ICH HABE DEN SICHEREN SCHREIBTISCH VERLASSEN, um mich auf den Weg zur Mutter zu machen, in das Erinnern. Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach, es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Dahin, dahin möcht ich ziehn. Das Haus Sonne steht in meinen Tagträumen in allmorgendlicher Frühe. Lichte Helle ist. Die Erinnerung mahnt an, dass es eventuell gar nicht geschneit hat, Pflanzenflaum von den hinter dem Haus stehenden hohen Pappeln durch die Lüfte geweht worden ist wie in Fellinis Film Amarcord, gedreht in Fellinis Heimatstadt Rimini. Amarcord heißt ja zu Deutsch auch nichts weiter als: Ich erinnere mich. Ich erinnere mich heißt amarcord. Ich bin das Kind aus dem Mutternichts, bin ein Dschungelkind. Ich sehe immer die Haustür des Kinderheims in Nienhagen, die Tür, durch die Generationen von Kindern ins Kinderheim hineingegangen und hinausgegangen sind. Die Tür ist nicht mehr. Sie ist zugemauert worden. Du kannst sie anhand schwacher Konturen nachempfinden. Das wird entdecken, wer sich auskennt, wer die Tür hinter den drei Stufen zu ihr hinaufgestiegen ist. Das Kinderheim, in dem ich vom vierten bis zum siebten Lebensjahr lebte, ist inzwischen ein renoviertes, sandig-gelb angepinseltes Haus geworden, das sich neben der Landstraße, die weiterhin hinausführt aus dem kleinen Ort, oder von außen kommend in den Ort hinein, an der gleichen Stelle befindet. Ich saß so oft am Fenster, blickte vom Fenster aus auf das Stück Feld, auf Getreideschnee, Maisschnee, Schneerüben, Schnee. Dem Feld schließt sich der Wald an, den ich als Bühne der Schatten erinnere. Die Bäume ragen blattlos, nackt. Grau und glatt sind die Stämme der Buchen. Hochaufgewachsen, verzweigen sich ihre Aste erst vorm möglichen Kontakt mit dem Himmel. Mir ist in dem Waldstück Absonderliches zugestoßen. Wir sammeln Pilze, sagt die Erinnerung. Doch der Wald ist zu hell, zu trocken, zu sehr von Wind durchweht, als dass in ihm Pilze gedeihen könnten. Der Boden ist kein Pilzboden, sagt die Vernunft. Wenn wir nicht Pilze suchten, werden wir nach Bucheckern Ausschau gehalten haben. Für die Wintertiere, im dichten Wald, die Hunger leiden, wenn Schnee über das Gras gewachsen ist.
Nach Jahren stehe ich vor dem Haus, zu dem das Haus der Erinnerung geworden ist, und sehe es, wie es in meiner Erinnerung war. Ich rede mit keinen anderen Tieren als den Vögeln. Die Katzen des Heimes sind mir egal. Ich gehe Hunden aus dem Weg, seit der dreibeinige Hund sich mir gegenüber so erbärmlich aufgeführt hat, die Mädchen gegen mich stimmte, von ihnen getröstet wurde, mich in Schadenfreude und Gehässigkeit angeguckt, ja gemein über mich triumphiert hat. Schmetterlinge erblicke ich. Kohlweißlinge, die mich in Spannung versetzten, denen ich nachlief, sie unendliche Male vergeblich einzufangen versucht habe. Kohlweißlinge, von denen ich später erst als Adoptionskind ein Exemplar auf der Wiese neben dem Haus greifen kann und an ihm miterleben muss, wie sich Staub von seinen Flügeln löst. Staub, der in meiner Handschale liegen bleibt, wie der Kohlweißling durchsichtig wird, hilflos flatternd. All seiner vorherigen Eleganz beraubt, taumelt er, sinkt nieder, ist nicht mehr zum Flügelschlagflug zu überreden, wie oft ich ihn mir auch schnappe und ihn aufwerfe, er stürzt immer wieder ab, weshalb ich ihn wütend zertrete.
Die Pforte? Sie steht für mich noch. Die Hecke ist nicht viel höher gewachsen, nur etwas dichter geworden. Der Plattenweg führt weiterhin auf drei Stufen zu, vor denen ich an dem besagten ersten Tag mit dem Ledermantelmann gestanden habe. Ich habe mich schriftlich angemeldet. Die Heimleiterin lässt mich ein. Ich gehe die Flure entlang. Man öffnet mir sämtliche Türen. Ich steige Treppenstufen empor. Ich kann mich täuschen, weiß nicht zu unterscheiden und habe nicht die Kraft, dagegen etwas zu unternehmen. Ich höre Schreie. Ich sehe Kinder wuseln. Sie sind in den Räumen, die in Wirklichkeit längst leer sind. Ich sehe Kinder hinterm Haus im Garten spielen, wo keine Kinder sind. Die enge Treppe, die ich mit den beiden Mädchen vor Jahrzehnten so oft bewältigt habe, ist eng und steil, und doch sehe ich mich und die Mädchen sie erklimmen, ohne auf die zwei Betrachter zu achten. Mich schwindelt. Ich muss mich an Wand und Geländer halten. Ich gelange in das Zimmer, das die Mädchen mit mir geteilt haben, und muss endlich Klarheit haben, die Heimleiterin fragen, wie ich ihres Wissens nach ins Heim gebracht worden bin. Limousine oder Motorrad? Sie antwortet prompt, sie wisse von keiner Limousine, keinem Motorrad. Die Kinder wurden mit dem Linienbus gebracht, von einer Kollegin am Abfahrtsort in den Bus gesetzt, von ihr oder einer Kollegin hier am Bus abgeholt.
