Der Waise ist in dem Moment, der ein Wahnzustand ist, völlig egal, was eine Rabenmutter ist. Sie will zu dieser Mutter aufbrechen. Sie will unter die Fittiche der Frau, die ihr als Mütterlein bekannt gemacht worden ist. Sie wünscht sich Nähe bei der Person, von der gesagt wird, sie wäre herzensgut und mütterlich. Es geht der Waise in dem Zustand wie all den Chinesen, die alle einmal im Leben nach Schanghai gereist sein müssen. Es geht der Waise wie den verwirrten Amerikanern, die General Custers Schlachtfelder heimsuchen. Die Waise wird den Iren ähnlich, die alle an einem bestimmten Tag den heiligen Berg erklimmen. Die von ihrer inneren Sehnsucht verleitete Waise will in ihrem Lebensbericht den Eintrag vermerken, die imaginäre Mutter wäre erreicht wie ein Gipfel, von dem behauptet wird, es gebe ihn so rein, so gütig, so fern und königlich. Die Waise reflektiert ihr Tun nicht. Sie leidet unter Luftknappheit und ist verwirrt von der mutterlosen Luft um sie herum. Die Waise wird muttersüchtig und kommt damit in die Jahre, wo die verheimlichte Muttersehnsucht bitter wird, zu faulen droht. Und siehe da: Die Waise, die ich bin, hat die Mutter innerlich nie wie angegeben abgehakt. Du hast keine Mutter, hast keinen Vater. Nein, so etwas hast du nicht, höre ich die Heimleiterin zu mir sagen und täte gut daran, ihr Glauben zu schenken, statt mich jetzt auf mein Verderben zuzubewegen. Es ist der schändliche Gebrauch der von mir zuvor nicht in dieser Fülle benutzten Worte. Mutter. Findung. Vater. Heimat. Heim. Seit ich zur Mutter unterwegs bin, führe ich die Begriffe im Munde, die eine Wiedergeburt erleben. Obwohl das Wort Mutter nichts als ein Wort ist ohne die Person dahinter. Ein Wort in meinem Fall für das erdachte Wesen, das ohne eine Seele in sich auskommt, wie eine Seele ohne Aussicht auf Vollendung dem Untergang geweiht ist.
ICH TRAGE DIE Mutternummer mit mir herum wie die vielen anderen Handynummern auch und werde sie so bald nicht anwählen, mich nicht sofort nach Eberbach an den Neckar begeben, sie in ihrem Versteck aufzufinden. Mit der Mutter Tacheles reden, bedeutet mir seit Jahren nicht mehr so viel wie in früheren Zeiten. Es angehen meint, durch eine Zeitscheibe aus Glas springen und alles, was ich als Person bin, bei diesem Sprung zu verstümmeln und zu verlieren. Es ergibt für den mittlerweile gestandenen Mann, der ich geworden bin, so keinen Sinn, nach fünfzig leeren, mutterlosen Jahren die Mutter zu besuchen, die gut über siebzig Jahre alt ist, mich und meine Schwester, Sohn und Tochter in ihrem Leben nicht gebraucht hat. Mein Mutterwissen ist ein gut Ruhekissen. Die vergangenen zehn Jahre bin ich mir abhandengekommen und verschiedenen Lastern verfallen. Ich habe mich eingeigelt, mich von der Welt abgewandt. Ich bin immer seltener im Freien anzutreffen. Ich habe eine Bude ohne Telefonanschluss in einer abseitigen Straße bezogen. Ich hauste, ich sah mir unendlich viele DVDs an, bedudelte mich mit inszeniertem Leben, um nicht mit dem meinen in Berührung zu kommen; dieselben Filme wieder und wieder. Ich aß Tage hindurch nichts, schlief auf dem Teppich, torkelte aufs Klo, mich zu übergeben, was nicht möglich war. So ging das die Jahre zunehmend schlechter und irgendwann steckte ein Zettel im Schlitz der Tür, von einem Freund, der mir behilflich werden wollte, für mich bei einem Verein einen Antrag eingereicht hatte betreffs eines Stipendium und Aufenthaltes, der mich aus der Stadt raus, weit weg aufs Land verfrachten würde. Es ist das Beste für dich, sagte der Freund, als es dann so weit war, man mich genommen hat, allerhöchste Eisenbahn, packte ein paar Habseligkeiten ein, fuhr mich am ersten Februartag zur Stadt hinaus, langte mit mir im Dunklen an, wo wir dann den Ortsplan in Augenschein nahmen, um herauszubekommen, wo das Kuckucksheim lag. Wir entdeckten die Dorfstraße, die Deiche, den Hafen, die Werft und allerlei wie den Fußballplatz, die Deichstöpe. Die Schriftstellerherberge entdeckten wir nicht, sie war nicht auf dem Plan verzeichnet. Es schneite. Uns wurde kalt. Wir riefen die Haushälterin an. Sie sprach mit krächzender Stimme, fragte uns, wieso im Dichterhaus niemand anwesend sei, das Haus verschlossen wäre, wo sie doch strenge Order gegeben habe. Dann kam eine kleine, dünne, knochige Frau mit dem Minifahrrad durch das Schneetreiben geradelt, schlitterte zu uns heran und ein gutes Stück vorbei, weil sie nicht gelernt hat, Rücktritt und Vorderbremse zu betätigen. Verlangsamte das Tempo, stoppte mit ihren beiden Füßen, eine topsichere Technik, wie sie meinte; an den Schnee aber müsse sie sich erst gewöhnen, den habe sie nicht auf ihrem Zettel. Sie hat einen Buttermilchteigkuchen gebacken, der warm vom Blech auf den Tisch kommt. Ich esse. Ich fühle mich gerettet. Die Haushälterin erzählt von nach dem Krieg, der Flucht, als sie sich aus Brennnesseln alles Erdenkliche gezaubert haben. Sie redet vom Reichsbund, dem Wirtschaftswunder, Butterfahrten.
