Im Foyer der Bank hingen eine Menge schlechter abstrakter Gemälde, an denen sich Robert festhielt, um nicht in Panik zu geraten. Sie waren die eigentlichen Bewohner dieser Räumlichkeiten. Die ganze Nacht über hingen sie hier, unförmige Gebilde, die niemand wollte.
Er nippte ein paar Mal am Schaumwein, der nach verrückt gewordenen Trauben schmeckte, und machte sich daran, die Bilder im Geiste umzumalen. Eine kollegiale Geste. Das erste Gemälde transponierte er in ein verrenktes Strichmännchen, dessen Glieder sich in einem jeweils unterschiedlichen Grad der Schärfe oder Unschärfe präsentierten. Das Strichmännchen trug einen Hut, und aus seinem Gesicht ragte eine Zigarre oder vielleicht auch ein Schornstein. Selbst wenn es sich zweifellos um die Form eines Menschen handelte, erweckte das dargestellte Wesen den Eindruck einer Ur-Gestalt, die man in Träumen in den etwas zu hellen Winkeln einer Kirche oder in Räumen, in denen der Kontrast nicht stimmte, antraf.
— Herzlichen Glückwunsch, hörte er eine Stimme hinter sich.
Robert täuschte einen schlimmen Hustenanfall vor. Der unsichtbare Gratulant zog sich zurück.
Die Leute auf der Feier wurden nach und nach immer betrunkener und begannen, einander ihre Geheimnisse zu erzählen. Robert hörte einige Minuten lang einer jungen Frau zu, die ihm erklärte, dass sie endlich ihren Frieden gemacht habe mit der Welt, nach so vielen Jahren, und dass das daraus resultierende Kunstwerk den Titel Men’s True All Blood trage. Er nickte und fragte, was es darstelle. Die Frau lachte darüber, als hätte er einen Scherz gemacht. Robert stellte sich vor, wie sie wohl ohne Augenbrauen aussah. So ein bisschen mit dem Lötkolben … Und anstelle der Augenbrauen eine aus kleinen x-en genähte Narbenlinie. Wucherndes Keloid. Er ging zum Buffet und nahm sich ein Brot mit Käse und einer halben Weintraube und einem Tupfer Mayonnaise. Aus den Lautsprechern kam nun eine von einem Jazztrio gespielte Version des Soundtracks von Jurassic Park.
Robert sah auf die Uhr.
Es wäre immer noch unhöflich gegenüber den Veranstaltern, wenn er jetzt schon verschwand. Er hasste diese Menschen, die ihm dreitausend Euro für ein Bild geschenkt hatten, dafür, dass sie eine derartige Macht über ihn besaßen. Fast wie eine Fernsteuerung, mit der man ein Auto in der Nachbarwohnung herumfahren und gegen die Wände knallen lassen konnte.
Die junge Frau von vorhin kam wieder auf ihn zu. Sie sei nur kurz draußen gewesen, sagte sie. Sie sah etwas verschreckt aus. Robert, der das starke Bedürfnis hatte, sich an irgendetwas zu weiden, fragte sie, was passiert sei, sie wirke eigenartig. Ach, es sei nichts, meinte die junge Frau, sie habe einfach nach Hause gehen wollen, aber da draußen seien kleine Tiere in den Bäumen herumgehüpft und so sei sie eben wieder zurück ins Bankfoyer gekommen.
— Münker?
— Nein, was anderes, sagte die Frau.
— Ach so, die Tiere, sagte Robert und nickte. Keine Angst, die sind wegen mir da.
Die Frau schaute ihn an, als hätte er sich vor ihren Augen in einen riesigen Stier verwandelt. Mit einem Jungs-sind-doof-Blick ließ sie ihn stehen. Später, als die Traube betrunkener und mit fortschreitender Stunde immer sentimentaler werdender Menschen um ihn dichter zu werden drohte, erzeugte Robert eine Blase um sich, in der er atmen konnte, indem er über die heutige Kunst an sich, die Fotografie im Speziellen, die Zwillingsforschung (ein zufällig aus der Luft gegriffenes Thema) und, natürlich, das alte Problem von Henne und Ei zu plappern begann, auch die Brüsseler Gesetzgebung streifte er kurz, obwohl er auch davon nicht die geringste Ahnung hatte. Es war ganz egal, man hörte ihm zu. Und man gratulierte ihm noch einmal zur Auszeichnung. Er bedankte sich und fragte alle möglichen Leute, ob draußen immer noch die Lemuren in den Bäumen säßen. Manche schauten belustigt oder fragend, manche lachten, andere nickten ernst.
