Ohne nachzudenken, erzählte ich ihr von einem Duell, über das ich vor Kurzem gelesen hatte. Es fand Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Paris statt, zwischen zwei tollkühnen Herren, Monsieur de Grandpré und Monsieur Le Pique, um die Gunst von Mademoiselle Tirevit, einer bekannten Tänzerin. Die Kontrahenten stiegen damals mit zwei Ballonen rund 700 Meter hoch über die Tuilerien und schossen abwechselnd auf die gegnerische Ballonhülle. Grandpré gewann, Le Pique stürzte mit seinem Ballon (und seinem Sekundanten an Bord) auf ein Hausdach und starb.
— Er hat sich letztes Frühjahr auf das Dach gestellt, sagte Frau Stennitzer.
— Und dann hat sich die Tirevit —, begann ich. Entschuldigung, was?
— Er. Er ist hinaufgestiegen.
— Ihr Sohn?
Sie nickte.
Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Ballon-Anekdote überhaupt nicht zum Thema passte.
— Ja. Und dann, als er dort oben war … ach, es war eine unheimlich … (sie formte mit ihren Händen einen unsichtbaren Schneeball) … eine unheimlich kompakte Zeit damals, wissen Sie? So, als könnte man nicht mehr herauskommen, sondern sich nur noch enger darin verstricken, wenn man … na ja.
— Wollte er sich etwas antun?
Sie zuckte die Achseln:
— Weiß keiner. Nicht einmal er selbst, wie es scheint. Später hat er gesagt, er kommt halt nicht so viel raus. Vor die Tür.
Ich sagte nichts.
— Er ist dann wieder allein runtergestiegen, sagte Frau Stennitzer. Irgendwann. Ist wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich. Der Körper wird müde. Er ist heruntergekommen, und wir haben geredet, den ganzen Tag haben wir geredet … und ich hab ihn umarmt, obwohl er das … na ja, obwohl natürlich … ach, ich weiß nicht, wohin das noch alles führen wird, wissen Sie? Ich meine, seit letztem Sommer kommen immer wieder Jugendliche aus dem Ort herauf und stellen sich vor sein Fenster.
— Sie stellen sich vor sein Fenster?
— Ja, klettern bei uns über den Zaun, Sie haben ihn ja gesehen, da kommt jeder leicht drüber, mit ein bisschen Anlauf.
— Und was machen sie dann bei ihm?
— Aushalten, sagte sie, und ihre Stimme war nun so weit entfernt, als käme sie aus einer Raumkapsel. Sie halten aus, stehen da, in einem Kreis. Manchmal sogar mit einem Radio. Und halten aus.
— Halten aus? wiederholte ich dumm.
— Mutprobe.
Die Raumkapsel entfernte sich noch weiter.
— Sie trinken Bier aus Dosen, die sie dann überall im Garten liegenlassen, sagte Frau Stennitzer. Sonst lassen sie nichts zurück.
— Und was sagen sie, wenn Sie sie verscheuchen?
— Das ist ja das Problem, sagte Frau Stennitzer und blickte zur Decke. Sie sagen, okay, wir gehen, aber der Typ hier am Fenster möchte gern, dass wir bleiben.
— Christoph?
— Ja, er … er sitzt am Fenster und redet mit ihnen. Während sie schwitzen und in die Büsche kotzen, es ist einfach so widerlich, ich könnte ihn dann jedes Mal ohrfeigen!
— Also sind es seine Freunde?
— Freun—! Nein, es sind … Nein, warum sagen Sie so etwas?
— Entschuldigen Sie, aber es hört sich so an, als wären es Jugendliche, die zu Ihrem Sohn kommen und mit ihm … na ja, abhängen.
— Sie nutzen ihn aus! Sie kommen, um zu sehen, wie lange sie’s bei ihm aushalten. Mein Gott, ich könnte ihn ohrfeigen, jedes Mal, das schwöre ich Ihnen, aber ich bringe es einfach nicht über mich.
— Sie zu vertreiben? fragte ich, da mir unklar war, worauf sich ihr Satz eigentlich bezog.
— Genau, sagte sie mit ihrer Raumkapselstimme. Er kriegt auf diese Art ein bisschen Kontakt. Aber dass es böse Menschen sind, die sich mit ihm nur aus egoistischen Motiven abgeben? Das begreift er nicht. Nein, dafür ist er zu … na ja, zu wenig welterfahren, würde ich sagen.
— Wie sollte er auch, setzte sie bitter hinzu.
Und als ich immer noch nichts sagte, fluchte sie:
— Warum können sie nicht Abstand halten, dieses Gesindel?
