— Ja, irgendwann gewöhnt man sich gegen alles, sagte Dr. Rudolph.
Und dann diese Jungen hier, mit ihrer Schuluniform, ihren feinen, immer gepflegt aussehenden Schuhen und ihren ausdrucksstarken Gebärden. Die Wahrung der richtigen Abstände. Das rühre ihn manchmal, er könne sich nicht helfen.
— Die Traube kommt übrigens inzwischen auch beim Militär und in Managementseminaren zur Anwendung, sagte er in etwas verändertem Ton.
— Was?
— Die Traube, ach so, das hab ich nicht dazugesagt. Das ist unser Name dafür.
— Für die Art, wie die Kinder im Hof herumstehen?
— Herumstehen, sagte Dr. Rudolph. Versuchen Sie einmal, auf diese Weise herumzustehen. Sie werden keine Chance haben, ständig wird sich Ihr Venn-Diagramm mit demjenigen Ihres Nachbarn überschneiden. Aber für Betätigungsfelder, in denen Teamwork alles ist, oder eigentlich: Team geist, ist die Traube eine sehr gute Übung. Wir sind die einzigen zugelassenen Trainer in Österreich.
Ich nickte anerkennend.
— Ja, sagte Dr. Rudolph, dieses Aufeinandereingehen, dieses Erkennen winzigster Nuancen — allerdings immer aus der Distanz heraus —, das kann extrem heilsam sein. Extremst.
Die Lichtenberghäuschen
Der Garten hinter dem Institut war nicht so, wie ich befürchtet hatte. Meine kindliche Phantomerinnerung an die unheimliche schneeweiße Freitreppe blieb unangetastet. Ich hatte das Gefühl, mich ungeheuer lächerlich gemacht zu haben, und am liebsten wäre ich hinunter zum Chauffeur gegangen, um ihn mit Chloroform zu betäuben und irgendwo zu verscharren, damit er niemandem davon erzählen konnte, aber dann wurde ich durch etwas Ungewöhnliches aus meinen Gedanken gerissen: Weiter hinten, wo der baumbestandene Garten in eine Wiese überging, standen mehrere kleine Häuschen, die alle aus einem auffallend dunklen, stellenweise kohlrabenschwarzen Holz gefertigt waren. Der Abstand zwischen den einzelnen Häuschen müsse mindestens zehn Meter betragen, erklärte mir Dr. Rudolph. Damit es zu keinen Überlagerungen komme. Und es sei für alles gesorgt, sagte er und winkte mir, ihm zu folgen. Als wir uns den Häuschen näherten, zögerte ich, und er bemerkte es. Er drehte sich zu mir um, lachte und machte eine galante Geste:
— Zu dieser Zeit sind die Lichtenberghäuschen leer.
— Lichtenberghäuschen?
Er nickte.
— Warum heißen die so?
Er legte das Kinn auf die Brust, senkte die Lider und deutete ein leichtes Kopfschütteln an.
— Weiß ich nicht, sagte er. Heißen schon immer so. Die Herstellerfirma?
Dann lachte er wieder, in eindeutigem Bemühen, mich aufzumuntern, und ich tat ihm den Gefallen und lächelte mit.
Die Tür des ersten Häuschens stand offen, und ich konnte einen Blick hineinwerfen. Mein erster Impuls war, Julia bei der Arbeit anzurufen und ihr von dem ungewöhnlichen Anblick zu erzählen. Es sieht aus wie ein Toilettenhäuschen, dachte ich, eines dieser altmodischen, die im Freien hinter Bauernhäusern stehen und in denen man Angst vor in die Höhe schießenden Ratten haben muss und im Winter an seinen eigenen Exkrementen festfriert und –
— Kommen Sie, schauen wir rein, sagte Dr. Rudolph. Hier ist so weit noch alles in Ordnung, vorzeigbar. Da hinten stehen die Kabin… äh, die Lichtenberghäuschen von Rudi Tschirner und von Mareike, die schauen wir uns lieber nicht an. Schwierige Fälle, Sie verstehen. Da sind der Julius und der Maurice nichts dagegen.
Ich hatte immer gedacht, nur Menschen in Romanen würden feixen. Ein Irrtum.
— Wohnt hier jemand? fragte ich.
— Natürlich, sagte er. Während der Sommermonate ist es wirklich angenehm, und die Abstände sind auch nur hier einzuhalten, auf so einem Grundstück, sehen Sie, das geht bis ganz nach hinten, bei den Pappeln da hört es auf.
Ich blickte in die Ferne, konnte aber nichts Pappelähnliches entdecken. Nur ein paar niedrige Bäume. Ein brauner Hochsitz ragte wie eine Zahnspange aus einer Baumkrone.
