— Ach was, mitnehmen, sagte Charlotte und hatte im selben Moment die Idee, dass man das abgestürzte Buffet vielleicht lieber fotografieren sollte, bevor Lisbeth es wegräumte.
Allerdings klingelte es jetzt. Wer klingelte denn um diese Uhrzeit? Ärgerlich, dachte Charlotte, man kam rein zu gar nichts! Wütend stapfte sie durch die Diele und riss die Haustür auf.
— Taxi, sagte der Mann.
— Danke, das hat sich erledigt, sagte Charlotte und wollte die Tür wieder schließen, aber der Taxifahrer bestand auf einer Anfahrtspauschale.
Anfahrtspauschale, dachte Charlotte. Das wird ja immer schöner.
Aber sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit dem Taxifahrer herumzustreiten. Sie drückte ihm zehn Mark in die Hand. Und ehe der Mann das Wechselgeld herausgekramt hatte, verlor sie die Geduld und schloss die Haustür.
Rasch ging sie in den Salon und befahl Lisbeth:
— Schluss jetzt!
Noch immer war von Lisbeth nur der Hintern zu sehen. Allmählich kam es Charlotte vor, als spräche sie mit Lisbeths Hintern.
— Lotti, das geht nicht, sagte Lisbeth. Wir können das nicht einfach liegenlassen!
— Wir haben jetzt wirklich Wichtigeres zu tun, sagte Charlotte. In der Küche steht noch das ganze Geschirr. Und der Abendtee für Wilhelm muss auch allmählich aufgebrüht werden, sonst beschwert er sich wieder, dass er zu heiß ist.
— Das Geschirr mache ich nachher noch, sagte Lisbeth, und den Tee kannst du doch rasch aufbrühen, eh ich hier hoch bin.
— Selbstverständlich, sagte Charlotte. Entschuldige! Ich hatte vergessen, dass du hier die Hausherrin bist!
Wütend stapfte sie in die Küche, schloss die Tür. Drehte vorsichtshalber den Schlüssel um. Horchte.
Ihr Atem rasselte.
Niemals, dachte Charlotte, hätte sie dieser Frau das Du anbieten dürfen. Kein Respekt, kein gar nichts. Tanzte ihr auf der Nase herum. Machte, was sie wollte … Wenn Wilhelm mal aus dem Haus ist, dachte sie, fliegt Lisbeth raus.
Sie umschloss das Fläschchen in ihrer Hosentasche fest mit der Hand und zählte bis zehn. Dann befüllte sie den Pfeifkessel und stellte ihn auf den Gasherd.
Seltsamerweise stand die Tür zum ehemaligen Dienstbotenflur schon wieder offen. Auch hatte jemand vergessen, das Licht auf der Kellertreppe auszuschalten. Ein schwacher Schein ließ auf jener Tür, die Wilhelm vor fünfunddreißig Jahren vermauert hatte, die Konturen der Ziegelsteine hervortreten … Rasch schaltete sie das Kellerlicht aus und schloss die Tür zum ehemaligen Dienstbotenflur.
Wenn Wilhelm mal aus dem Haus ist, dachte sie, kommt die Tür wieder auf. Idiotisch, das alles! Die Personalklingel hatte er auch abgeschafft, gleich als Erstes damals: weil es gegen seine proletarische Ehre verstieß! Aber sie durfte sich die Kehle wund schreien, wenn Lisbeth wieder irgendwo im Haus herumstreunte. Das verstieß nicht gegen seine proletarische Ehre. Sie war schließlich auch bereits sechsundachtzig! Zählte das nichts? Sie war auch bereits zweiundsechzig Jahre in der Partei! Sie war Institutsdirektorin geworden mit vier Jahren Haushaltsschule! Zählte das alles nichts? Zählte nur Wilhelms proletarische Ehre?
Sie ließ sich auf den Schemel fallen und lehnte sich mit dem Hinterkopf an die Wand. Der Pfeifkessel begann zu säuseln.
Auf einmal fühlte sie sich sehr schwach.
