Das Geklapper von Pferdehufen war in einiger Entfernung zu hören, als ich aus der Pension trat, ein wunderbares, entspannendes Geräusch, als würde sich die Landschaft räuspern. Frau Stennitzer hatte angekündigt, dass Christoph heute kurz mit mir sprechen werde. Er sei ja der Grund für meinen Besuch und nicht, haha, sie selbst, hatte sie gesagt, ja, sie wisse natürlich, wie die Prioritäten auf der Welt verteilt seien, im Allgemeinen …
Der Geruch nach Raumspray, der mir schon im Vorzimmer entgegenschlug, war noch unerträglicher als am Tag zuvor. Ich wollte schon fragen, ob man vielleicht ein Fenster aufmachen könnte, aber Frau Stennitzer führte mich sofort ins Wohnzimmer. Sie hatte schweißnasse Hände, und an ihrem Gürtel hing ihr Handy in einer aufklappbaren Tragetasche.
Als ich das Wohnzimmer betrat und sah, was dort auf dem Sofa saß, ließ ich vor Schreck mein Notizbuch und den Muffin fallen, den ich mir auf dem Weg hier herauf in der Bahnhofsbäckerei gekauft hatte, und rannte zurück ins Vorzimmer. Erst am belustigten Gesicht von Frau Stennitzer, die mir mit beruhigend aufgestellten Handflächen nachkam, merkte ich, dass ich laut geschrien haben musste. Ich hörte Gelächter. Frau Stennitzer legte eine Hand auf meine Brust, dann auf meine Schulter.
— Geht’s? fragte sie, kichernd. Sie haben sich erschreckt, hihihi, Sie haben sich … haben Sie wirklich?
— Was zum Teufel ist das?!
Sie ging mit mir zurück ins Wohnzimmer und kicherte weiter vor sich hin.
— Ah, das ist eine Maske, sagte ich.
— Hihihihi, machte Frau Stennitzer.
— Und darunter ist …?
— Ja, wir haben es lieber so, sagte die Mutter zu dem Ungetüm. Gell?
Die maskierte Gestalt, die offenbar ihr Sohn Christoph war, stand vom Sofa auf und kam auf mich zu. Wir schüttelten einander die Hand. Seine war eiskalt. Der riesige, groteske Osterinselkopf aus Pappe wackelte auf seinen Schultern hin und her.
— Hat das einen speziellen Sinn?
— Er möchte es so. Nicht wahr, Christoph?
Ein Wackeln, das wohl ein Nicken sein sollte.
— Ich hab mich wirklich erschrocken, sagte ich und hob meine Sachen vom Boden auf. Der Muffin war, wie ich sofort feststellte, vollkommen plattgedrückt. War ich draufgetreten, als ich vor Schreck nach draußen gerannt war? Sehr wahrscheinlich war das nicht; ich konnte mich zumindest nicht erinnern. Ich holte den Muffin aus der Papiertüte. Er sah aus wie ein überfahrenes Nagetier.
— Hihihihi, gackerte Frau Stennitzer immer noch.
Ich betrachtete den unheimlichen Kopf. Für eine gewöhnliche Faschingsmaske war er zu groß, aber gut möglich, dass es nur eine optische Täuschung war, weil er von einem Kind getragen wurde. Für seine vierzehn Jahre wirkte Christoph eher klein, er war dünn, die Haut auf seinen Armen war auffallend bleich, und seine Fußspitzen standen beim Gehen ein wenig in Pflugstellung. Jetzt, aus der Nähe betrachtet, war der Kopf gar nicht mehr so furchterregend, fand ich. Die ernste Stirn und die lange, charaktervolle Nase, die einen scharfen Schatten warf, erinnerten mich sogar ein wenig an das freundliche Gesicht von John Updike.
So saßen wir einige Zeit da, ich sprachlos, Mutter und Sohn in höflichem Schweigen, umgeben von hellen Fenstern.
— Drei Minuten, sagte Frau Stennitzer leise.
Sie könne es inzwischen bis auf die Sekunde genau berechnen, auch bei anderen Menschen. Das heißt: bei Fremden, so wie bei mir. Sie wisse genau, wann es für mich besser sei, auf Distanz zu gehen.
— Verändert sich sein Wert?
Frau Stennitzer schüttelte stumm den Kopf und schloss dabei für einen kurzen Moment die Augen.
— Hallo, Christoph. Mein Name ist Clemens. Ich schreibe eine Reportage über … Na ja, ich wollte fragen, wie’s dir so damit geht, ich meine, zu wissen …
Mein Satz brach in der Mitte auseinander, und beide Teile fielen zu Boden.
