Ein einziges Mal blieb ich länger und aß mit den Schülern zu Mittag. An diesem Tag war ausnahmsweise die Mathematikstunde auf den Nachmittag verschoben worden.
Auf dem Teller, den mir die Küchenhilfe, eine den ganzen Tag über unsichtbare Frau namens Leni, freundlicherweise an den Tisch brachte, lagen Erbsen, Karotten, eine ordentliche Portion dunkelgelbes Püree und eine Forelle, die nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte. Ihre Augen waren offen, und ihre Körperhaltung sprach eine deutliche Sprache. Ich brachte kaum einen Bissen hinunter. Die unappetitlichen Fress- und Schlürfgeräusche der Schüler und die unangenehm summende Luft im Speisesaal verdarben mir den Appetit. Also ging ich nach draußen und füllte meinen Körper mit sauberer, sonnenwarmer Luft.
Später holte ich mir einen Kaffee aus dem Automaten in der Eingangshalle. Schwarz, ohne alles. Ein Becher voller Pupille.
Die Luft im Hörsaal A war abgestanden und verbraucht. Fenster, die man hätte öffnen können, gab es nicht. Außerdem war der Raum überheizt. Aus einem Feuerlöscher tropfte weißer Schaum auf den Boden. Ich hatte mir schon mehrere Male vorgenommen, dem Hausmeister, Herrn Mauritz, Bescheid zu sagen, hatte es aber immer wieder vergessen.
— Einen schönen Nachmittag! wünschte ich den Schülern.
Sie saßen einfach da. Augen, die in Gesichtern feststeckten. Einige kauten Kaugummi. Ein Mädchen in der obersten Reihe lag auf ihrem aufgeschlagenen Heft und schien zu schlafen.
Ich seufzte und setzte mich hinter den Lehrertisch. Was machte ich hier. Kurven zweiter Ordnung. Ich schloss für einen Moment die Augen, fuhr mir mit der Hand über die Schläfen — obwohl das möglicherweise unhöflich gegenüber den Schülern war — und versuchte, mir einen Einstieg ins Thema vorzustellen. Kurven zweiter Ordnung. Kurven zweiter Ordnung. Das Lehrbuchwissen war wie weggeblasen. In meinem Kopf gab es nur ein Bild von einem flachen Kegel. Ich atmete tief durch, sagte mir, dass ich doch soeben einen Kaffee getrunken hätte und mit Sicherheit gleich dessen Wirkung spüren würde, und stand auf.
Mein Blick fiel auf einige Blätter, die auf dem Lehrertisch herumlagen.
Für R. T. stand auf einem der Zettel. Ich drehte ihn um. Es war ein kopierter Artikel aus einer wissenschaftlichen Zeitschrift.
Ein Bild zeigte eine Biene, deren Hinterteil zerstört war. Ich las die Bildunterschrift. Nicht immer sterben Bienen, nachdem sie ihren Stachel zur Verteidigung verwendet haben. Diese Biene lebte sieben Stunden ohne ihren Stachel.
Mir wurde schwindlig, und ich musste mich an der Tafel hinter mir festhalten.
Auf einem anderen Bild in dem kopierten Artikel sah man die Biene, wie sie in einer kleinen weißen Kiste lag, nutzlos und ihrer Natur nach schon längst über den Tod hinaus. Verwirrt. Ohne Halt.
— Entschuldigung, sagte ich und rannte aus dem Hörsaal.
Ich stellte mir vor, das Gras unter mir wäre ein Kind in einer Wiege. Ich würgte einige Male, aber es kam nichts, nur der Geschmack von verbranntem Kaffee stieg mir die Speiseröhre hoch, vermischt mit Magensäure. Das Einzige, was ins Gras fiel, waren die Tropfen, die über meine Wangen liefen.
Ich drehte mich um und wollte in den Hörsaal zurückgehen. Aber dann ging in einige Schritte rückwärts. Als wäre ich falsch eingestellt. Umgekehrte Bedienung.
Im stillen, verlassenen Lehrerzimmer setzte ich mich in eine Ecke und rief Julia an. Es dauerte, bis sie ans Telefon ging. Im Hintergrund hörte man hohes, wirres Quietschen. Das Krähen des neuen Hahns wahrscheinlich. Oder die Fledermäuse hatten sich wieder gestritten. Dazwischen das Gerüttel an Käfigen.
— Ah, du bist auch noch nicht zu Hause? fragte ich.
— Nein, wo bist du?
— Ich hab eine Nachmittagseinheit. Ausnahmsweise. Aber mir ist schlecht geworden.
— Arschlöcher.
— Ja. Das ist der seltsamste Job, den man sich vorstellen kann.
