— Guten Abend, sagte ich.
Sie erwiderte meinen Gruß und zog sich in den hinteren Bereich der Rezeption zurück, zwischen einige Kisten und Kartons, die dort herumstanden. Sie tat so, als suche sie etwas, und ich weiß nicht warum, aber in diesem Moment konnte ich nicht anders, als ein paar Schritte auf sie zu zu machen.
— Entschuldigung, sagte ich. Meine Hände sind ganz kalt, und meine Fingerspitzen sind praktisch taub. Würden Sie sie vielleicht kurz anfassen?
Sie wich weiter zurück.
— Bitte? sagte sie.
— Meine Hände sind irgendwie … ich weiß nicht, vielleicht habe ich etwas nicht vertragen, eine allergische Reaktion, oder …
— Soll ich den Notarzt rufen? fragte sie, kam aber nicht näher.
— Nein danke, sagte ich und zog die Hände zurück. Es geht schon ein bisschen besser. Wahrscheinlich nur eine Durchblutungsstörung. Hm, komisch …
Das Gesicht der jungen Frau war bleich.
Auf dem Weg zur Treppe hatte ich Mühe, das Grinsen zu unterdrücken. Erst im Zimmer kam das schlechte Gewissen. Ich telefonierte noch ein wenig mit zu Hause, schaltete dann durch ein paar Kanäle, blätterte meine Notizen durch und ergänzte einige Dinge, während ich gegen die leichte Klaustrophobie ankämpfte, die in mir aufstieg.
Zuerst versuchte ich, mich abzulenken, indem ich das Hotelzimmer nach versteckten Kameras und Mikrofonen durchsuchte.
— Ferenc, hallo? murmelte ich, während ich suchte. Calling Ferenc? Ferenc calling!
Dann kontrollierte ich die genaue Räderstellung meines Trolleys und seinen Inhalt. Ich hatte ihn seit meiner Ankunft nicht mehr angerührt, und vielleicht hatte ihn jemand während meiner Abwesenheit durchsucht. Aber alles war an seinem Platz, und ich saß, schwer atmend, am Fenster und schaute in die mit einer prächtigen, gelblichen Mondmedaille ausgezeichnete Nacht. Spät nachts kam die Erlösung: eine Dokumentation über Paare mit Tourette-Syndrom. Ein Pärchen saß auf einer Couch, er hatte den Arm und ihre Schultern gelegt und zischte ihr Beleidigungen zu, Dreckschlampe, Fotze, Sau, und ihre linke Hand wanderte immer wieder in sein Gesicht und an seinen Hals und kratzte ihn mit Fingernägeln, bevor sie sie mit ihrer anderen Hand abfing und festhielt. Wir können im Grunde nie streiten, antwortete der Mann auf die Frage des Interviewers. Alle Schimpfwörter, die es gibt, haben bei uns andere Bedeutungen angenommen. Also wissen wir gar nicht, wie wir das anstellen sollen, das Streiten, haha. Hinterher wurden noch einige Szenen aus dem Alltag des Paares gezeigt. Beim Einkaufen brüllte der Mann ihr wüste Verwünschungen zu, während sie Dinge aus einem Regal warf und gleich wieder aufhob. Leute blieben stehen, schauten in die Kamera, dann auf das seltsame Paar und gingen schließlich weiter. Ich war so begeistert, dass ich im Sitzen auf meinem Bett wippte und in die Hände klatschte.
Besänftigt von dem wunderschönen Bericht, schlief ich ein, ohne Bettdecke, in meiner Straßenkleidung, erwachte aber bald, weil ich wieder von Bild Nr. 242 des Zapruder-Films geträumt hatte. Das passierte mir vielleicht zwei-, dreimal im Jahr, meist, wenn ich auf Reisen war, und immer war es ein furchtbares Erlebnis. Es ist der Augenblick, kurz nachdem Präsident Kennedy von der ersten Kugel in den Hals getroffen wurde. Er fasst sich mit beiden Händen an die verletzte Stelle, wie jemand, der einen klemmenden Reißverschluss zu öffnen versucht. Und er blickt zur Seite auf seine Frau, die ihn beunruhigt, aber auch freundlich und hilfsbereit anblickt: Ja, was gibt es denn? Und er sieht aus, als wollte er sagen: Hier, ich bekomme das nicht auf, kannst du mir bitte helfen? Und gleich wird sie sich ihm nähern und ihn berühren und um Hilfe rufen, bis schließlich die zweite Kugel aus dem Weltall herabsaust und dem Präsidenten den halben Schädel wegreißt. Aber noch ist dieser explosive letzte Einschlag viele, viele Mikrosekunden entfernt. Das Universum steht noch still, getragen vom Blick des tödlich verletzten Mannes, dessen Stimme wahrscheinlich versagt, weil er nicht mehr atmen kann, und er ist eigentlich schon ein Toter, der zu einer Lebenden sprechen will, und sie beide sitzen auf dem Rücksitz eines Wagens, obwohl sie in Wirklichkeit Millionen Kilometer voneinander entfernt sind, er versucht, sich ihr verständlich zu machen, ihr zu erklären, was passiert ist, und sie blickt verständnisvoll und auch etwas besorgt zurück.
