Bedauerlich! Ihr Ein und Alles! Ihr Arbeits- und Schlafraum! Ihr Rückzugsgebiet! Ihr kleines Stück Mexiko, das sie sich über die Jahre bewahrt hatte — vernichtet. Nun stieg sie mehrmals täglich die vierundvierzig Stufen zum Turmzimmer hinauf, wo der Wind durch die Ritzen pfiff, wo sie, in Decken eingehüllt, am Schreibtisch sitzen musste. Wo es an heißen Tagen nach Staub und Dachbalken roch — ein Geruch, der sie auf demütigende Weise an den Geruch in der Kammer erinnerte, in die ihre Mutter sie zur Strafe einzusperren pflegte.
Schon beim Gedanken daran begann ihr Atem zu rasseln. Sie überlegte, ob sie doch noch einmal zehn Tropfen Aminophyllin nehmen sollte. Allerdings hatte sie heute bereits zwei Mal Aminophyllin genommen, und seit Doktor Süß ihr gesagt hatte, dass eine Überdosis zur Lähmung der Atemwegsmuskulatur führen konnte, hatte sie ständig Angst, ihr Atem könnte stehenbleiben, plötzlich, in der Nacht, könnte sie aufhören zu atmen. Sie könnte aufhören, da zu sein, ohne es selbst zu bemerken … Nein, den Gefallen würde sie Wilhelm nicht tun. Noch war sie da , und sie war entschlossen zu bleiben . Sie hatte noch einiges vor — wenn Wilhelm mal aus dem Haus war. All die Dinge, von denen Wilhelm sie abhielt: leben, arbeiten, reisen! Einmal noch nach Mexiko … Ein einziges Mal die Königin der Nacht blühen sehn …
Jetzt kam es ihr vor, als hätte es an der Tür gekratzt. Oder war das ihr Atem? Charlotte rührte sich nicht von der Stelle. Sie schaute, ob die Klinke der Küchentür sich bewegte, aber stattdessen … sie erschauerte: Langsam, sehr langsam öffnete sich die Tür zum Dienstbotenflur, die sie eben geschlossen hatte, und es erschien, schwach angeleuchtet vom Kellertreppenlicht … etwas Entsetzliches … Krummes … mit abstehenden Haaren …
— Nadjeshda Iwanowna, rief Charlotte. Haben Sie mich erschreckt!
Es stellte sich heraus, dass Nadjeshda Iwanowna ihren Mantel gesucht und sich dabei im Keller verirrt hatte. Tatsächlich hatte Charlotte angewiesen, die Mäntel in den Keller zu bringen, weil die Garderobe ja voller Blumenvasen stand. Allerdings hatte Lisbeth die Mäntel wieder nach oben gebracht, als die Leute gingen. Nur Nadjeshda Iwanowna hatte ihren Mantel nicht bekommen, also musste er wohl noch im Keller sein, aber im Keller war er nicht, sagte jedenfalls Nadjeshda Iwanowna, und allmählich begann die Sache Charlotte auf die Nerven zu gehen. Sie hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als sich um den Mantel von Nadjeshda Iwanowna zu kümmern!
Aber dann hing der Mantel auf einmal in der Garderobe. Einen Augenblick überlegte Charlotte, ob sie Lisbeth zur Rede stellen sollte: Wieso in der Garderobe? Stattdessen riss sie den Mantel vom Haken, hielt ihn Nadjeshda Iwanowna hin.
— Wo ist eigentlich Kurt, fiel ihr ein. Warum hat er Sie nicht gleich mitgenommen?
— Ne snaju, sagte Nadjeshda Iwanowna: Weiß ich nicht.
Dann suchte sie ihren Ärmel, zuerst einen, dann den anderen, legte sich den Schal zurecht, knöpfte, während Charlotte von einem Fuß auf den anderen trat, Knopf für Knopf ihren Mantel zu, prüfte zweimal, ob ihre Schlüsselkette noch da war, prüfte noch einmal die Knopfleiste, suchte ihre Handtasche und sagte schließlich, nachdem ihr eingefallen war, dass sie gar keine Handtasche mitgebracht hatte:
— Nu wsjo, pojedu. — Ich fahre.
— Wieso denn fahren , sagte Charlotte. Peschkóm, zu Fuß!
— Njet, pojedu, beharrte Nadjeshda Iwanowna: Domoi! Nach Hause!
Vermutlich, dachte Charlotte, wollte sie nicht allein im Dunkeln den Weg gehen. Rasch lief sie in den Salon und rief Kurt an, damit er sie abholte — aber es meldete sich niemand. Unglaublich. Einfach die alte Frau hier sitzenlassen! Sie überlegte kurz und rief ein Taxi.
— Saditjes, sagte sie zu Nadjeshda Iwanowna. Sejtschas budjet taxí!