Sie schloss die Augen. Das Wasser im Kessel begann zu knistern, zu puckern … gleich würde sich ein leises Zischeln daruntermischen, sie kannte die Abfolge der Geräusche genau. Hunderte, Tausende Male hatte sie neben dem Pfeifkessel gesessen, hatte dem Geflüster des Wassers zugehört, und ihre Mutter hatte ihr mit dem Stullenbrett auf den Hinterkopf geschlagen, wenn am Ende auch nur der Ansatz eines Pfeifens zu hören gewesen war: Gas sparen, damit ihr Bruder studieren konnte. Dafür hatte sie den Pfeifkessel bewacht, und das Komische war, nun war sie sechsundachtzig, ihr Bruder war lange tot, und sie saß immer noch hier und bewachte den Pfeifkessel … Warum, dachte sie, während das Zischeln allmählich in ein gleichmäßiges Rauschen überging, warum war sie es immer, die den Pfeifkessel bewachte … während andere studieren durften … während andere den Vaterländischen Verdienstorden bekamen …
Das Rauschen setzte aus, ging in ein dumpfes Brodeln über. Charlotte stand auf und drehte das Gas ab, genau in dem Moment, als der Pfeifkessel im Begriff war, zu pfeifen. Mechanisch goss sie Wilhelms Abendtee auf, holte die Baldriantropfen aus dem Putzmittelschrank unter der Spüle. Gab einen Esslöffel davon in den Tee. Steckte die Baldriantropfen in die Hosentasche … stutzte. Hatte plötzlich zwei Fläschchen in der Hand: Beide gleich groß, kaum zu unterscheiden …
Aberwitziger Gedanke. Charlotte nahm die Baldriantropfen aus der Hosentasche, stellte sie zurück in den Schrank und machte sich wieder an die Arbeit.
Lisbeth hockte noch immer unter dem Tisch.
— Du hockst ja noch immer unter dem Tisch, sagte Charlotte.
Lisbeths Hintern bewegte sich unendlich langsam unter dem Tisch hervor. Sie zog einen Eimer mit Scherben hinter sich her sowie verschiedene Behältnisse, in denen sie noch verwertbare Reste gesammelt hatte.
— Hast du noch ein paar Plastebehälter mitgebracht? fragte sie. In der Hand hielt sie ein Würstchen.
— Ach was, Plastebehälter, sagte Charlotte. Das kommt auf den Müll.
— Das kommt nicht in den Müll, sagte Lisbeth und biss in die Wurst.
Charlotte betrachtete Lisbeths kauendes Gesicht. Lisbeths Unterkiefer bewegte sich halb seitwärts, mahlend, wie der eines Wiederkäuers … Eine Weile sah Charlotte zu, wie sich Lisbeths Unterkiefer bewegte. Dann nahm sie ihr das Würstchen aus der Hand und warf es auf den Trümmerhaufen, der vom kalten Buffet übrig war. Nahm noch zwei von den Behältern, in denen Lisbeth Reste gesammelt hatte, und warf sie hinterdrein.
— Was machst du denn da, rief Lisbeth und hielt ihre Hände schützend über die restlichen Behälter.
Charlotte nahm den Eimer mit Scherben und kippte ihn ebenfalls aus.
— Was machst du denn da! — Jetzt war es Wilhelms Stimme.
— Du halt dich raus, sagte Charlotte. Du hast heute genug Schaden angerichtet.
— Wieso ich, sagte Wilhelm. Das war der Zenk.
— Ach, der Zenk war das! Charlotte lachte vor Wut: Jetzt war es der Zenk! Ich habe dir gesagt, du sollst die Finger von dem Ausziehtisch lassen!
— Jaja, sagte Wilhelm. Das macht Alexander. Und, wo ist er, dein Alexander?
— Alexander ist krank.
— Papperlapapp, sagte Wilhelm. Politisch unzuverlässig.
— Jetzt red keinen Unsinn, sagte Charlotte.
— Politisch unzuverlässig, wiederholte Wilhelm. Die ganze Familie! Emporkömmlinge, Defätisten!
— Es reicht, sagte Charlotte. Aber Wilhelm war nicht zu bremsen.
— Da! — Er lachte, zeigte auf das Etikett, das an ihrer Strickjacke klebte. Da haben wir’s doch, krähte er. Läufst noch Reklame für den Verräter! … Und dann bellte er plötzlich. Legte den Kopf in den Nacken und bellte die Decke an: Tschow, bellte Wilhelm, tschow-tschow, und im Augenblick, als Charlotte beschloss, ihn tatsächlich für verrückt zu halten, schaute er sie mit vollkommen klarem Blick an und sagte:
— Die wussten schon, warum.
— Warum was , fragte Charlotte.
— Warum sie solche Leute weggesperrt haben, sagte Wilhelm und fügte nach einer Pause hinzu: Solche wie deine Söhne.
Charlotte atmete ein, konnte auf einmal nicht ausatmen … Sah Wilhelm an … Sein Schädel glänzte, die Augen blitzten in dem höhensonnengebräunten Gesicht … Der Bart — war er schon immer so klein gewesen? — hüpfte auf Wilhelms Oberlippe umher, ein Bärtchen, kaum größer als ein Insekt. Hüpfte, kreiste, summte vor ihren Augen … Dann war Wilhelm verschwunden. Nur seine Worte waren noch da, genauer gesagt, seine letzten Worte.
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