Blumenberg stockte. Gar zu albern kam er sich vor bei diesen Tiraden, besonders die Worte zurückgezogen und redlich schmeckten ihm nicht. Der Löwe hatte nur einmal gegähnt und sonst wie bisher in aller Gemütsruhe durch ihn hindurchgesehen, aber Blumenberg wollte bemerkt haben, daß kleine ironische Flämmchen in seinen Augen geglüht hatten. Ein kaum wahrnehmbares Flackern war es gewesen, mehr nicht.
Eine unangenehme Pause trat ein. Blumenberg hatte sich verrannt. Einfach so zu tun, als wäre kein Löwe da, gelang ihm nicht. Das Tier beherrschte sein Denken und Fühlen, und es machte ihn nervös, daß sich der Löwe so ruhig aufführte oder vielmehr nicht aufführte und sein Benehmen indifferent blieb in bezug auf Wahrheitsproben oder rhetorische Märchenspiele oder werweißwasimmer.
Blumenberg entschloß sich zu einer ungewöhnlichen Handlung. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, stand auf und setzte sich mitsamt Glas im Schneidersitz auf den Boden, in etwa zwei Meter Entfernung zum Löwen. Der Löwe nahm diese Annäherung ruhig hin. Ja, Blumenberg kam es so vor, als wäre der Löwe erfreut, daß sein Zimmerkamerad nun nicht mehr auf ihn herabsah, sondern aus annähernd gleicher Höhe zu ihm her.
Blumenberg musterte das helle Haar des Löwen am Bauchrand und an der Unterseite der Pranken. Für einen Augenblick wünschte er, der Löwe würde sich in einer spielerischen Unterwerfung auf den Rücken wälzen und seinen Bauch herzeigen. Aus der Nähe betrachtet war er noch größer als von oben herab gesehen. Rechts auf seiner Brust verlief eine lange Narbe bis zum Ansatz des Vorderbeines. Ob der Löwe einst mit einem anderen Löwen um die Herrschaft im Rudel gekämpft hatte? Trotz der offenkundigen Altersschäden hatte sich da eine ziemlich imposante Masse in die Sichtbarkeit gedrängt. Der Krafterhalt war enorm. Hatte ein übergroßer Wille dem Löwen dazu verholfen, sich selbst das Existenzprädikat zu verleihen und es nach Belieben wieder zu entfernen? Oder war der Löwe, so wirkmächtig er sich auch zeigte, doch nur ein Hirngespinst, geschaffen von ihm, Blumenberg selbst, einem aus dem Leben, wie alle Welt es führte, sich mehr und mehr entfernenden Geistmenschen, der den Wunsch hegte, die Wirklichkeit in der Nähe, auf Kniehöhe bei sich zu haben, und zwar in bewährt gezähmter Form? Gemäßigt, triebbeschnitten, kompakt, nicht in Fragmente zersplittert — freundlich?
Blumenberg fiel das Wort nervenexzentrisch ein, das Thomas Mann einmal zur Charakterisierung des Mittelalterlichen in ihrer beider Heimatstadt Lübeck gebraucht hatte. War er selbst inzwischen so nervenexzentrisch, daß er den Löwen nicht nur einmal, zweimal, sondern als annähernd fortwährenden Begleiter imaginierte?
Die hölzerne Statue des heiligen Johannes hing über dem Löwen an der Wand. Ein weiteres Objekt, das aus dem Kunsthandelsgeschäft des Vaters, aus der Hansestraße 6, mit nur minimalen Brandspuren davongekommen war. Kunstverlag J. C. Blumenberg, Import, Export, Lübeck; der Briefkopf in brauner Schrift kam ihm kurz vor die Augen. Johannes hielt ein aufgeschlagenes Buch in Händen, in dem er hingebungsvoll las; ungerührt an allem vorbei, was um ihn her geschah, wie er schon am Palmsonntag 1942 weitergelesen hatte, als nach einem Angriff der Royal Air Force die Trümmer herumflogen und ihn mit Schutt und Asche bedeckten. Über seinen frommen Augen waren die Lider gesenkt, Lider, in die winzige Zacken eingeschnitzt worden waren, um ihnen mehr Dynamik zu verleihen. Trotz der konzentrierten Pose des Evangelisten hatte die Kleidung etwas Beschwingtes. Es war, als wären unruhige Winde von unten in sein Gewand gefahren und hätten es an einigen Stellen zerzogen, an anderen gebauscht. Vielleicht murmelte Johannes, um ihn in der Sanftmut zu erhalten, dem Löwen Worte zu, schönere noch als diejenigen, die er in sein Evangelium hineingeschrieben hatte, und nur er, Blumenberg, war nicht imstande, das Gemurmel zu vernehmen.
