Aber auch Charlotte fühlte sich zur Teilnahme verpflichtet. Die Redaktionssitzung war einmal die Woche, und man wusste nicht recht, ob sie nicht gleichzeitig auch Parteiversammlung war. Je kleiner die Gruppe wurde, desto mehr vermischte sich alles: Parteizelle, Redaktionskomitee, Geschäftsführung.
Sieben waren noch übrig. Drei davon waren die «Leitung». Das heißt: zwei — seit Wilhelm abgewählt worden war.
Charlotte hatte Mühe, die Sitzung durchzuhalten, saß gekrümmt am Ende des Tisches und war kaum in der Lage, Radovan in die Augen zu schauen. Inge Ewert redete dummes Zeug, kannte nicht mal die Breite des Satzspiegels, verwechselte Kolumne und Signatur, aber Charlotte unterdrückte jeden Impuls, sich einzumischen oder einen Vorschlag zu machen, und in dem Artikel, den man ihr zum Korrekturlesen gab, übersah sie absichtlich Druckfehler, damit die Genossen in Berlin auch wahrnahmen, auf welches Niveau die Zeitschrift gesunken war, seit man sie als Chefredakteur abgelöst hatte.
Wegen «Verstoßes gegen die Parteidisziplin». Sodass Charlotte keinen anderen Weg gesehen hatte, als ihrerseits einen Bericht an Dretzky zu schicken. Ihr «Verstoß gegen die Parteidisziplin» hatte nämlich hauptsächlich darin bestanden, dass sie am 8. März, am Frauentag, eine Würdigung des neuen Gleichberechtigungsgesetzes der DDR gebracht hatte, obwohl der Vorschlag mehrheitlich als «uninteressant» abgelehnt worden war. Das war der eigentliche Skandal.
Sie fügte hinzu, dass Ewert in der Friedensfrage eine «defätistische Haltung» einnahm und dass Radovan in der für die politische Arbeit in Mexiko besonders sensiblen Judenfrage (die Demokratische Post hatte noch immer viele bürgerliche, jüdische Leser) gegen die Linie verstieß, die Dretzky, als er noch in Mexiko war, begründet hatte.
Das war unfair, sie wusste es. Aber war es fair, ihr einen «Verstoß gegen die Parteidisziplin» vorzuwerfen?
— Kannst du bis Anfang Februar etwas für die Kulturseite liefern?
Radovans Stimme.
— Eineinhalb Normseiten, regionaler Bezug.
Charlotte nickte und kritzelte etwas in ihren Kalender. Hieß das, sie war für den politischen Teil nicht mehr zuverlässig genug?
Abends badete sie — fast schon eine Gewohnheit am Tag der Redaktionssitzung.
Am Donnerstag und am Freitag gab sie Nachhilfeunterricht, Englisch und Französisch, jeweils drei Stunden (und verdiente an zwei Tagen mehr als Wilhelm in einer Woche bei der Demokratischen Post ).
In der übrigen Zeit, bevor Wilhelm nach Hause kam, baumelte sie auf dem Dachgarten in der Hängematte, ließ sich vom Hausmädchen Nüsse und Mangosaft bringen und schmökerte in Büchern über präkolumbianische Geschichte: wegen des Artikels für die Kulturseite, so hieß die Ausrede, die ihr niemand abverlangte.
Am Wochenende las Wilhelm, wie stets, das Neue Deutschland , das immer im Packen und mit vierzehntägiger Verspätung aus Deutschland kam. Da er weder Spanisch noch Englisch konnte, war das ND sein einziger Lesestoff. Er las jede Zeile und war, mit Ausnahme von zweimal einer halben Stunde, die er mit dem Hund spazieren ging, bis zum späten Abend beschäftigt.
Charlotte kümmerte sich um den Haushalt: Sie besprach mit Gloria, dem Hausmädchen, den Speiseplan für die kommende Woche, sah Rechnungen durch und goss ihre Blumen. Seit langem züchtete sie auf der Dachterrasse eine Königin der Nacht. Sie hatte sie vor Jahren gekauft, in der zwiespältigen Hoffnung, dass sie nie sehen würde, wie sie blühte.
Am Montag rannte Wilhelm gleich früh in die Druckerei, und Charlotte rief Adrian an und verabredete sich mit ihm gegen Mittag.