— Njet, nje nada taxí, sagte Nadjeshda Iwanowna.
— Nadjeshda Iwanowna, sagte Charlotte. Ja otschenj sanjata — ich habe zu tun! Bitte setzen Sie sich und warten Sie auf das Taxi.
Aber die alte Frau wollte kein Taxi. Laufen wollte sie nicht, Taxi wollte sie auch nicht. Diese Unschlüssigkeit machte Charlotte rasend.
— Spasiba sa wsjo, sagte Nadjeshda Iwanowna: Danke für alles.
Und ehe Charlotte sichs versah, war die alte Frau ihr um den Hals gefallen und umklammerte sie mit ihren Affenarmen. Charlotte versuchte vergeblich, ihre Nase von Nadjeshda Iwanownas Schal fernzuhalten, der nach Naphthalin und Russenparfüm roch — eine Mischung wie aus dem Waffenlabor.
Dann trippelte Nadjeshda Iwanowna in die Dunkelheit hinaus. Charlotte blieb einen Moment an der frischen Luft stehen und schaute der alten Frau hinterher, wie sie gebeugt und mit winzigen Schrittchen zum Gartentor ging — und verschwand. Ein Blatt segelte lautlos durch den Lichtkegel der Straßenlaterne, und Charlotte beeilte sich, wieder hineinzukommen, bevor die herbstliche Melancholie sie überfiel.
Einen Augenblick stand sie unschlüssig in der Diele. Es war noch jede Menge zu tun, sie wusste nicht, wo beginnen. In der Diele schien so weit alles in Ordnung zu sein. Nur die Blumen mussten entsorgt werden, aber das hatte natürlich noch Zeit. Ärgerlich war indes, dass die Beschriftung der Blumenvasen wieder mal nicht geklappt hatte, dachte Charlotte beim Anblick der Etiketten, die Irina — typisch! — erst auf den allerletzten Drücker besorgt hatte: zu spät, um sie zu beschriften. Denn als die Vasen erst einmal hier gestanden hatten, wusste man logischerweise nicht mehr, wem welche Vase gehörte — eine Tatsache, die jeder begriff, außer natürlich Lisbeth, welche die Etiketten trotzdem draufgeklebt hatte. Da standen sie nun, die Vasen, mit leeren Etiketten … Aber nanu?
Eines der Etiketten war beschriftet. Charlotte ging näher heran. Rote Buchstaben, Wilhelms Krakelschrift:
TSCHOW, stand da. Einfach nur: TSCHOW.
Handfeste Fakten. Charlotte löste das Etikett von der Vase, um es jener Eisenkassette zuzuführen, in der sie schon seit längerem alle wichtigen Dokumente aufbewahrte: Lisbeth konnte man ja nicht trauen. Die spionierte für Wilhelm. Allerdings war die Eisenkassette vierundvierzig Stufen entfernt. In die Hosentasche konnte sie das klebrige Ding schlecht stecken … Also klebte sie es einstweilen an ihre Strickjacke.
Sie ging in den Salon und rief Weihe an: ob er einen Fotoapparat habe.
— Habe ich, sagte Weihe.
— Ich melde mich, sagte Charlotte und legte auf.
Im selben Moment fiel ihr ein, dass sie nicht nach dem Blitzlicht gefragt hatte. Sie rief Weihe noch einmal an und fragte, ob er ein Blitzlicht habe.
— Habe ich, sagte Weihe.
— Ich melde mich, sagte Charlotte und legte auf.
Das war doch ein fabelhafter Kerl, dieser Weihe. Beide, auch Rosi, obwohl sie so krank war. Auf die konnte man sich verlassen. Charlotte überlegte, ob sie sich bei den Weihes schon für das Einsammeln der Blumenvasen bedankt hatte. Sicherheitshalber rief sie Weihe noch einmal an und bedankte sich für das Einsammeln der Blumenvasen.
— Aber Sie haben sich doch schon bedankt, Frau Powileit, sagte Weihe.
— Ich melde mich, sagte Charlotte und legte auf.
Dann wandte sie sich ihren Aufgaben zu. Es war noch eine Menge zu tun, und jetzt, wo sie allmählich in Fahrt kam, machte es sie nervös, dass Lisbeth noch immer unter dem Ausziehtisch steckte. Nur ihr Hintern guckte hervor.
— Was machst du denn da, fragte Charlotte.
Ohne ihre Frage zu beantworten, sagte Lisbeth:
— Sag mal, Lotti, haben wir nicht noch mehr Plastebehälter in der Küche?
— Ach was, Plastebehälter, sagte Charlotte. Das kommt alles auf den Müll.
— In den Müll?
— Auf den Müll, sagte Charlotte. Wir sprechen hier immer noch Deutsch.
— Aber das is’ doch schade, Lotti! Dann nehm ich es mit, wenn du’s nicht haben willst.
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