— Du bist schon so weit?
— Ah, warte …
Er wurde langsamer, ließ seinen Kopf auf ihren sinken.
— Denk an etwas Neutrales, sagte Cordula. Und einfach tief durchatmen.
— Okay.
— An was denkst du?
— Warum willst du das wissen? fragte er.
— Nur so.
— Ich denke daran, wie es sich wohl anfühlt, freigesprochen zu werden, obwohl man schuldig ist.
— Ach nein, Robert, nicht schon wieder …
— Du wolltest wissen, woran ich denke!
— Ja, aber … Warum denkst du ausgerechnet an das, während wir …
— Keine Ahnung. Jetzt denkst du auch daran.
— Ja, aber das ist jetzt deine Schuld. Ich wäre nicht von selbst drauf gekommen.
— Du hast mir den Zeitungsartikel gezeigt!
— Aber nur, um dich …
Robert bewegte sich in Zeitlupe in ihr hin und her. Cordula deutete durch eine Bewegung ihrer Hüften an, dass sie sich gern umdrehen wollte. Er glitt aus ihr und blieb in Liegestützstellung über ihr schweben, wie ein menschlicher Käfig, in dessen engen Grenzen sie sich bewegen musste. Dann lag sie in der Stellung der christlichen Missionare, und er kam zurück in sie, warm, hart, ihr Gewebe (es war ein sexy Wort, wenn man es im richtigen Augenblick dachte, Gewebe ) dehnte sich, und sie zog ihn näher an sich heran.
— Ich will nicht, dass du an so schlimme Dinge denkst, schnurrte sie.
— Er war bestimmt froh, sagte Robert.
— Ich will, dass du ganz in mich reingehst, wenn du …
Der Satz war ihr nicht wirklich gelungen, er klang etwas seltsam, aber Robert war schon zu weit weg, um auf solche Kleinigkeiten zu achten. Er war in der Zone. Keuchend, die Augen geschlossen, der Mund halb offen, kurz vor dem Höhepunkt.
— Ich wette, er war’s. Aber die Beweislage …
Er stieß jetzt etwas härter zu.
— Ich will, dass du alles um dich vergisst, flüsterte sie ihm ins Ohr. Ich bin hier, und du … und alles, was da draußen passiert, all diese schlimmen Sachen … vergiss das alles, komm einfach in mich, berühr mich ganz innen …
Sie presste ihr Becken nach vorne, so dass sein Schwanz mit der Spitze an diese Stelle tief in ihr stieß, die sonst nie von irgendetwas berührt wurde, das Schlüsselloch einer geheimen Tür … Robert wusste, was sie dachte. Sie musste dieses verletzte, verstörte Tier gesundpflegen, das ihr vertraute und zu ihr gekommen war. Immerhin war sie ihm so nahe wie sonst niemand, sie kannte den Geruch all seiner Körperstellen, und sie hatte mehrere Male seinen Samen geschluckt, dessen Eiweiß sich inzwischen in ihren Knochen und Zähnen festgesetzt hatte und dabei half, dass sie nicht auseinanderbrach. Seine Orgasmen, hatte sie ihm immer versichert, waren für sie keine lästigen Verrichtungen, bei denen man ihm assistieren musste, sondern sie kamen ihr mehr wie ein fröhliches Quell-Versehen des Universums vor, ein Fehler in der Matrix, so wie die doppelte Katze, ein magisches, regenerierendes, stärkendes Déjà-vu, dessen Wiederholung immer einen jungen, frischen Neuanfang bedeutete, auch wenn das Ganze, wie man zugeben musste, doch etwas komisch aussah …
— Komm, sagte sie (so wie damals, als sie seine Hand genommen und ihn mitsamt seinen Schlittschuhen, in denen er wie ein schlecht verankerter Weihnachtsbaum hin und her schwankte, übers Eis gezogen hatte). Genau da … komm …
— Ich wette, er war’s, stöhnte Robert, mit vor Erregung stumpfer, hohler Stimme.

Name
Alter
I-Zahl (ungefähr, in Sek.)
Felicitas Bärmann
14
120
Arno Golch
16
0 (unmittelbar)
Maximilian Schaufler
16
1000 +
Sarah Schittick
16
45
Hubert Stöhger
17
10
Esther Reich
14
250
Robert Tätzel
14
60
(2002),
180
(2004)
Daniel Waldmüller
15
?