Den Tag darauf schneit es nicht. Der Freund steigt in sein Auto, fährt in die Stadt zurück. Die Stadt ist weit weg. Für drei Monate bin ich nun in einem Dichterhaus untergebracht. Nach der Zeit kehre ich nicht in die Stadt zurück, sondern ziehe vom Dichterhaus ins Sommerhaus des Hafenmeisters um. Regentropfen fallen auf das Glas des Schrägfensters. Regen treibt mich an zu schreiben. Etliche Varianten, mich schreibend der Mutter zu nähern, entstehen und vergehen im neuen Haus. Ich sitze frierend am Tisch. Was vorhanden ist und länger bleibt als meine vielen Schreibversuche, sind die Geräusche der nahen Werft und der trommelnde Regentropfenfall auf dem Schrägdachfenster. Das Wasser fließt den Fluss abwärts. Ich schreibe mich leer. Es herrscht kein Wetter, wenn du schreibst. Es tritt eine Landschöne in mein Leben, für die ich das Sommerhaus aufgebe, mit der ich eine Weile zusammen bin, bis sie mich aufgibt;
den erfolglosen Schriftsteller gegen einen Bauern mit Hof und Tieren tauscht. Ich ziehe zurück ins Sommerhaus. Der Kern der Pyramiden, heißt es in einem weisen Buch, besteht aus losem Gestein und Sand. Was ursprünglich Ausmaß besessen hat, verwaist und zerfällt. Es wird wieder Winter. Es ist kalt um mich herum. Ich sitze im Sessel, ein Schafpelz zu Füßen. Ich blicke auf den Fluss, das Land hinter dem Flussbogen, die Baumgruppen, Boote, Häuser und den einzelnen, hohen Schornstein, der weithin zu sehen ist. Für diese kleine ländliche Idylle habe ich die große Stadt aufgegeben. Ich fange von Neuem zu schreiben an. Ich gehe nicht nach Berlin zurück, halte gebührenden Abstand zur Stadt, ihrer hoch aufgetürmten Erbärmlichkeit. Besser den ewigen Regen fallen sehen und auf dem Land bleiben, auf die Gerüche und Geräusche bauen. Zur Nacht den Sternenhimmel ansehen, regungslos sein und die enorme Dimension zu erfassen suchen.
Anderer Handlungsort Paris. Filmsequenz. Hauptdarsteller Jack Nicholson. Es ist Nacht in Paris. Nasskalt schaut auch die Leinwand aus. Ein Mann geht über eine Brücke. Pfützen stehen. Die Hände tief in seine Manteltaschen gegraben, steht der Mann am Brückengeländer, schaut über die Seine auf eine Brücke gegenüber. Weit entfernt. Nahe genug ins Bild gerückt. Lichter. Bunte Farbtupfer. Es schneit. Schnee fällt herab. Schneeflocken huschen. Mir stehen kaltfeuchte Tränen im Gesicht. Der Schnee weht aus dem Film, treibt von der Leinwand her in mein Gesicht, berührt meine Wangen, schmilzt, bildet Tropfen, die sich mit meinen Tränen verbinden, abwärtsrollen. Jack Nicholson ist der Mann, der ich bin, und die Seine sieht wie der Neckar aus. Ich bin ans Ufer getreten, mein mutterloses Leben endlich zu überschauen. Ich rede mir Mut zu. Ich erstarke am Leinwandschnee, der flockt so unverbindlich, wie Flocken halt fallen und sich einander nichts angehen.
