe everything I hear.
William T. Vollmann, The Rainbow Stories
It seems that communication always tends to be in favor of the receiver. It gathers around him as moths gather around a flame.
Charles A. Ferenc-Hollereith
[Grüne Mappe]
Wie wunderbar ist die feierliche Leere, die die Wochen nach dem letzten Lebenszeichen eines anonymen Daueranrufers durchzieht: Er atmet jetzt wieder ganz für sich allein, ohne dass es jemand hört. Möglicherweise ist er gestorben, still und heimlich wie ein Insekt an einer Hausmauer, hat seine sechs Beinchen zusammengefaltet und ist erloschen. Es gibt sie nur mehr selten, diese Anrufer, die vor einem guten Jahrzehnt noch zu Tausenden aufgetreten sind. Heute dürften es in ganz Europa nur mehr eine Handvoll sein, die letzten, im Grunde kostbaren Vertreter ihrer Art, die sich noch hie und da von ihrer Schlafstelle erheben und sich auf allen vieren zum alten Wählscheibentelefon in der Ecke schleppen…
In den ersten Wochen des Jahres 2007 war ich so oft von dem Unbekannten angerufen worden, der nie etwas hatte sagen wollen, dass ich Anrufe nur mehr entgegennahm, wenn ich die Nummer kannte. Als ich einmal auf dem stummgeschalteten Handy Frau Stennitzers Namen leuchten sah, ging ich ran.
— Hallo?
— Herr Setz? Wie geht’s Ihnen? Hier ist Gudrun Stennitzer.
— Guten Abend, Frau Stennitzer. Schön, Sie zu hören.
— Ja, sagte sie. Schön. Schön, ich weiß nicht. Jedenfalls ist es freundlich von Ihnen, meinen Anruf als schön zu bezeichnen.
— Ist etwas passiert?
— Ich habe mir etwas ganz Albernes gedacht, sagte sie. Ich hab mir gedacht: Sie werden uns aber nicht untreu, Herr Setz, oder? Haha. Ich meine, weil Sie nicht mehr ans Telefon gehen. Es ist doch nicht so, dass Sie uns in schlechter Erinnerung haben, oder? Ich habe gehört, dass Sie nach Brüssel…
— Von wem haben Sie das gehört?
— Weiß ich jetzt nicht mehr… Wissen Sie, ich wollte nur, dass Sie wissen, dass Sie jederzeit bei uns willkommen sind. Da fährt die Eisenbahn drüber. Soll heißen: Unsere Gastfreundschaft bleibt auch weiterhin aufrecht, wissen Sie?
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