WENN ICH MICH ERINNERE, falle ich auf mich herein. Die Erinnerung ist eine Trickbetrügerin. Die Erinnerung behauptet, ich wäre von der lieben Sonne täglich in meinem Kinderheimbettchen geweckt worden. Klar und hell sind die durch die Erinnerung erinnerten Morgende. Die Fensterflügel stehen weit offen, ein mit Sonnenlicht ausgefüllter Raum ist das Heim. Die anderen Kinder schlafen. Die Sonne kommt an mein Bett gekrochen. Die Sonne kitzelt mir die Stirn, die Nase, Haar und Ohr, dass ich wach werde und aufstehe, die anderen Kinder aufwecke.
Nach meinem Besuch bei der ehemaligen Heimerzieherin ist meine Sonne zerfetzt, wie Zuckerwatte auseinandergerissen. Nach über vier Jahrzehnten zerstört die Heimleiterin die von mir gehegte Mär von einem Sonnenfenster. Ich akzeptiere. Ich nehme hin. Gedacht, ersonnen, zerfasert, zerbrochen. In Splitter gehauen der Spiegel, in dem ich mich als das von der Sonne beschienene Kind sah. Einbildung, in mutterloser Düsternis erzeugt, mich zu wärmen. Der eingebildete Mantel, der das Kind hüllt und schützt, nichts weiter als eine mutterfeste Ersatzdecke. Mein Vater ist Bergmann und ich bin sein Sohn, mit Kummer und Sorgen werd ich groß, als Knabe musst ich unter die Erd fahren mit Wagen und Pferd, fahren mit Wagen und Pferd. Und eines Tages, da hat es gekracht, ich hörte ein Wimmern tief unten im Schacht, ich kannte die Stimme, die Hilfe geschrien, mein Vater, mein Vater, da brachten sie ihn, von Steinen zerschmettert, lag tot auf der Bahr, die Knappen senkten ins Grab ihn hinein, oh welch ein Kummer, Bergmann zu sein. Wissenschaftler nennen den Vorgang Spleißen. Die fehlerhafte Erinnerung ist durch Hirnspleißen zu erklären. Das irrtümliche Stück Erinnerung gehört ausgeschnitten, entfernt und verworfen. Das Bett, von dem ich meinte, ich hätte in ihm unterhalb des Fensters gelegen, wird angepackt und quer durch das erinnerte Zimmerchen verrückt. Ich bin nicht das von Sonnenlicht geweckte Kind. Es gibt kein Sonnenfenster für mich. Das wahre Bett steht neben der Tür. Die Tür führt zum Flur hinaus. Rechts neben der Tür ist ein Lichtschalter. Man kann den Lichtschalter betätigen. Mein Lichtschalter sorgt für elektrischen Strom, umgewandelt zu Licht. Die Birne hängt von der Decke herab. Birnenstrahl ist kein Sonnenlicht, eine Deckenlampe geht nicht auf und nicht unter, sondern an und aus, wenn das Kind den Schalter betätigt. Ich bin das Kind am Lichtschalter. Die von mir erinnerte Sonne im von mir erinnerten Kinderheim ist nicht die Sonne, die wir Menschen kennen und schätzen, ist eine Glühbirne, die wir zum Glühen bringen, werden wir wach. Ich schalte den Lichtschalter an, aus. Was für ein nerviger Geselle du gewesen bist, wenn es um den Lichtschalter ging, sagt die Heimleiterin. Kein anderer durfte an deinen Lichtschalter ran. Benommen hast du dich, unbeschreiblich, kam eines der Kinder in die Nähe. Steif bis zur Zehe, sämtliche Gliedmaßen angelegt, ein einziger Aufschrei, standest du im Bett, eine schreiende Säule. Für einen, der sonst so mickrig war, dürr und großköpfig, wie sie mich erinnert, eine sensationelle Wandlung hin vom Spinnenkind zur Sirene. Und die zwei Mädchen viele Seiten Rosa und Lena von mir genannt, heißen in Wirklichkeit Birgit und Kerstin. Ich fliehe das Haus. Ich trete auf den Baum zu, den ich als Kind mit meinem Dreirad umrundet habe, wenn dem so war, wenn mir die Erinnerung nicht auch in diesem Fall Lug vorgegaukelt hat, ich dagestanden bin und mir sehnlichst gewünscht habe, ein Dreirad zu besitzen.
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