Ich erinnerte mich daran, gelesen zu haben, dass Menschen, die auf dem Mount Everest höhenkrank werden und nicht mehr weitergehen können, oftmals nicht gerettet werden. Auf hohen Bergen halten die Menschen Abstand zueinander. Manchmal steigen andere Alpinisten an den verwirrten und halluzinierenden Kollegen, die im Schnee sitzen oder liegen, vorbei und berichten hinterher davon. An David Sharp, der 2006 auf dem Mount Everest im Sterben lag und um Hilfe bettelte, gingen schätzungsweise vierzig Bergsteiger vorüber. Dieses Bild brachte mich auf eine bekannte Schriftstellerin aus meiner Heimatstadt, die schon seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht hat, aber dennoch hin und wieder zu einer Lesung eingeladen wird. Unmittelbar nachdem sie ihren Text vorgetragen hat, entschuldigt sie sich meist bei den Zuschauern mit dem Hinweis, dass sie eine vielbeschäftigte Autorin sei, und geht eilig davon, während die anderen Autoren, die zusammen mit ihr lesen (sie wird niemals allein irgendwohin eingeladen, denn es käme wahrscheinlich niemand), zurückbleiben und bis zum Ende der Veranstaltung ihre Kollegen mit ihrer Anwesenheit beehren. Einmal wollte es der Zufall, dass ich von einer dieser Lesungen, die noch dazu unter freiem Himmel stattfand, ebenfalls früher gehen musste. Da sah ich sie, wie sie in großer Entfernung, praktisch unsichtbar für die Zuschauer, reglos verharrte, die Schultern hochgezogen und das Sommerkleid locker an ihrem Körper hängend, als stünde sie an einem Meeresufer. Sie musste dort schon über eine halbe Stunde lang gestanden sein, in Betrachtung der Sphäre ihrer Kollegen, aus der sie sich jedes Mal, kaum hatte sie sie betreten, sofort wieder verabschiedete.
*Stark gekürzt erschienen in: National Geographic (Deutsche Ausgabe), Februar 2007.
Interview mit den Jugendlichen
Verwirrt hatte ich mich von Frau Stennitzer verabschiedet und ging, wie ich hoffte, in Richtung Hotel, um mich auszuruhen. Meine Gedanken wanderten ständig davon, und ich bemerkte überall Dinge, die mir um vieles interessanter erschienen als der eigentliche Grund meines Besuches in dem Ort. Ich brachte es sogar fertig, mich in den wenigen Straßen und Gassen zu verlaufen, und mehrere Male musste ich an einer Mauer, die ich noch nie gesehen hatte, umkehren. Ich versuchte, meine Freundin zu erreichen, aber ich befand mich gerade in einer jener räumlichen Verschnaufpausen, die man Funkloch nennt; das Handy hatte nur noch sich selbst, streckte seine unsichtbaren Fühler in die Luft, erreichte aber niemanden damit.
Es dauerte ein wenig, bis ich auf den Hauptplatz von Gillingen kam. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich fast eine Dreiviertelstunde durch den Ort marschiert war.
Dann sah ich sie. Drei Jugendliche, zwei davon glatzköpfig, so wie in Frau Stennitzers Beschreibung. Sie kamen gerade durch die Tür des Wirtshauses, zwei ältere Burschen und ein fünfzehn oder sechzehn Jahre altes Mädchen, das wahrscheinlich die landbevölkerungstaugliche Variante von Goth repräsentieren sollte. Die Burschen überragten sie fast um einen ganzen Kopf.
Sie blieben stehen, schauten mich kurz an. Dann gingen sie weiter. Ich folgte ihnen in deutlichem Abstand, ohne Eile. Einige Male musste ich stehen bleiben und im Schutz irgendeiner sonnenbeschienenen Hausmauer verschnaufen. Um meine plötzliche Angst, die unmerklich während meines Irrgangs durch den Ort gewachsen war, zu betäuben, stellte ich auf meinem iPod Monk’s Mood von Thelonious Monk in Endlosschleife ein und versuchte, ganz normal und gleichmäßig mit den Akkorden zu atmen. Schließlich holte ich die Jugendlichen an einer Brücke ein. Hier standen keine Häuser mehr, das ging schnell in dieser Gegend, ein unachtsamer Schritt, und man steht im Niemandsland, das man sonst nur aus Zugfenstern zu sehen bekommt. Schief aus dem Boden wachsendes, leidenschaftslos und uninteressiert wirkendes Gras, halb asphaltierte Straßen und jede Menge seltsame Gerätschaften, die am Wegrand stehen, noch nicht Natur, aber schon nicht mehr Zivilisation.
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