Schon lange hatte Adrian ihr die Kolossalstatue der Coatlicue zeigen wollen. Er hatte ihr oft von der aztekischen Erdgöttin erzählt, und sie kannte bereits ein Foto: eine grausige Figur. Ihr Gesicht war auf merkwürdige Weise aus zwei im Profil zu sehenden Schlangenköpfen zusammengesetzt, sodass je ein Auge und zwei Zähne einer der Schlangen gehörten. Aus ihrem Schoß schaute der totenschädelartige Kopf ihres Sohnes Huitzilopochtli hervor. Um den Hals trug sie eine Kette aus abgehauenen Händen und herausgerissenen Herzen: Symbol der Opferriten der alten Azteken.
Man habe sie vor mehr als hundertfünfzig Jahren unter dem Pflaster des Zócalo gefunden, sagte Adrian, während er an seinem Kaffee nippte und Charlotte ansah wie vor einer Prüfung.
Sie war zum ersten Mal in der Universität. Alles, selbst die Kaffeetassen in Adrians Büro, erschienen ihr heilig. Und Adrian selbst schien ihr noch imposanter, seine Stirn vergeistigt, seine Hände noch feiner als sonst.
— 1790 hat man sie ausgegraben und in die Universität gebracht, sagte Adrian. Aber der damalige Rektor entschied, sie wieder am Zócalo vergraben zu lassen. Drei Mal hat man sie wieder vergraben — so unerträglich fand man ihr Antlitz. Und auch danach stand sie noch jahrzehntelang hinter einer Leinwand und wurde Besuchern nur als eine Art Abstrusum gezeigt.
Sie folgte Adrian durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen, dann standen sie im Innenhof, Adrian drehte Charlotte sanft um — und sie sah auf die Füße von Coatlicue. Sie hatte eine mannshohe Statue erwartet. Vorsichtig wanderte ihr Blick hinauf bis in vier Meter Höhe. Sie schloss die Augen, wandte sich ab.
— Ihre Schönheit, sagte Adrian, besteht darin, dass das Grauen in der ästhetischen Form gebannt ist.
Im Januar schrieb sie zwei Normseiten über die Dialektik des Schönheitsbegriffs in der Kunst des aztekischen Volkes.
Im Februar wurde ihr Artikel vom gesamten Redaktionskomitee einschließlich Wilhelms als zu theoretisch abgelehnt.
Im März begann es völlig unplanmäßig zu regnen, und Adrian machte ihr einen Heiratsantrag.
Sie hatte nichts mit Adrian. Allerdings hatte sie auch nichts mit Wilhelm, der seit seiner Abwahl aus der Parteileitung sexuell inaktiv war.
Sie saßen auf den Treppenstufen der Sonnenpyramide von Teotihuacán, wohin sie, nicht zum ersten Mal, mit Adrian gefahren war. Charlotte blickte über die tote Stadt hinweg auf die weite, hüglige Landschaft, die sich Tal von Mexiko nannte, obwohl sie in Wirklichkeit zweitausend Meter hoch lag, und glaubte plötzlich, dass sie in der Lage sei, den ganzen Dreck hinzuschmeißen .
Stattdessen: einmal im Leben die Königin der Nacht blühen sehen.
Aber als sie an diesem Abend nach Hause kam und Wilhelm neben dem Hund auf dem Fußboden sitzen sah, wusste sie, dass es unmöglich war.
Und davon abgesehen: Würde sie je ihre Söhne wiedersehen, wenn sie in Mexiko blieb?
Und davon abgesehen: Hatte sie wirklich vor, den Rest ihres Lebens Kinder reicher Leute zu unterrichten? Oder die Hausangestellten eines verwitweten Universitätsprofessors zu kommandieren?
Und davon abgesehen: mit neunundvierzig!
Im April kam ein Brief von Dretzky, komischerweise datiert auf den ersten April. Wie sie dem Briefkopf entnahm, war Dretzky inzwischen Staatssekretär im Bildungsministerium. Er ging mit keiner Silbe auf Charlottes Bericht ein. Vielmehr teilte er mit, dass zwei Einreisevisa im sowjetischen Konsulat für sie bereitlägen, und bat sie, umgehend die Rückreise anzutreten, um für ihre neuen Aufgaben zur Verfügung zu stehen: Charlotte sollte als Direktorin das Institut für Literatur und Sprachen an der demnächst zu gründenden Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft übernehmen, und Wilhelm, welcher, wie Dretzky schrieb, als sogenannter Westemigrant nicht, wie es sein Wunsch gewesen wäre, in den neuen Geheimdienst übernommen werden durfte — Wilhelm sollte Verwaltungsdirektor der Akademie werden.
An diesem Abend gingen sie durch den Almeda-Park, ließen sich im Strom der Menschen treiben. Von fern tönte eine Mariachi-Kapelle herüber, und sie aßen Tortillas mit Kürbisblüten wie früher.
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