— Entschuldigung, rief ich. Darf ich euch was fragen?
Keine Reaktion. Aber sie liefen nicht weg, also verstand ich das als Einladung.
— Hallo, sagte ich im Näherkommen. Ich bin nicht von hier, ich bin hier nur auf Besuch. Kennt ihr die Stennitzers, da oben.
Ich deutete ungefähr in die Richtung.
— Scheiße, sagte einer der Jugendlichen und drehte seinen kahlrasierten Schädel auf theatralische Weise nach hinten.
— Jetzt ist es wirklich passiert, sagte der andere.
— Nein, nein, sagte ich und hob eine Hand. Nichts ist passiert. Ich war dort nur auf Besuch. Und da hat man mir erzählt, ihr seid die einzigen Freunde von Christoph.
Das Mädchen griff nach dem Handgelenk eines der Burschen und zog sanft daran.
— Es ist alles okay, sagte ich. Christoph geht’s gut.
— Und, was gibt’s dann zu besprechen? fragte der andere.
— Gar nichts, ich wollte nur fragen, wie –
— Ach, die soll sich nicht dauernd so aufregen! krähte der Erste mich an. Geht mir echt auf den Sack, schön langsam …
— Die Frau Stennitzer?
— Ja, die soll sich nicht einmischen.
Ein lautes Geräusch hinter uns. Wir wichen dem Traktor aus, der in eigenartiger, die Gedanken wie ein Fiebertraum durcheinanderbringender Langsamkeit über die Brücke fuhr. An den riesigen Reifen klebte hellbrauner Schlamm.
— Darf ich was fragen? Was hast du vorhin gemeint mit: Jetzt ist es wirklich passiert?
Der Skinhead lachte, als hätte ich einen unglaublich obszönen Witz gemacht. Er fuhr mit seiner Hand unter sein Hemd, bildete dort eine Art Maul durch den Stoff und machte:
— Angangangang!
Er schnappte spielerisch nach mir und dem Mädchen. Es lachte ein wenig. Dann zog der Bursche ein Klappmesser und faltete es auf. Ich verspürte einen ungeheuren Drang, ihn k. o. zu schlagen und anschließend seinen kleinen, kompakten Glatzkopf zu beschriften.
Der Bursche tippte auf dem Klappmesser herum, und ich sah, dass es gar kein Messer war, sondern ein MP3-Player. Ich schüttelte den Kopf und atmete einmal tief durch. Landluft. Traktorengeräusche. Ich bin im Hier und Jetzt.
Leise Musik war zu hören. Ein Gekrächz und Geschrei, begleitet von E-Gitarren und einem Schlagzeug, das von einem riesigen Fuß durch einen Raum gekickt wurde.
— Hab gar nichts gemeint, sagte der Bursche.
— Wie lange kennt ihr Christoph schon?
Wieder lachten sie. Das Mädchen klatschte in die Hände.
— Was ist denn so witzig?
— Du bist voll drauf, oder? fragte der Junge mit dem MP3-Player.
— Wo drauf?
Sie lachten wieder.
— Mit dem Christoph kann man gut Musik hören, sagte der andere Bursche, der bisher nicht viel geredet hatte. Außerdem geht’s mit der Musik. Oder?
Seine Freunde stimmten ihm zu.
— Mit der Musik geht es leichter? fragte ich.
Meine Stimme klang in der Tat etwas komisch. Die Jugendlichen schlugen sich auf die Schenkel vor Lachen.
— Warte, ich schalte lauter. Armer Kerl, sagte der Bursche und drückte auf seinem MP3-Player herum.
Obwohl es mir schwerfiel, in normaler Geschwindigkeit zu sprechen, erklärte ich den Jugendlichen, dass mich die Sache mit der Musik an eine Stelle aus dem Werk des großen französischen Insektenforschers Fabre erinnere, wo er einen eigenartigen Aberglauben kalabresischer Bauern beschreibt, nach welchem das Gift der Tarantel angeblich bei Frauen wilde Gliederzuckungen und unbezähmbare Tanzwut hervorruft. Als einziges Heilmittel gegen diesen sogenannten Tarantismus gelte Musik, so Fabre, sagte ich. Es gebe sogar eigene, besonders ins Ohr gehende Melodien, denen eine eindeutig heilsame Wirkung zugeschrieben wurde, und diese Melodien wären seit Jahrhunderten gesammelt und jeder Frau, die von einer Spinne gebissen wurde, auf Notenblättern ausgehändigt worden.
