— Möchtest du … dass ich dir ein frisches Hemd bringe?
Robert blickte an sich herunter.
— Es ist nicht, was du denkst, sagte er.
— Klar, okay, sagte Cordula und drehte sich etwas zur Seite.
— Hör auf, sagte Robert.
— Womit?
— Hör auf, vor mir Angst zu haben. Das macht mich total nervös.
Er hörte ein klatschendes Geräusch und wandte sich um.
— Ich hab nur eine Mücke auf meinem Arm zerquetscht, sagte Cordula und hielt ihren Arm hoch. Da.
— Ist ja schon gut, sagte Robert. Du musst mir nicht …
Dann wurde ihm klar, was für ein Bild er abgab. Während Gäste im Nebenzimmer saßen, stand er in seinem Schlafzimmer und hielt seinen Wutpolster in der Hand. Seinen Wutpolster. Wie ein Baby. Er überlegte sich, ob er sich ganz nackt ausziehen sollte, einfach um den Sender zu wechseln, aber dann entschied er sich dagegen. Cordula ging aus dem Zimmer und brachte ihm ein neues Hemd, das frisch vom Wäscheständer kam. Der Geruch war beinahe zu viel für Robert. Mit geschlossenen Augen zog er sich an und legte sich dann aufs Bett.
Als sie sich wenig später zu ihm setzte, sagte er:
— Gillingen. Da gibt’s eine weltberühmte Seilbahn, hast du das gewusst?
Cordula zeigte ein freundliches Lächeln, das ihm zugleich keck und unterwürfig vorkam. Er sah sie stumm und ernst an, bis sie sagte:
— Wann fährst du denn hin?
Er drehte sich zur Wand.
— Du, ich hab da was für dich, schau mal.
Robert gab ein Grunzen von sich und legte dann den Polster auf sein Gesicht.
— Clemens Jo… was heißt das? Jodokus …
Sie tippte die Zeitung an. Das Bild wurde schärfer.
— Clemens Johann Setz? Kennst du den?
Der Polster fiel auf den Boden, als Robert sich aufsetzte.
— Was?
— Sagt dir der Name was?
— Das war mein Mathelehrer. Wieso?
— Da, schau.
— Ist er tot?
— Nein, er ist hier … ach, schau selbst.
Sie gab Robert die Zeitung. Er vergrößerte das Bild mit Daumen und Zeigefinger. Die Zeitung zirpte. Ein lachendes Gesicht erschien, bebrillt, fettiges Haar. Sah genauso aus wie damals. Nur ein bisschen runder. Die Augen eine Spur eulenhafter. Und die Augenbrauen immer noch dabei, langsam zusammenzuwachsen.
— Scheiße, sagte Robert, als er den Text überflog.
Freispruch im Prozess um den gewaltsamen Tod eines Mannes aus Rumänien. Hielt jahrelang seine Hunde in einem Verlies. Schwere Misshandlung. Tod durch langsames Abziehen der Haut. Hauptverdächtiger Setz seit heute auf freiem Fuß. Die Verwandten des Opfers, ein kleines Bild. Traurig dastehende Menschen. In den letzten Jahren vor allem Science-Fiction-Romane, Abkehr von der Belletristik. Heute als freier Schriftsteller in der Nähe von –
— In dem Artikel steht, dass er bei euch an der Schule gearbeitet hat, begann Cordula.
Robert unterbrach sie:
— Weißt du was? Den haben sie rausgeworfen, weil er ständig betrunken in den Unterricht gekommen ist. Man hat es ihm überhaupt nicht angemerkt, aber hinterher hat das durchaus Sinn ergeben, er war immer sehr nervös, ist nie beim Thema geblieben, hat oft nur herumgequatscht, stundenlang …
— Und jetzt ist er anscheinend freigesprochen worden, sagte Cordula.
— Er hat einem Tierquäler die verdammte Haut abgezogen?!
— Nein, eben nicht, er hat –
— Fuck!
— Er ist heute freigesprochen worden.
— Scheiße, der war mal bei uns zu Hause auf Besuch! sagte Robert. Das war kurz nach … Aber weißt du was? Das war total schräg, ich meine, sein Verhalten. Er war total hinüber, ich meine, vollkommen weggetreten. Meine Eltern haben ihn eingeladen, weil er … ach, was weiß ich, der war so ein komisches Viech …
Robert war in eine unangenehme Traube von Erinnerungen gefallen. Quallennest.
— Er war bei euch in Raaba?
— Meine Mutter hat zuerst Angst gehabt, dass er vollkommen betrunken bei uns aufkreuzen wird. Und du weißt, wie allergisch sie auf so was reagiert.
