— Ich glaube schon, sagte er. Sagen Sie, wie war Ihr Name?
— Nach so langer Zeit endlich ein Augenblick, in dem die Zeiger stillstehen, sagte der Mann. Oder die Geigerzähler. Oder die Sirenen. Einfach nur Stille. Das ist eine gewaltige Leistung, wissen Sie? Wie haben Sie das gemacht?
– Äh …
Robert hob die Arme.
— Ich weiß schon, sagte der Mann. Ist nicht leicht zu beschreiben. Der künstlerische Prozess. Aber die Ruhe, die Sie da gefunden haben, ist wie ein besonderer Weinjahrgang. Man kann sie nur in kleinen Dosen genießen, nicht zu viel. Sie waren Schüler, nicht? Im Institut?
— Sie meinen in der Helianau?
— Im Helianau-Institut, genau. Es steht in Ihrer Vita.
— Hm.
— Ein ausgebrannter Fall, sagte der Mann in sein Sektglas, als er es zum Mund führte.
— Wie bitte?
— Ein interessanter Fall. Alles in allem. Wissen Sie, ich hätte Ihre Bekanntschaft vielleicht schon früher gemacht, Herr Tätzel. Aber dann haben sich die Parameter sozusagen verschoben. Beziehungsweise sind verschoben worden.
— Was?
— Die Parameter, nach denen wir existieren. Die Umstände.
— Haben Sie am Institut unterrichtet?
Eine dumme Frage. Robert wusste doch, dass die Antwort darauf Nein war. Er kannte schließlich alle Lehrer, und die paar Namen und Gesichter im Kopf zu behalten war nun wirklich keine große Gedächtnisleistung.
— Nein, sagte der Mann. Ich war nie wirklich dort.
— Aha.
— Erlauben Sie mir eine persönliche Frage?
— Kann ich erst sagen, wenn ich sie höre.
— Nun, dann lasse ich es auf den Versuch ankommen, wenn Sie erlauben. Das ist es wert. Im Institut, da waren Sie doch bestimmt im Internat. Ich meine, Sie waren keiner von den wenigen Schülern, die gependelt sind. Das ist nicht so oft vorgekommen, nicht? Aber warten Sie, das ist noch nicht meine Frage. Meine Frage bezieht sich auf das tägliche Leben dort und ist, wie ich schon angedeutet habe, vielleicht etwas persönlich, aber ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel. Haben Sie je das Zonenspiel gespielt?
Robert hielt dem Blick stand.
— Das kennen Sie?
— Nun ja, sagte der Mann, als hätte Robert ihm ein Kompliment gemacht.
Robert schüttelte den Kopf.
— Nein, hab ich nicht.
— Wirklich nicht? Ich dachte nämlich, ich … Hm. Komisch. Da muss ich wohl von falschen Voraussetzungen ausgegangen sein.
Der Mann nahm einen Schluck Sekt. Dabei berührte er seine Oberlippe kurz mit dem Knöchel seines Zeigefingers. Pisse, dachte Robert. Meine Pisse.
— Wie geht es eigentlich Ihrem Mentor?
— Wem?
— Ihrem ehemaligen Mathematiklehrer, diesem, ach, wie heißt er, Senf … Setz, nicht? Er hat damals …
Der Mann machte eine merkwürdige Geste mit seiner linken Hand, die an einen Polizisten erinnerte, der eine Menschenmenge sanft, aber im Bewusstsein seiner Autorität zurückdrängen will.
— Mit dem hab ich nichts zu tun, sagte Robert.
— Ach, Herr Tätzel … (der Mann tat, als wäre er enttäuscht). Sie müssen nicht so tun, als … Aber gut, ich verstehe Sie natürlich. Aber es hat Sie doch bestimmt erleichtert zu hören, dass er freigesprochen wurde, oder?
— Was soll das? Sind Sie von der Polizei?
Der Mann lachte:
— Nein. Er war es ohnehin nicht. Ich meine, das mit dem Arschloch, dem sie die Haut abgezogen haben.
— Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen, sagte Robert.
Und ich würde jetzt gerne meine Ruhe haben, setzte er in Gedanken hinzu. Der Mann bohrte ihm einen Finger in den Bauchnabel. Robert fror augenblicklich ein. Er spürte, dass er um Hilfe rufen wollte, aber gleichzeitig steckte er in einer Art Tunnel fest. In einem Tunnel gesteigerter Aufmerksamkeit. Das Gesicht des Mannes kam ganz nahe an seines heran, er roch seinen Atem, Sekt, vermischt mit Ölfarben. Als hätte er an den Gemälden geleckt.