Robert ging auf ein helles Toilettensymbol am Ende eines Korridors zu. Hier war eine Leuchtstoffröhre, vermutlich schon vor Jahren, infolge ihrer Einsamkeit verrückt geworden. Sie flackerte und surrte ein unverständliches Medley von Morsezeichen, ein wirres Lidflimmern. So lange hatte sie gewartet, bis endlich jemand unter ihr stehenblieb, und jetzt brach alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, gleichzeitig aus ihr heraus.
Robert war sehr erleichtert, als er die Toilette betrat. Das war doch ein Paradies. Woran man sich hier abreagieren konnte! Leicht abschraubbare (nicht so wie im Krankenzimmer in Cordulas Psychiatrie!) Henkel und Griffe am Wasserhahn. Und die Türschnalle an der Klokabine war ein wenig lose. Er berührte sie vorsichtig und versetzte ihr dann den Gnadenstoß. Er hielt sie in der Hand, atmete tief durch, schloss die Augen, für einen Moment zufrieden, frei. Dann leerte er seine Blase und ging, ohne sich die Hände zu waschen, zurück ins Foyer. Er gab so vielen Menschen wie möglich die Hand, und als ein eigenartig hagerer Mann an die Reihe kam, nahm Robert im ersten Augenblick gar nicht wahr, dass der Mann ihn ansprach. Das offen und aufmerksam wirkende Gesicht zierten lange Koteletten. Das Haupthaar war zurückgewichen, nur noch ein Atoll aus grauen, ehemals schwarzen Haaren war übrig geblieben. Der Mann war ungewöhnlich dünn, und was das Auffallendste war: Er hatte überhaupt keine Schultern. Hätte er ein schwarzes Cape getragen, hätte er ausgesehen wie eine Temaki-Rolle.
— Batman, entgegnete Robert auf das, was der dünne Mann ihm gesagt hatte.
Er hoffte, dadurch seinen Standpunkt klar genug gemacht zu haben.
— Schön, Sie zu treffen, sagte der Mann. Herr Tätzel.
– Äh, kennen wir uns?
— Nein, das wohl nicht, sagte der andere.
Er hatte einen eigenartigen Akzent, irgendwie französisch, aber auch noch etwas anderes, vielleicht rumänisch. Robert stellte sich vor, wie viele tausend Moleküle seines Urins gerade auf die Hand dieses Witzbolds gewandert waren.
— Ich fürchte …, begann der Mann und seufzte.
Robert wartete.
— Ich fürchte, ich mag Ihr Bild, sagte der Mann und trat etwas näher an ihn heran.
— Ah ja, sagte Robert.
— Ich weiß gar nicht, womit ich seine Wirkung auf mich vergleichen soll. Am ehesten vielleicht noch mit diesem … Kennen Sie das Stück Für Alina von Arvo Pärt?
Robert schüttelte den Kopf.
— Es ist ein ganz besonderes Stück, finde ich. Die gebildete Menschheit komponiert ja heutzutage nicht mehr in Melodien, in Harmonien und so weiter. Es sind immer Strukturen, abstrakte Formen … na ja, egal. Aber das Stück von Pärt ist etwas ganz anderes, man weiß gar nicht, wo man beginnen soll …
— Ach so, ja, sagte Robert und wandte sich ab.
Der Mann hielt ihn an der Schulter fest. Roberts Augen wurden größer. Der Dünne lächelte, griff in seine Tasche und drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. Auf ihr stand kein Name. Nur der Name einer Firma: InterF.
Darunter eine Postadresse in Belgien. E-Mail: inter_f@apuip.eu.
— Pärts Musik ist genauso wie Ihr Bild hier. Von der Katze. Diese Stille. Wissen Sie, es ist ein Stück für Klavier. Und die Begleitung der linken Hand besteht nur aus einem h-Moll-Dreiklang, der einfach auf und ab gespielt wird. Vollkommen langweilig. Und die rechte Hand spielt eine ähnliche Melodie. Er summte ein kurzes Stück davon vor. Und zusammen ergeben sie diese absolute Stille. Man kann das Stück auf der Straße hören, mit Kopfhörern … und man ist plötzlich allein. Plötzlich ruhig. Nicht mehr diese Elektrizität in den Knochen, überall, wissen Sie, was ich meine?
Robert hatte das Gefühl, dass alle anderen Gäste mindestens einen Meter von ihnen beiden fortgerückt waren. Am liebsten hätte er seine Arme nach ihnen ausgestreckt. Das Glas, das er in der Hand hielt, hatte zu schwitzen begonnen.
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