— Woran denkst du?
Cordula legte ihm von hinten einen Finger auf den Kopf und fuhr die Schädelnaht entlang, in improvisierten Zickzacklinien. Wie der Tonabnehmer einer Grammophonnadel.
— Warum fragen das Frauen immer? antwortete er.
Robert zog ein T-Shirt an, auf dem Dingo Bait stand. Eigentlich war das Hemd ein Weihnachtsgeschenk für Cordula gewesen, aber als sie es ausgepackt hatte, war sie entsetzt gewesen. Er erklärte ihr, dass es als Spaß gemeint war, dass er kein Problem mit dem Begriff habe, solange er nicht abwertend gebraucht werde und so weiter, sicher länger als eine Stunde hatte er auf sie eingeredet, aber sie hatte darüber immer noch nicht lachen können. Dann hatte sie es probeweise angezogen, war damit ein paar Schritte gegangen und hatte es sich so schnell wieder vom Leib gerissen, dass ihr die Brille aus dem Gesicht flog.
— Ach, Cordula …
— Ich will das nicht tragen. Was glaubst du, was meine Kollegen in der Firma sagen, wenn ich damit herumlaufe.
— Du müsstest es doch nicht zur Arbeit tragen, wenn da lauter humorlose Trottel sind, aber zumindest –
— Robert, es tut mir leid.
Und natürlich kamen dann die zitternde Oberlippe und der schuldbewusste Blick zu Boden, weil Weihnachten war, die heilige Zeit, in der es immer wunderbar harmonisch zugehen musste, und jetzt hatte sie ein Geschenk von ihm abgelehnt und dadurch den Weihnachtsfrieden zerstört, ja, genau diese Gedanken waren mit Sicherheit durch ihren kleinen, dummen Kopf gegangen, dachte Robert. Er erinnerte sich noch, wie er ihr das T-Shirt sanft aus der Hand genommen und es selbst angezogen hatte.
Er hatte inzwischen mehrere davon. Die meisten waren albern und hatten mit Australien zu tun, also zum Beispiel I’m a father but I love my dingos. Oder: A dingo ate my government! Oder, ganz simpel: I need a dingo breakfast. Im Internet konnte man auch einige T-Shirts finden, die sich direkt (und total selbstbewusst!) auf das Indigo-Thema bezogen, aber die waren alle unerträglich dumm.
Zu Mittag würden Willi und Elke vorbeischauen. Robert hatte Willi in Berlin kennengelernt. Bei jeder Gelegenheit erwähnte Willi, dass er dort drei Jahre gelebt hatte. Drei Jahre Berlin. Tatsächlich? Drei Jahre? Nicht bloß zwei? Nein, drei. Diese Zahl, verbunden mit der lebendigen Weltstadt, in der jede Nebenstraße geschichtsträchtig war, bildete den innersten Kern seines Wesens. Er hatte dort mit einer Frau zusammengewohnt, die ebenfalls aus Österreich kam und taub war. Sie konnte zwar von den Lippen lesen und auch undeutlich sprechen, aber bald unterhielten sie sich nur mehr in Gebärden, einer Art doppelten Geheimsprache, da ihr Salzburger Gebärden-Dialekt bei deutschen Gehörlosen oft auf Unverständnis stieß und die normal hörenden Menschen auf der Straße sowieso nichts begriffen. Immer wieder hatte Willis Freundin sich über die nutzlos herunterhängenden Arme und Hände der Hörenden amüsiert, wie sie sie lustlos herumtrugen, als wären es gebrochene Windmühlenflügel, zwei lästige Anhängsel, mit denen man nichts anfangen konnte, außer hin und wieder Türklinken niederzudrücken oder ein Taxi herbeizuwinken. Manchmal hatten sie sich einen Spaß daraus gemacht, in alltägliche Gesten, etwa einem harmlosen Winken, einen Fluch einzubauen oder eine obszöne Gebärde. Doch nichts von der gehörlosen Frau war in ihm geblieben, nicht einmal ihren Namen erwähnte er gern, Ilona, das Einzige, was ihm etwas bedeutete, war die Zahl Drei in Verbindung mit Berlin. Je öfter man ihn danach fragte, desto heller und freundlicher wurde sein Tag.
Ein Besuch von Willi war immer gut, Robert war in seiner Gegenwart meist ruhig und entspannt … aber nichts hatte ihn in letzter Zeit so sehr geerdet wie der Affe im medizinisch-technischen Institut der Universität. Er konnte sie immer noch spüren, die Ruhe war wie ein Ankommen, wie ein — ah, er musste aufstehen, gehen, sich bewegen.
