Und dann klopfte es an seiner Tür. Max stand da, sein Gesicht glänzte wie nach einem Tennismatch, und in der Hand hielt er ein paar DVDs.
Er fragte, ob er reinkommen dürfe.
Robert ließ ihn herein, weil er wusste, dass Max mit Sicherheit der Erste sein würde, der Schwindel, Übelkeit und das ganze restliche Programm abbekäme.
Max war sehr aufgeregt. Er hielt sich nicht in der gegenüberliegenden Zimmerecke auf (Robert hatte sich höflicherweise gleich zum Fenster verzogen), sondern stellte sich neben ihn.
— Ich schaff’s, sagte er, ich halt es aus.
Robert sah die Gänsehaut auf seinen Unterarmen.
— Ach, komm, sagte er.
Robert wusste, dass Max’ Zahl sehr hoch war. Und seine — er kannte sie inzwischen gar nicht mehr, irgendwas bei 150, 160 Sekunden. Manchmal schien es auch sehr viel länger zu gehen, das heißt, richtig lange … galaxienvorbeiziehmäßig lange … Der Grund, warum sie ständig auf ihn losgingen. Termite im Ameisennest.
Und das Schlimmste dabei war, dass er die ersten Sekunden immer genoss, so wie eine Zigarette, die man anzündete, auch immer köstlich roch, erst später wurde der Qualm ekelhaft, und auch ihre Hände wurden ekelhaft, die ihn überall berührten, seine dünne Eisschicht durchbrachen mit ihren groben Fingernägeln, Arno war der Schlimmste, seine Finger waren behaart, und jedes Mal steckte er ihm den Finger bis zu den Härchen in den Mund und wurde angefeuert …
— Ich halt es aus! sagte Max.
Es klang nicht mehr nach Autosuggestion, sondern nach einer echten Entdeckung. Jetzt stellten sich auch Roberts Haare auf. Gänsehaut bis unter die Armbanduhr. Er streifte die Ärmel seines Hemdes darüber.
Robert wurde auf unangenehme Weise an seine Mutter erinnert, die auch immer diesen Satz sagte, wenn sie sich länger in seiner Nähe aufhielt, und damit immer recht hatte: Sie hielt tatsächlich alles aus. Angeekelt zog er sich auf die normale Distanz, also drei bis vier Meter, zurück, Max protestierte nicht, die grelle Absurdität ihres Lebens unter der Sonne nahm er hin wie eh und je, Robert wollte ihn am liebsten ohrfeigen, aber da zog Max sein T-Shirt aus.
Als es noch einmal an der Tür klopfte und diese kurz darauf aufging, erschrak Max heftiger als Robert. Robert hatte seine Kleider noch an.
Dr. Rudolph bedeckte sein Gesicht mit einer Hand und trat höflich einen Schritt zurück.
— Schaufler, ich hab gesehen, dass du …, begann er.
— Ich bin gleich weg, sagte Max.
Er schaute Robert mit flehendem Gesichtsausdruck an, als könnte dieser ihn wegzaubern.
Dann zog er seine Jeans und sein Hemd an und ging aus dem Zimmer.
Die Tür wurde geschlossen, und Robert war allein. Er legte sich eine Hand auf die Stirn. Keine Wärme, auch keine Schmerzen.
Am nächsten Tag wurden sie beide in das Biologiekabinett bestellt.
Es war ein unangenehm riechender Raum mit einem unechten (weil aus farbigen Knochen bestehenden) Skelett in der Ecke. Ausgestopfte Vögel, Eule, Rabe und ein paar andere, allesamt Greifvögel, deren Namen Robert nicht kannte.
Der Biologielehrer, Dr. Ulrich, war noch nicht da.
Auf dem Tisch, an dem sie Platz genommen hatten, lag eine aufgeschlagene Zeitschrift. Daneben eine zweite. National Geographic. Auf ihrem Cover war ein Frosch mit durchsichtigen Beinen.
Robert reckte den Kopf, um erkennen zu können, was in der anderen, der aufgeschlagenen Zeitschrift abgebildet war.
Gänsehaut.
Es war, als ob er durch einen Türspalt in ein merkwürdig sauberes, in seiner geometrischen Reinheit erschreckendes und unbegreifliches Traumzimmer blickte. Das Bild war nicht schön, es war grauenhaft, es sollte in seinem Betrachter Entsetzen hervorrufen. Es zeigte einen Regenwurm. Dieser Regenwurm war auf eine Art Draht gespießt und von dem wissenschaftlichen Assistenten des Versuchsleiters gerade in dem Augenblick fotografiert worden, als er mit seinem Körper ein gekrümmtes Fragezeichen bildete, die einzige Geste, mit der er auf das, was man mit ihm anstellte, reagieren konnte. Violinschlüssel, dachte Robert.
Der Biologielehrer ließ noch immer auf sich warten. Max suchte andauernd seinen Blick, aber Robert wischte ihn immer wieder beiseite wie ein lästiges Insekt.