Am Hafen steht der Kran mit dem abgesenkten Arm. Hat den Kopf auf dem Geländer abgelegt. Der Kran ist schön anzusehen so mit dem gesenkten Haupt, sein Unterbau dem Eiffelturm in Paris ähnlich. Die Seile vibrieren, von Strömungen bewegt, selbst an windstillen Tagen. Ein Mann im roten Overall steht auf einem Gerüst. Das Gerüst besteht aus vier senkrechten Streben. Die Treppe zum Gerüst ist grün angestrichen und mit einem weißen Geländer versehen. Ein zweiter Arbeiter mit einem Kaffeebecher in der Hand durchschreitet/zerschneidet das Bild. Mir ist, als sollte ich nur über den Hafen schreiben, den Kran, der eine Giraffe ist. Ich stehe oft am Giebel, sehe über die Deichkimme auf die Werft, den Fluss, den geknickten Kran und sage mir zum bevorstehenden Muttertreff: eine solche Begegnung, wie ich sie ins Auge fasse, muss eine Sache auf Leben und Tod sein. Ich ließ den Dingen viel zu lange ihren Lauf, begann beliebig zu werden, ein zurückgelassener Hut an einen ausrangierten Garderobenständer gehängt. Jetzt wird es Zeit für mich, dem Lebensende entgegenzugehen, die Mutternndung zu beginnen, die Mutter zu besuchen oder vorzufinden. Die Mutter besuchen meint nicht, zu einem sagenhaften Land unterwegs zu sein. Es geht eher mit mir in einen dunklen Schlauch hinein. Es ist mir dabei, als müsste ich mit bloßer Hand in einen schwarzen Kasten fassen, ohne zu wissen, was in ihm lagert. Man begreift etwas und denkt an Lehm und Schleim. Ich gehe spazieren. Flache Ebenen vor Augen, sehe ich einen Mann, der über Land geht, auf einem Feld arbeitet, so weit wie ich entfernt vom verwirrenden Treiben, den Bahnen, Bussen, Flugschneisen bin, all den Aktivitäten der städtischen Metropolen. Keine Stadt kommt gegen die mächtigen Pflockschläge an, die der Mann erzeugt, der eine Koppelzaunstange nach der anderen in die Erde rammt. Es gibt in keiner Stadt etwas so Nebensächliches zu betrachten wie schwarzbeinige Schafe, die den Deich abgrasen. Kein städtisches Signal wird mir das Geräusch eines pochenden Seils an einem Schiffsmast ersetzen, kein Hochbau kommt gegen den Anblick eines abgelegten Ankers an, der im Hafenareal liegt. Ich reife und ich atme wie unter Schock von den vielen Erinnerungen, die mich befallen. Ich pfeife ein Lied in der Schrebergartenidylle, die man schnell verlassen hat, so handtuchklein, wie das Gelände ist. Ich stakse im Weidenparadies, wo die Kiebitze wie mobile Funktelefone fiepen, wie es die Dichterin Sarah Kirsch herausgefunden hat. Lange, flache, in Wellen gelegte Aufwerfungen von schnurgeraden, kleinen Kanälen zerschnitten, die mitunter so breit werden, dass ich sie nicht überspringen kann und mich damit zu begnügen habe, über die welligen Wiesen den Rückweg anzutreten. Es tapst ein Bauer daher, stellt klar, dass die Äcker, auf denen ich latsche, sein Besitz sind, wie auch die mich umgebenden Felder, Wälder, täglichen Wetter, die Bäume bis nach Moskau und die kiebitzenden Kiebitze auch. Diese Sorte Mensch, auf jedem Klassentreffen der Welt gefürchtet und gemieden. Ausdruck der allgemeinen Gesichtslosigkeit unserer Welt, mit einer gesichtslosen Einheitsfrau und einem Fertigkind zur Seite bestraft, in einem Legoland-Fertigwohnhaus von im Landkaufhaus erworbenen Standardgartenblumen umgeben. Das Leben wie eben von seiner Verpackung befreit. Er rücke ja auch nicht mit seinen Bauernstiefeln in mein Haus ein, erregt sich der Mann über all die Idioten auf seinem Grund und Besitz. Die Zugezogenen. Die unwissenden Wandervögel, Jugendgruppen, die allesamt und ausgerechnet über seinen Acker latschen. Die Dörfler. Die Durchreisenden, Bekannten und Unbekannten. Die Schnauze gestrichen voll habe er. Im Namen der Zukunft, im Namen der Erblast, im Namen von Gut und Böse soll ich zusehen, wo ich bliebe und mich von seinem Acker trollen. Er folgt mir auf seinem Traktor sitzend hinterdrein und steht lange kopfschüttelnd an der Feldrainecke. Am besten wäre es gewesen, er hätte mich totgeschlagen und an den Koppelpfahl gebunden, ein für alle Mal ein Zeichen gesetzt.
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