— Gut, sagte Christoph.
Seine Stimme wurde von der Maske gedämpft.
— Du wirst zu Hause unterrichtet, stimmt das?
— Mhm.
— Ich hab mal in einem Internat gearbeitet, in dem Kinder wie du leben. Würdest du manchmal gern in eine solche Schule –
Frau Stennitzer unterbrach mich:
— Wir haben ein Arrangement getroffen. Er kennt die Verhältnisse dort nicht. Wie soll er da antworten?
— Na gut, sagte ich. Sicher, klar.
— Ich lese gern Comics, sagte Christoph.
— Ach so, welche denn?
— Alles Mögliche, sagte er. Und Wrestling.
— Du magst Wrestling?
— Ja.
— Ich hab das schon lang nicht mehr angeschaut.
Frau Stennitzer deutete auf ihre Armbanduhr. Ich spürte nichts. Sie fasste sich an die Schläfen, lächelte aber weiter. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und räusperte sich. Christoph ging aus dem Zimmer.
Was mit Indigo-Kindern passiert, wenn sie älter und schließlich erwachsen werden, ist eine kontrovers diskutierte Frage. Nicht selten wird die Ansicht vertreten, dass es das Beringer-Syndrom gar nicht gibt und alles nur eine Frage der Einstellung ist. Ein Fall aus Australien ist bekannt, ein inzwischen zwanzig Jahre alter Mann namens Ken S., der behauptet, als Kind sehr starke Indigo-Symptome entwickelt zu haben, die seine Eltern schließlich dazu gebracht haben sollen, sich scheiden zu lassen, und seinen Vater angeblich in eine tiefe und lebensgefährliche Depression gestürzt haben. Heute arbeitet er in einem Call-Center und tritt hin und wieder in Talkshows auf, wo er gern darüber spricht, wie man sich mit positivem Denken von seinem eigenen Schicksal distanzieren kann. (Auch bei meiner eigenen Arbeit im Proximity Awareness and Learning Center Helianau am Semmering in Österreich habe ich Kinder erlebt, deren Wert allmählich zu- und deren Wirkung abgenommen hat. Aber selbst in diesen Fällen waren die Kausalitäten oft nicht klar ersichtlich.)
Solche Erzählungen von meinte sie. Ausgebrannte I-Kinder seien eine Tatsache. Aber: ausgebrannten Fällen waren Frau Stennitzer natürlich bekannt, und sie seufzte, als ich sie darauf ansprach. Ja, manchmal wachse oder brenne es sich aus,
— Ehrlich gesagt, das alles bedeutet mir nicht das Geringste. Ich meine, immer geschehen solche Sachen in Australien, weit, weit weg … Als Nächstes geschieht es wahrscheinlich auf dem Mond. Aber hier, ich meine, wir sehen es doch, wir leben doch damit. Es wird nicht weniger.
— Bemerken Sie gar keine Entwicklung?
— Außer dass ich mich gewöhne …
— In der Fachliteratur werden einige Fälle erwähnt, die –
— Ja, das ist eben das Problem, die werden immer nur erwähnt, und die Leute, um die es da geht, sind nur mit Initialen vertreten, und kein Mensch weiß, was das eigentlich soll, diese Geheimniskrämerei.
Eine Pause entstand, während deren ich mein Notizbuch höflich zuklappte, um Frau Stennitzer zu erlauben, richtig wütend zu werden.
— Ich meine, ich verstehe diese Leute nicht, die solchen Unfug schreiben, sagte sie. Die müssen ja nicht mit ständiger Übelkeit und Schwindel leben und mit Hautausschlägen und Durchfall, das ist für die nur eine Liste von Krankheitssymptomen! Das ist nichts, was ihr Leben betrifft. Es ist immer dieselbe Scheiße, überall! Aber kaum spricht das einer mal aus, geht’s auch schon los: Ja, die ist eben burnt out, die ist halt nicht so der Familientyp, wird schon auch an der emotionalen Überforderung liegen — nein! Leben Sie mal vierundzwanzig Stunden im Einzugsgebiet von diesem …
Sie führte einen Fingerknöchel an die Oberlippe, um sich zu bremsen. Es funktionierte.
— Entschuldigung, sagte sie. Sie wollen bestimmt nicht von mir vollgejammert werden.
Ich unterdrückte gerade noch rechtzeitig den Satz Aber dafür bin ich doch gekommen und nickte nur auf eine, wie ich hoffte, verständnisvolle Weise.
— Aber wünschen Sie es sich für Christoph?
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