Schräg über Johannes, nach der linken Ecke zu, verlief ein langer Riß in der Wand, entstanden, weil das Haus dem Hang nachgab und sich senkte, wobei die zum Garten hin gelegene Mauer der Belastung nicht mehr ganz gewachsen war. Eine Reparatur kam natürlich nicht in Frage, da hätte Blumenberg ja alles ausräumen und für Wochen, womöglich Monate aus seinem Arbeitszimmer ausrücken müssen — allein der Gedanke!
Daß der Löwe für sein Auftauchen keineswegs einen Riß in der Wand benötigte, die Atmosphäre für seine Verschwinde- und Erscheinungskünste andere Mittelchen bereithielt, litt keinen Zweifel, trotzdem bildete Blumenberg sich ein, der störende Riß sei jetzt endlich zu seiner wahren Bestimmung gelangt — Geistodem wehte, Geiststrahlen tasteten sich durch den Riß ins Zimmer. Er gratulierte sich dazu, daß er so stur gewesen war, jeden laut vorgetragenen Gedanken an eine Reparatur sofort abgeschnitten zu haben.
Gerhard war schon als Jüngling zu einem glühenden Blumenbergianer geworden, auf dem Karlsgymnasium. Gerhard Optatus Baur, sein voller Name. Durch das fehlende e war der Nachname apart geworden, hatte sich vom Bäuerlichen entfernt und in etwas Künstliches verwandelt, wodurch das r am Schluß eine Betonung auf sich zog und wie ein Maschinchen im Leerlauf ausratterte. Obendrein war seine Mutter auf einen exzentrischen Mittelnamen verfallen, hatte den Säugling als Erwünschten und Ersehnten willkommen geheißen, einem Mann zu Ehren, der fast immer donnerstags gegen 12 Uhr 30 die Kantine der Württembergischen Landesbibliothek aufgesucht hatte.
Nein, Eberhard Optatus Schneckenburger war nicht der Vater des kleinen Optatus. Inzwischen ruhte der Gelehrte schon viele Jahre auf dem Stuttgarter Waldfriedhof unter einem Findling von der Schwäbischen Alb. Jahrzehnte hatte er die geistige Herrschaft über die schwäbische Landesgeschichte innegehabt, ihre Burgen, ihre Schlösser, ihre Stadtanlagen, die Regenten, Dichter, Philosophen, Erfinder und Ingenieure, die Obstbaumkultur, die Pachtzinsen, den Wein, Brände, Pest, Religionswirren und auch die Auftritte Goebbels’ in der Cannstatter Sporthalle, kurzum Herrschaft über den großen Erzählteig, der als Landesgeschichte aufquillt und sich zu einem besonderen Gebilde der Eigenwürde zusammenbacken läßt, auf den die Nachfahren eher stolz sind als nicht stolz. Seine Dienste waren auch bei der Stuttgarter Zeitung willkommen gewesen, wo er mit witzigen Stadtgeschichten ein treues, gar nicht so kleines Publikum in Lesehaft genommen und zu dessen Entzücken belehrt hatte.
Gerhards Mutter arbeitete als Köchin in der Kantine der Landesbibliothek, bisweilen auch an der Kasse. Den Dienst an der Kasse hatte sie donnerstags förmlich an sich gerissen, nachdem sie auf Schneckenburger aufmerksam geworden war und in Erfahrung gebracht hatte, daß er immer am selben Tag kam. Nicht, daß sie mit allen Fasern in ihn verliebt gewesen wäre — der Mann war viel zu alt für sie, fast schon ein Greis —, nein, sie liebte ihn aus den unfesten, aus dem Ungefähren anfliegenden Gründen der Sympathie, und weil er sie respektvoll behandelte. Seine dünne, fast kindliche Gelehrtengestalt, die im Alter noch rosige Haut, der weiße, wie bei einem Kakadu abstehende Schopf, die wackelnden Hände, die Mühe hatten, die richtigen Geldstücke zu finden, erfüllten sie mit fürsorglicher Zuneigung. Er war so ein gescheites Haus! Und riß königliche Witze über den Fraß, der aus den Nirostabecken von Schöpfkellen auf die Teller geklatscht wurde.
Gerlinde Baur war eine vorzügliche Köchin; ihr machte zu schaffen, was da tagtäglich zusammengepampst wurde, und sie war erfinderisch darin, den Gerichten wenigstens durch Würzbeigaben aufzuhelfen. Was den Einkauf und die Zubereitung der Speisen betraf, legte sie sich regelmäßig mit dem Küchenchef an, stieß bei ihm jedoch auf taube Ohren.
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