Cordula nickte:
— Ach du liebe Zeit, ja. Silvester.
— Seit 2007 Reportagen, murmelte Robert, der die biografischen Angaben des Lehrers in einem Kästchen vergrößert hatte und sie Zeile für Zeile ablas. National Geographic. Was zum Teufel ist das?
Cordulas Gesicht sagte ihm, dass er wieder mal gegen seinen Gapgerannt war. Allgemeinwissen. Dingo-Delay.
— Die Haut, sagte er. Die verdammte Haut abgezogen! Das ist vielleicht ein kranker Scheiß!
— Na ja, hier steht zumindest …, begann Cordula noch einmal von vorn.
Aber dann gab sie es auf.
Robert las weiter.
Die Zeilen des Interviews waren kaum mehr als Leitersprossen, an denen er sich mit den Augen festhalten konnte, während sein Gehirn seine eigenen Wege ging. Er sah den Tag im Herbst 2006 wieder vor sich, die erzwungene Höflichkeit seiner Eltern, die in beschleunigter Konversation zugebrachten sechs Minuten (damals noch: gesegnete 360 Sekunden).
Er erinnerte sich an das Gespräch und wie sinnlos es sich angefühlt hatte, den Besucher mit Herr Professor anzureden. Er war es ja nicht mehr. Rausgeworfen, betrunken im Dienst. Und dann der Scheiß, den er geredet hatte! Und jetzt das! Ein brutaler Mörder, der freigesprochen wurde. Jesus, Maria und Josef.
Hunde, Hunde — Roberts Augen weiteten sich. Er sah die Szene wieder vor sich. In seinem Zimmer, im Haus in Raaba. Die Vorhänge zugezogen. Und der irre Lehrer hielt einen seiner unzusammenhängenden Monologe über was weiß ich was:
Ich meine, es gibt doch viele, die nicht rausgehen können, und von denen bist du noch einer der Glücklichsten, Robert. Die anderen haben dich schlecht behandelt. Aber du kannst gehen, wohin du willst. Ins Ausland. Oder auf die Bühne. Du könntest Artist werden, Künstler. 1999 hat ein Schwertschlucker in Bonn versucht, einen Regenschirm zu schlucken. Er hat aus Versehen den Öffnungsknopf betätigt und ist gestorben. Wenige Jahre später hat ein Kanadier den Stunt wiederholt und ist ebenfalls gestorben. Und ein anderer Schwertschlucker hat sich nach der Vorstellung vor der klatschenden Menge verbeugt und erlitt dabei (Robert konnte sich immer noch an den eigenartigen Wechsel ins Präteritum erinnern, wahrscheinlich der Punkt, als der vorher auswendiggelernte Text vom Mathelehrer Besitz ergriff) schwere innere Verletzungen. Ein anderer ging ein paar Schritte und fiel, mit dem Schwert in der Kehle, von der Bühne.
Okay, Robert hatte darüber lachen müssen. Es war witzig. Aber warum dieser Freak überhaupt darauf gekommen war, keine Ahnung.
Aber Sie sagen dann einfach, wann Sie kurz rausgehen müssen, hatte er gesagt.
Der Wink mit dem Zaunpfahl. Professor Setz verstand ihn nicht.
Was ist denn das? fragte er und deutete auf ein kleines Poster, das in Roberts Zimmer direkt über dem Bett hing.
Das?
Ja.
Ein Weltraumhund.
Das Gesicht des Professors verfinsterte sich.
Robert stand vom Bett auf.
Direkt im Satelliten aufgenommen. Belka. Der Hund war damals total weit oben, fast in der Exosphäre und … na ja, und da haben sie das Bild gemacht, glaube ich …
Der Mathelehrer machte einen Schritt zurück und ging wortlos aus dem Zimmer. Hey, dachte Robert, das waren keine sechs Minuten. Schwuchtel. Weichei. Er setzte sich die Kopfhörer auf und hörte in voller Lautstärke Whitehouse , das Album Great White Death, ein absolutes Meisterwerk. Sein Bewusstsein löste sich in Lärm und Geschrei auf, wurde weich und durchlässig wie eine Membrane …
Was ihn wieder zurück auf die Erde holte, war sein Handy, das kurz aufleuchtete. Eine SMS — von seiner Mutter, die im Nebenzimmer saß! Vergiss nicht den Auflauf, schrieb sie. Himmel, Arsch und Tschernobyl! Als könnte ein sonderbarer Tag, an dem ein sonderbarer Mensch einen höchst sonderbaren Besuch gemacht hat, nicht noch sonderbarer werden. Aber ja, scheiß drauf, esse ich halt den Auflauf. Was soll’s. Mittanzen in dem absurden Kasperletheater.
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