— Meiner ist seltsamer, sagte Julia.
— Das Tierheim? Na ja, ich weiß nicht …
— Bei dir verstehen sie wenigstens deine Sprache, sagte sie. Ich muss jedes Mal eine neue erlernen. Das ist schwierig.
— Wie geht’s dem Hahn?
— Wird aufgepäppelt. Ich glaube, er mag mich.
— Hast du ihm schon einen Namen gegeben?
— Ja.
— Welchen denn?
— Mmmh, ist noch zu früh, das zu verraten. Er muss sich selbst noch dran gewöhnen.
— Im Ernst, dieses Praktikum ist überhaupt nicht lustig.
— Es gibt doch keine anderen Stellen. Hast du selbst gesagt.
— Ja, wozu gibt es uns überhaupt? Wir sind überflüssig.
— Ich auch?
— Nein, ich meine, wir Lehrer. Ich hätte lieber Rapper oder Graffitikünstler werden sollen.
— Oder Fledermaus.
— Ja, genau. Wie geht’s denen?
— Hm. Schwer zu sagen. Sie sind etwas introvertiert. Sie machen einfach die Vorhänge zu und lassen niemanden mehr an sich heran. Ich bin so was wie die Mediatorin.
Ich schloss die Augen und wartete, bis der Spannungskopfschmerz vorbeizog.
— Dir ist schlecht geworden? fragte Julia. Richtig schlecht?
— Nein, nicht richtig. Das ist alles so absurd, diese Schüler, ich meine, ich weiß gar nicht, was das alles soll.
— Das weiß niemand.
— Sie sitzen hier in diesem riesigen Haus, weit voneinander entfernt, und he, das hab ich dir noch nicht erzählt, die Vögel hier … oder hab ich’s schon erwähnt?
— Nein, was?
— Die Vögel hier sind total komisch drauf.
— Inwiefern?
— Ach, ich weiß nicht … Meine Konzentration geht wieder weg. Ich spüre es. Als würde man mir eine Schnur aus dem Körper ziehen.
— Inwiefern sind die Vögel komisch drauf?
— Wer?
— Ach, egal. Du klingst müde. Musst du wirklich noch bleiben?
— Ich hab mit diesem Sack getauscht, mit diesem Ulrich. Biologieprofessor. Sieht aus wie Virginia Woolf. Exakt dasselbe Profil.
— Ekelhaft.
Das Lehrerzimmer sah aus wie der Wartebereich eines kleinen Provinzbahnhofs. Abgerundete Sitzbänke aus altem, erfahrenem Holz standen darin herum. Braun war die vorherrschende Farbe. Es gab einen Schrank mit Lehrbüchern und Lernmaterialien, es gab einen Globus, ein mehrstöckiges Kopiergerät und sogar einige menschenhohe Topfpflanzen.
— In der Nachmittagseinheit, sagte ich, im Hörsaal. Da hab ich was Schlimmes gesehen.
— Was denn?
— Was ganz Schlimmes.
— Mit Tieren?
— Ja.
— Echte Tiere? Oder auf Bildern?
— Bilder. Ganz schrecklich. In einem Artikel.
— Ja, du klingst auch ziemlich verstört, sagte sie. Es ist gut, dass du mich gleich angerufen hast, warte, ich gehe nur ins andere Zimmer … das Geschnatter ist ziemlich laut hier.
— Und diese elenden Statuen, sagte ich, die haben natürlich gemerkt, dass ich … Ah, ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das noch länger aushalten soll. Du solltest sie sehen!
— Vielleicht solltest du was schreiben.
— Wieso?
— Einfach so, um dich abzulenken. Das hat bisher immer gut funktioniert.
— Ja, aber diese grauenvollen Bilder …. Ich meine, da war eine Biene, die …
Ich sprach nicht weiter.
— Denk jetzt nicht daran, sagte Julia. Du kannst doch jetzt nach Hause fahren, oder?
— Im Prinzip ja. Aber der Zug fährt erst in …
Ich schaute auf die Uhr und machte ein enttäuschtes Geräusch, das die unangenehme Wartezeit andeuten sollte.
— Dann setz dich in die Bibliothek oder in den Hof –
— In den Hof kann ich nicht, da wandern die Irren herum, mein Gott, davon muss ich wirklich mal ein Video machen und es dann ins Internet stellen … Sie haben sogar einen eigenen Namen dafür. Für die Art, wie sie sich im Hof bewegen. Einen eigenen Namen! Verdammte Scheiße!
— Dann eben in die Bibliothek, sagte Julia ruhig. Setz dich dort hin und stell dir vor … was weiß ich, was so in ihnen vorgeht.
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