Schließlich hielt er es nicht mehr länger aus und zog die Zeitschrift zu sich heran. Die Buchstaben, unendlich erleichtert darüber, endlich Sinn ergeben zu dürfen, glitten unter ihm dahin, aber er nahm nicht viel auf, er musste immerzu auf die kurze Fotostrecke (zu einem Comicstrip fehlten nur mehr die Sprechblasen) starren, mit der das Wurmexperiment dokumentiert wurde. Nach dem Aufspießen auf dem Draht trat (Abb. 2) offenbar eine kurze Pause in der Behandlung ein, vielleicht war auch etwas mehr Zeit vergangen. Jedenfalls lag der Wurm einfach da.
Robert war immer noch viel zu aufgeregt, um sich auf das sinnspendende Gitter des stillstehenden Textes zu konzentrieren.
Im nächsten Bild wurde das Tier von seinem Marterwerkzeug befreit. Robert stellte es sich vor: Es fiel auf den sandigen Boden einer kleinen Kiste (Abb. 3), die bereits unscharf im Hintergrund des ersten Bildes zu erkennen gewesen war, und begann dort loszukriechen, langsam und vorsichtig eine Körperkontraktion vor die andere setzend. Da mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Gleichgewichtssinn von dem Draht beschädigt worden war, beschrieb es einen Halbkreis (Abb. 4). Robert betrachtete die Abbildung fassungslos vor Staunen. Kein Mensch hätte je eine solche Ruhe ausstrahlen können, nachdem er dermaßen in die Mangel genommen worden war. Ein Drahtgestell durch den Kopf gezogen, durch das Gehirn … Aber hier gab es eine Kreatur, die trotz der entsetzlichen Folter über keinerlei Vorstellung von Rache oder Selbstverteidigung verfügte. Das Tier kroch einfach durch den Sand in Richtung des Erdlochs, aus dem es vor einiger Zeit gezerrt worden war. Es wollte wieder zurück zu seinen Artgenossen, sich in ihrer Gegenwart ringeln und auf chemische Botenstoffe reagieren. Vielleicht fand es, dass es nun genug gequält worden war, und setzte einfach einen Ganzkörper-Ringelschritt vor den anderen, irgendwann würde es schon bei seinem Erdloch ankommen, und dann trennte es von seinen Freunden nur noch einige Zentimeter vertrauter Substanz.
In Gedanken marschierte Robert zu dem Wurm und hob ihn auf. Dieser brauchte eine Weile, bis sein Körper bemerkte, dass er keinen festen Boden mehr unter sich hatte. Er hörte auf, sich fortzubewegen, und ringelte sich wieder sinnlos um sich selbst, sein Kopf pendelte hin und her. Die ganze Szene war von so herzzerreißender Sinnlosigkeit, dass Robert lachen musste. Max machte ein erstauntes Geräusch mit dem Mund. Und dann bemerkte Robert, dass der Lehrer hereingekommen war und Platz genommen hatte. Er stieß die Zeitschrift mit der Wurmgeschichte schnell von sich, als hätte sie ihn festgehalten, und das Heft rutschte fast einen Meter weit über den langen, langen Tisch des Biologiekabinetts, an dem sie, in einem gleichseitigen Dreieck angeordnet, saßen.
Prof. Ulrich schaute nicht böse oder verärgert. Im Gegenteil, er griff nach seiner Zeitschrift, drehte sie um, schien den Artikel zu überfliegen und sagte dann:
— Nicht wahr, gell?
Max wirkte in den folgenden Tagen verzweifelt und niedergeschlagen, wahrscheinlich deshalb, weil es keine Strafe für sein Verhalten gegeben hatte, also auch keine Bestätigung, dass jemals etwas passiert war. Es geschah nur noch selten, dass sich ihre Blicke irgendwo trafen.
Bald darauf wurde Max reloziert. Ein Auto mit internationalem Kennzeichen kam und brachte ihn fort. Robert hatte ihn gesehen, als er (mit seinem vom Lehrpersonal oft scherzhaft als Lepraklapper bezeichneten Klicker Lärm machend, proximity awareness ) an seinem Zimmer vorbeigegangen war, und wenig später, als er mit nacktem Oberkörper in der Ecke vor seinem Waschbecken stand, das Gesicht blickte in den Spiegel — und die Hand verteilte eine Art Ruß oder schwarze Schminke darauf. Neben ihm auf einem Stuhl lag ein schwarzes Frackgewand, wie für eine Beerdigung oder ein Klavierkonzert. Auf der Lehne balancierte ein eingedrückter Zylinder. Später hatte Max ihnen zugewinkt, mit seiner rußverschmierten Pfote, aus dem Heckfenster des Autos, in dem kleine Plüschtiere mit Saugnäpfen an der Scheibe klebten. Und der Mathelehrer war am selben Morgen beim Lesen eines Artikels über Bienen, der zufällig von der Biologiestunde im Hörsaal liegengeblieben war, in Tränen ausgebrochen. Freak. Robert sah die Szene noch so klar vor sich, dass die Erinnerung ihm die Faust ballte.
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