Er ging ins Vorzimmer und zerlegte einen Regenschirm in seine Einzelteile.
In Gedanken stellte er sich einen Drill Sergeant vor, der ihn anbrüllte, den Schirm möglichst schnell zusammenzubauen. Verdammt, Private Tätzel! Warum haben Sie den Schirm immer noch nicht fertig! Im Ernstfall wären Sie längst tot, Sie elender Dingo!
Robert lachte.
Cordula fand ihn auf allen vieren, immer noch mit dem Zerlegen des alten Schirms beschäftigt. Sie begrüßte ihn, fragte nicht nach, was er da tat, sondern stieg einfach vorsichtig über ihn und den in leicht verschobenen Reihen, annähernd quincunxartig, angeordneten Teilen hinweg und schlüpfte in die Küche, wo sie die Vorbereitungen für die Snacks und Getränke traf.
— Wo hast du den Weißwein hingetan? fragte sie nach einigen Minuten.
— In der Spüle, sagte Robert ruhig.
— Ah, natürlich, hab ihn nicht gesehen, sagte sie.
— Weißt du, Robin, sagte Robert in Adam Wests deutscher Batman-Stimme. Oft sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht und manchmal nicht einmal den Baum vor lauter Zweigen. Und selbst dann sitzen immer noch Vögel auf dem Baum und zwitschern.
Etwas Zärtlicheres zu sagen war ihm im Augenblick nicht möglich. Cordula verstand und lachte über den Witz.
Wenig später kam Cordula, die alles erledigt hatte, zu Robert ins Vorzimmer, der mehr oder weniger entspannt inmitten der Einzelteile hockte.
— Alles okay bei euch? fragte sie.
Obwohl der fröhliche Ton Robert irritierte — er mochte es nicht, wenn sie Angst vor ihm hatte — , antwortete er leise:
— Ja, alles so weit okay. Ich … ich hab nur versucht, ihn zu reparieren. Er ließ sich nicht mehr aufspannen und …
— Und? Hat’s funktioniert?
Er schüttelte den Kopf.
— Wie geht’s dir, mit …?
— Keine Nachbeben, sagte Cordula und setzte sich neben ihn auf den Boden.


7 IN DER ZONE — 2. Folge von Clemens J. Setz *
Der Kopf
Am nächsten Morgen entdeckte ich in meinem Hotelzimmer eine Tür, die auf einen Balkon führte. Angenehm überrascht, als wäre dieser Zugang dem Raum erst durch meine eigenen Traumanstrengungen über Nacht gewachsen, trat ich hinaus. Es roch nach dem warmen, von jahrelanger Sonneneinstrahlung teerschwarz gewordenen Holz, und ich sah mich einer ungewöhnlich großen und ungewöhnlich schönen Gießkanne gegenüber. Ihr blecherner Kopf war vorgereckt, als wäre sie vor etwas auf der Hut, und als ich sie berührte, gab sie ein helles Scheppern von sich, als hätte sie lange auf diese Erlösung aus der Starre gewartet. Im Gegensatz zu Gießkannen aus Plastik haben solche aus Blech einen unverkennbaren Charakter, eine bestimmte Körperhaltung, die der einer mitten in der Wirbelbewegung auf einem Foto eingefrorenen Balletttänzerin gleicht. Ihr Leib ist zylindrisch und streng, ihre Oberfläche meist rau und angenehm widerspenstig gegenüber der Haut der Handfläche. Fingernägel brechen leicht an ihr ab. Im Inneren der Gießkanne entdeckte ich, als ich sie ins Licht hielt, ein System weißer, fedriger Spinnennetze, und ich ging sofort ins Zimmer zurück, um mein Handy zu suchen und Julia anzurufen und ihr von meinem Fund zu erzählen. Während es klingelte, stand ich neben der Gießkanne und blickte sie an, es klingelte dreimal, viermal, dann legte ich schnell auf, weil mir auffiel, wie unsinnig das war, was ich machte. Es war doch nichts, nur eine Gießkanne mit ein paar Spinnweben darin, auf einem Hotelzimmerbalkon in der Pension Tachler, in diesem schon früh am Morgen sonnig vor sich hin summenden Ort. Der Kirchturm und die Gießkanne hatten fast genau dieselbe Farbe, konnte ich jetzt feststellen. Ich versuchte, mit dem Handy ein Foto von dieser bemerkenswerten Übereinstimmung zu machen, aber es funktionierte nicht, das Gegenlicht tauchte alles auf dem Bild in mitternächtliche Schwärze.
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