— Er hat mich besucht, wussten Sie das? Das war vor einigen Jahren. Er ist bei mir aufgekreuzt, angeblich auf der Suche nach, ah, was weiß ich, Recherche für irgendwas. Das dann natürlich nie erschienen ist. Schreibt ja andere Dinge, der gute Mann, inzwischen. Aber ich wusste natürlich, worum es ihm bei seinem Besuch eigentlich gegangen ist, Herr Tätzel. Um Sie. Sagen Sie, wie haben Sie ihn dazu gebracht? Ich meine, ich würde ja … möglicherweise dem Herrn … Schaufler, glaube ich, ist der Name, ja … Max Schaufler diese Frage stellen. Wie Sie das gemacht, das heißt, welche Überzeugungstechniken Sie damals angewandt haben. Also: Wie haben Sie das, ich meine, Sie müssen mir keine Details verraten von Ihrer … heiligen Allianz vor so vielen Jahren, Herr Tätzel –
Robert brach endlich aus seiner Schreckensstarre aus und schüttete dem Mann seinen Sekt ins Gesicht. Dieser fing sofort an zu lachen. Menschen traten hinzu, Robert murmelte eine Entschuldigung und lief an ihnen vorbei.
Den Nachhauseweg brachte Robert nur mit Mühe hinter sich. Als er endlich in seiner Wohnung ankam, hätte er nicht mehr sagen können, durch welche Straßen er gegangen war. Cordula begrüßte ihn und merkte an seinem Blick, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Sie kannte es, es war ihr Metier, schon seit ihrer Kindheit, sozusagen, Hilfe, Hilfe, dachte Robert, und: Schau, was mit mir ist, das kommt vielleicht vom Umgang mit dir, du, du … Seine Zähne klapperten, er konnte nicht sprechen.
Und Cordula — trat einen Schritt zurück.
— Arvo Pärt, sagte Robert.
— Was?
— Mmmh.
— Was ist passiert? Hat dich jemand wütend gemacht? Warte, ich bring dir was, dann geht’s dir gleich besser …
Xanor, Zolpidem, nein, er brauchte nichts dergleichen, es gab ja einen Grund, warum er so war, sein Zustand, aber er konnte noch immer nichts sagen. Nur einen Augenblick, nur einen Augenblick Geduld.
Cordula kam zurück und hielt ihm ein aus Zündhölzern zusammengebautes kleines Bauernhaus vors Gesicht.
— Zerdrück es, sagte sie. Ist schon okay. Dafür mach ich sie ja.
Robert nahm das Haus in die Hand.
— Weiß nicht, murmelte er.
— Ist okay, wiederholte Cordula und machte eine auffordernde Geste. Mach’s kaputt. Dann geht’s dir jedes Mal besser. Löst die Starre.
Er hatte noch niemals in seinem Leben auf Holz gebissen, zumindest nicht auf Streichhölzer. Aber als er das kleine, von seiner Freundin gebaute Häuschen zerkaute (vielleicht hätten die Fingerknochen von Arno Golch auch so gekracht und gesplittert, wenn er auf sie gebissen hätte …) und dabei ihren überraschten, aber immer noch beherrschten und mütterlichen Blick wahrnahm, fand er allmählich zurück zu einem Ort im Sonnensystem, wo man seine Stimme hören konnte.
— Mich hat so ein Typ angesprochen, sagte er.
Er kaute. Spuckte die Splitter des Wut-Hauses aus. Tätschelte abwesend Cordulas Schulter und murmelte ein leises Danke.
— Bei der Preisverleihung?
— War wahrscheinlich betrunken. Was weiß ich.
Wir müssen auf der Hut sein, Robin, dass wir uns nicht selbst belügen. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
— Hat er … irgendwas Gemeines gesagt …? So wie der Sohn von der Frau Rabl?
Max Schaufler. Woher …?
Robert war nicht gut im Weinen. Es lag ihm nicht. Er kannte viele Leute, die richtig gut darin waren, die einem wirklich was vorweinen konnten, eine ganze Geschichte, eine Etüde von Chopin, einen Gesellschaftsvertrag, einen Karrieresprung. Aber er konnte das nicht. Hatte es nie gelernt. Sein Gesicht lief jedes Mal einfach auseinander, wie Kontinentaldrift, und die einzelnen Teile taten, was sie wollten.
— Ach, Robert, nicht doch, das war doch nur ein … (ein zehntelsekundenlanges Zögern, da sie ja nichts wusste, sie musste raten) … ein blödes, intolerantes Arschloch, das irgendwas gesagt hat … Nein, nicht weinen, komm …
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