Die beiden Glatzköpfe prusteten los und stießen einander an.
— Scheiße, sagte der Schweigsamere der beiden. Der is so was von untendrunter …
Das Mädchen schaute etwas betreten drein, nicht sicher, wie ich reagieren würde. Aber ich lachte mit ihnen, in diesem hellen, ungefährlichen Augenblick kurz vor meiner Abreise aus Gillingen, obwohl ich überhaupt nicht mehr wusste, worüber wir lachten und unter welchem Vorzeichen, Plus oder Minus.


— Ja, die Übermacht amerikanischer Kultur und vor allem amerikanischer Fernsehserien, sagte Robert. Das nimmt alles total überhand. Schon seit gut fünfzig Jahren nimmt das überhand. Wenn ich male, sehe ich oft diese Wellen, wie bei alten Fernsehgeräten.
– Überhand, wiederholte Elke. Woher kommt eigentlich dieses Wort? Über Hand …
Sie hielt sich ihre eigenen Hände vors Gesicht und betrachtete sie, als könnten sie ihr die Antwort verraten. Willi erinnerte sie daran, wie sie beide in bekifftem Zustand über eine Stunde lang diskutiert hatten, ob es Stil-Leben oder Still-Leben hieß. Sie hatten Markus Lüpertz im Fernsehen gesehen, irgendein wahnsinnig selbstherrliches Interview mit dem greisen Maler, und der hatte tatsächlich Stil-Leben gesagt. Elke hatte das Angst gemacht, weil sie es nicht mochte, wenn sie ein Wort ihr ganzes Leben lang falsch ausgesprochen hatte. Das sei, meinte sie, als würde man ihr das Wort nachträglich aberkennen.
— Ja, du hast als Kind ziemlich viel Fernsehen geschaut, sagte Cordula zu Robert und streichelte über seinen Kopf.
Robert wollte am liebsten eine wohltuende Batman-Weisheit von sich geben. Das bizarre innere Licht dieser schlauen Sprüche war mit nichts in der Wirklichkeit zu vergleichen. Aber dann schluckte er sie hinunter und sagte stattdessen:
— Ach, ich meine nur, die Wildwestkultur nimmt ganz einfach überhand, in jeder normalen Fernsehserie schaffen es die Drehbuchautoren, so eine Wildwestfolge einzuschmuggeln, irgendwer nimmt eine Zeitmaschine und gelangt in den Wilden Westen, oder irgendwem fällt ein Ziegelstein auf den Kopf, und er träumt, er ist im Wilden Westen, oder er geht ins Holodeck und gerät dort in eine Wildwestgeschichte, und der Computer spielt verrückt und lässt ihn nicht mehr aus dem Holodeck heraus!
— Wen? fragte Elke.
— Worf und Alexander, sagte Robert.
— War das nicht Picard? fragte Cordula.
— Ah, hör mir auf mit dem! Der hat einen französischen Namen und wirkt deswegen europäisch, weltklug und weise, aber natürlich alles aus amerikanischer Sicht, was das Ganze wieder dumm und verlogen macht. Außerdem spielt er Flöte.
— Schwuchtel, sagte Willi.
— Dieses Holodeck, sagte Robert, das ist natürlich auch so eine Sache, Hologramme kann man ja nicht anfassen, und trotzdem führen sie Operationen an Menschen durch, das ist ja, also das ist –
— Sagt mal, ist es schlimm, wenn ich jetzt total ausgestiegen bin? fragte Elke.
— Nein, sagte Robert, es ist nicht schlimm, aber ich verstehe nicht, wie man da aussteigen kann, ich rede von Fernsehserien, nicht von Kunst, also müsste es dir doch etwas bedeuten, oder? Das Thema. Ich meine, an sich.
— Nun ja …
— Nimm MacGyver. Ihm fällt in einer Folge ein Blumentopf auf den Kopf, und er erwacht im Wilden Westen. Das halten die für eine folgerichtige Plotentwicklung.
— Irgendwer noch Salat? fragte Cordula.
Elke schüttelte den Kopf, ihr Gesicht so verdutzt wie das eines Säuglings, der zum ersten Mal Schmerzen spürt.
— Aber ihr habt den Salat nur von einer Seite gegessen, die Gurken liegen hier links und sind noch total unberührt.
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