Hedwig Wobruch
17
666
Julius Zahlbruckner
14
50
Anmerkungen von Dr. Rudolph zur Liste:
Schaufler, eintausend Sekunden und noch mehr. An guten Tagen kann man ganze Stunden in seiner Nähe verbringen, ohne irgendetwas zu spüren. Keine Ahnung, was der überhaupt bei uns zu suchen hat. Na ja, die Eltern sind reich. Bauunternehmer aus der Steiermark. Und der Waldmüller macht ein Geheimnis draus. Manche sprechen bei ihm von vier bis fünf Sekunden, andere von bis zu einer halben Stunde. Ist wohl ein Pubertäts- / Identitäts-Ding. Er braucht seine Privatsphäre. Als hätte er nicht schon eine ganze Wagenladung, ach, was sag ich, einen ganzen Vergnügungspark voll davon. Bei der Wobruch dürfte der Wert wohl eher bei 600 liegen. Aber sie ist Goth und gerade dabei, ihre Identität zu entdecken, was weiß ich, also machen wir ihr die Freude und übernehmen ihren lächerlichen Wert. Witzig wäre es natürlich, wenn er stimmte. Vielleicht möchten Sie es mit der Stoppuhr ausprobieren? Oder vielleicht finden Sie einen Freiwilligen in der Klasse und machen daraus ein Sozialprojekt? Der Tätzel ist ein Problemkind. Eltern relativ wohlhabend, aber nicht so reich, dass es auffallen würde. Auch eher zurückhaltende Leute, insgesamt angenehm. Mutter kommt regelmäßig zu Besuch, Vater hat sich noch nie blicken lassen. Klassisches Mobbing-Target. Verlangt sozialsensitive Einbettung bzw. Behandlung. Reagiert gut auf Flipchart, Brainstorming, Plakatbastelei. Wenn die Usual Suspects ein Kurbad mit ihm veranstalten, kommt er meist nicht zum Unterricht. Relativ gut vorhersagbare Patterns diesbezüglich.
Jede Schulstunde im Proximity Awareness and Learning Centerbegann mit einer Wiederholung. Nach einer Woche war den Schülern die Tatsache, dass sie für den Rest des Schuljahres einen neuen Mathematiklehrer — oder, wie man es hier nannte: Mathematik-Tutor — haben würden, völlig gleichgültig geworden. Sie saßen, in gleichmäßiger Verteilung, in dem großen Hörsaal und blickten aus leeren Gesichtern auf mich herunter.
Jeden Tag wollte ich am liebsten schreiend davonlaufen, wenn ich am Morgen diese entsetzlichen Gesichter sah.
Ich kritzelte die Inhalte der jeweiligen Stunde in meiner winzigen Blockschrift in den Kamerabereich des Projektors. In der enormen Vergrößerung auf der weißen Leinwand wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie lächerlich diese Schrift wirkte. Die kleinen Buchstaben sahen aus wie vom Sturm umgeblasene Hütten, vor allem das M. Das I lehnte meist schräg an seinem Nachbarn. Zwar versuchte ich, die mathematischen Symbole etwas deutlicher zu schreiben, aber es gelang nicht immer.
— ’tschuldigung? Können Sie ein bisschen größer schreiben?
Ich musste auf meinen Sitzplan schauen, um zu erkennen, wer mich da angesprochen hatte. Ein blasses weibliches Gesicht in der obersten Reihe. Sie hielt sich einen kleinen Operngucker vor die Augen, mit dem sie sich unheimlich elegant vorkam.
Ich war jedes Mal froh, wenn ich wieder aus dem Hörsaal draußen war. Im schweren Sonnenlicht lehnte ich mich dann an eine Mauerecke und erholte mich von der unangenehmen Spannung in meinem Kopf.
An den Türrahmen des Lehrerausgangs hatte jemand mit einem Edding-Stift geschrieben: Ein Dingo hat mein Baby gefressen.
Ich hatte vor Jahren von einer Mutter gehört, die sich regelmäßig über der Wiege ihres Babys erbrechen musste, meist direkt auf das Kind. Damals hatte ich darüber lachen müssen.
Heute konnte ich sie verstehen.
Die Kopfschmerzen waren nicht besonders schlimm, und ich schrieb sie eher der Luftveränderung und der einstündigen Zugfahrt zu, die ich jeden Morgen hinter mich bringen musste, um zur Arbeit zu kommen. Die Abteile in den Zügen der ÖBB besaßen ein eigenartiges Binnenklima, das selten etwas mit den in der Wirklichkeit herrschenden Temperatur- und Luftdruckverhältnissen zu tun hatte. Außerdem kam ich den ganzen Tag über kaum dazu, etwas zu essen. Wenn sich die Schüler auf den Weg in den Speisesaal machten, musste ich aufbrechen, um rechtzeitig am Bahnsteig zu sein. Sonst verlor ich zwei ganze Stunden.
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