— Soll ich die Tür schließen oder offen lassen?
— Es ist okay, machen Sie sie ruhig zu, sagte ich. Ich bin nicht klaustrophobisch.
— Der Lichtschalter ist hier, sagte Dr. Rudolph und drückte ihn.
Das Erste, was mir auffiel, nachdem Dr. Rudolph die Tür geschlossen hatte, war die außergewöhnliche Hitze. Es mussten über dreißig Grad sein. Den ganzen Tag hatte die Hütte sich mit Wärme aufgeladen, hatte Sonnenenergie gespeichert und gab sie nun an mich weiter. Die Luft war stickig. Überall lag Staub. Nur auf manchen Gegenständen, die wohl öfter in Gebrauch waren, fehlte er.
An der Innenseite der Tür klebte ein Stundenplan. An jedem Tag drei bis vier Kästchen, in verschiedenen Farben. Daneben hing ein Schlüssel an einem schmalen Brett; der Schlüsselanhänger war ein kleines silbernes Ufo. Fenster gab es keine. Auf die Glühbirne, die von der niedrigen Decke des Häuschens baumelte, war, vermutlich mit Lack, ein schwarzer Ring gemalt worden, der das Licht in zwei Hälften teilte.
Der enge, aber merkwürdigerweise nicht unangenehme Raum erinnerte mich an einen Artikel, den ich vor Jahren in der Wochenendbeilage der Kronen Zeitung gelesen hatte. Er handelte von einer jungen Frau aus Bayern, die gegen beinahe alles allergisch war. Sie lebte, wie der schlampig und mitleidlos geschriebene Bericht nicht müde wurde zu betonen, in einem leeren Raum, ringsum bestand alles aus vollkommen unbehandeltem Holz (gegen das sie natürlich trotzdem ein wenig allergisch war), keinerlei Kunststoffe durften in ihre Nähe gelangen, nicht einmal Ziegelsteine und Beton, da sie davon sofort entsetzliche Hautausschläge und Atemnot bekam. Dreimal am Tag wurde ihr ein Tablett mit Essen und Medikamenten gebracht, die sie unter Qualen hinunterwürgte. Die Toilette war hinter einer massiven Tür verborgen, da bereits die Gegenwart des Wassers im Spülbehälter lebensgefährlich für sie sein konnte. Ich erinnerte mich noch gut an die Frustration, die ich beim mehrmaligen Durchlesen des Artikels empfand. Immer wurde noch ein Stein draufgelegt, ein schreckliches Detail nach dem anderen wurde preisgegeben, und irgendwann war es einfach nur noch lustig, und ich schleuderte die Wochenendbeilage in eine Ecke. Besonders verrückt hatte mich die Beschreibung der fortschreitenden Entwicklung ihrer Krankheit gemacht, ein an die Stationen eines Kreuzwegs erinnerndes Drama: vom Wohnwagen am Waldrand über die Holzhütte im Wald bis hin zum Haus aus Lehm in einer auf diese unheimliche Erkrankung spezialisierten Kolonie irgendwo in Holland oder Belgien — und trotzdem war die junge Frau schon einmal ins Koma gefallen und beinahe an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt. Und, was machst du den ganzen Tag? fragte der Journalist. Nichts, antwortete die junge Frau. Keine synthetischen Stoffe tragen, kein Shampoo verwenden, kein Duschgel etc. … an diese Details erinnerte ich mich wieder, und obwohl ich das auch schon, für einige Wochen zumindest, versucht hatte … (damals war ich langhaariger Keyboarder in einer Heavy-Metal-Band) … las ich meinen Bandkollegen, laut quietschend vor Begeisterung, den Artikel mehrmals vor, und wir gerieten darüber irgendwann in einen absurden Rausch, und wir improvisierten laut, geil und dissonant über diesen ganzen furchtbaren Unsinn, über die zum Himmel schreiende Sinnlosigkeit eines solchen Lebens und so weiter, über den Dreck, die Scheiße und den Sensationsjournalismus im zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhundert, und ach, niemand dachte daran, das Ganze auf MiniDisc aufzuzeichnen, was ewig schade war, jammerschade, genauso wie die Tatsache, dass es mir bis heute nicht gelungen war herauszufinden, wie es mit der jungen Frau eigentlich weitergegangen war.
Ich musste niesen.
Dr. Rudolph öffnete die Tür.
— Kein Wunder, sagte er. Die Putzfrauen kommen nie in die Häuschen. Sie bleiben im Hauptgebäude. Bisher hat daran kein Argument etwas ändern können.
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