In anderen Variationen dieses Traums erschien mir das Bild Nr. 242 auf einer Packung Frühstücksflocken, ein andermal saß ich den beiden eingefrorenen Gestalten in einem Zugabteil gegenüber. Und dann, vor etwa einem halben Jahr, war ich der Verkäufer, der Präsident Kennedy den klemmenden Reißverschluss verkauft hatte, und ich schämte mich dafür so sehr, dass ich Mühe hatte, aus dem Traum zu erwachen.
Sie lebten seit drei Jahren zusammen. Cordula war seit Herbst gut eingestellt, das heißt, die Medikamente hatten sich in ihr niedergelassen und eine provisorische, aber immerhin funktionsfähige Übergangsregierung gebildet.
Robert hatte das Porträt des Affen, das Cordula so entsetzt hatte, inzwischen in seinen Schrank geräumt. Ein wenig gefiel ihm die Vorstellung, dass er es als Geheimwaffe zur Verfügung hatte, ein letzter Strohhalm, den er ergreifen konnte, wenn alle anderen Mittel nicht mehr … Er schüttelte den Kopf und verscheuchte den sonderbaren Gedanken. Strohhalm?
Als er am Abend nach dem Zähneputzen am Spiegel im Vorzimmer vorbeikam, schnitt er lautlos Affengrimassen und kratzte sich mit den Händen unter den Achseln. Cordula hatte eine halbe Zolpidem genommen, tatsächlich nur eine halbe Tablette, was eigentlich nur sehr, sehr müde machte und nicht vollkommen betäubte, weil sie sich so suggerieren konnte, dass sie tapfer war und es im Prinzip auch ohne schaffen würde, durch die Nacht zu kommen. Außerdem war es schon passiert, dass sie, wenn sie beispielsweise zwei Zolpidem nahm und wie mit einem Hammer erschlagen ins Bett fiel, am nächsten Tag nicht aufstehen konnte, um zur Arbeit zu gehen. Auch war es im Krankenhaus einmal vorgekommen, dass sie sich in der Betäubungsnacht vollgepinkelt hatte.
— Wie geht’s dir? flüsterte er (obwohl ihm, aus irgendeinem Grund, eher danach war, laut und falstaffartig zu deklamieren).
— Hm, machte sie. Mir peinlich. Immer so schnell, der Trigger, die …
Die halbe Zolpidem hatte gewirkt. Dabei sollte man das Mittel bei Panikattacken gar nicht einnehmen. Dann schon eher Lexotanil oder Xanor. Diese komischen Medikamentennamen, wie Zaubersprüche aus Fantasyromanen. Wie von Kindern erfunden.
— Ich hab das Bild in ein Tuch gewickelt und in meinen Schrank gestellt. Nur damit du weißt, wo es ist. Du musst keine Angst mehr davor haben.
Als sie darauf nichts antwortete, sagte er (und ließ in Gedanken eine Szene aus dem japanischen Film Tetsuo ablaufen, in der sich der wahnsinnige Mann ein Stahlrohr in den Schenkel schiebt):
— Das Bild ist sowieso nicht so gut. Künstlerisch, meine ich. Nicht wirklich geglückt.
Cordula nickte schwach. Sie schien einzuschlafen.
— Weißt du, was ich mir überlegt habe? fragte er sie laut.
Sie schaute auf, war wach, aber nicht wirklich da. Dann raffte sie ihr Bewusstsein, das schon mit den Zehen in dem angenehmen Unsinn gestanden war, in den es sich jeden Abend auflösen durfte, noch einmal zusammen, vielleicht aus Höflichkeit ihm gegenüber, vielleicht auch aus einem vor lauter Erschöpfung laut und eindimensional gewordenen Schuldgefühl, und sagte:
— Was denn?
Robert wusste, dass es der letzte Augenblick war, um aufzuhören. Sag einfach, ach nichts, reden wir morgen darüber, das kann wirklich warten, bis es dir bessergeht. Sag einfach nichts mehr. Sag einfach: Du bist diesmal wirklich gut mit der Angstattacke umgegangen, weißt du das? Ich bin stolz auf dich. Und du hast nur eine halbe Zolpidem gebraucht, wirklich unglaublich.
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