Peter Wawerzinek
Rabenliebe
Teil Eins.Die Mutterfindung
Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke,
entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung.
Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten, als mir lieb ist.
SCHNEE IST DAS ERSTE, woran ich mich erinnere. Verschneit liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet, der Wind nur geht bei stiller Nacht und rüttelt an dem Baume, da rührt er seinen Wipfel sacht und redet wie im Traume. Es schneit sanft in den Ort hinein. Danach gewinnt der Schneefall an Stärke. Es ist so oft Winter in meinem Kopf. Es schneit so häufig, dass ich denke, in meinen Kinderheimjahren hat es nur Schnee und Winter, Frost und Eiseskälte gegeben. Ich sehe mich eingemummelt. Frost und Rotz klebt an der Nase. Ich bin das ewige Winterkind unter Winterkindern beim täglichen Schneemannbauen. Es ist früh dunkel. Die Nacht hält lange aus. Die Sonne steigt nicht über den Horizont. Es schneit auf all meinen Wegen. Aus Schnee besteht der Sommer. Schnee ist nur ein anderer Name für die Sonne. Es ist November. Es ist Februar. Ich sitze in einem großräumigen Automobil, einer schwarzen Limousine. Ich bin vier Jahre jung und in dem riesigen Automobil. Schneeweiß ist die Landschaft, die ich in Erinnerung habe. Der Fahrer ist ein dunkler Schattenriss. Es ist der Tag, den ich als ersten Tag meines Lebens erinnere. Ein tiefgrauer Tag, der morgens rötlich aufzog und schön zu werden schien, sich dann aber verdunkelte. Ein Tag, der sich hinter einer Wolkendecke verkriecht, sich den Tag über als Tag nicht sehen lassen mag und dem Schnee das Terrain überlässt, der aus diesem grauen Himmel wie aus einer alten Pferdedecke geklopfter Staub umherwirbelt. Wie beim Hasen, der bei seinem Lauf über den Acker den Igeln nicht davonlaufen kann, ruft der Schnee mir zu: Bin schon da. Ach bittrer Winter, wie bist du kalt, hast entlaubet den grünen Wald, hast verblüht die Blümlein, die bunten Blümlein sind worden fahl, entflogen ist uns die Nachtigall, entflogen, wird je sie wieder singen.
In der vergangenen Woche starb in Schwerin die fünf Jahre alte Lea-Sophie. Ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte der zuständige Sozialarbeiter nicht darauf bestanden, das Kind zu sehen. Gegen das Jugendamt laufen Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung.
ICH BEFINDE MICH auf dem Weg zu einem Kinderheim. Ich habe keine Ahnung, wohin es mit mir geht. Ich weiß nicht, was mich am Ende der Fahrt erwartet. Ich sitze in einer Limousine. Der Frühnebel beherrscht die Landschaft. Im Nebel löst sich der ruhende Ackerstein auf. Im Nebel erscheinen all die Dinge in der Natur wie in eine milchige Glasschale hineingelegt. Im Nebel wird das Schwere leichter. Die Welt ist mir näher als unter der Sonnenbestrahlung. Das plan liegende, nur zu ahnende, weite Feld tritt geballt aus der Nebelmasse hervor, um sich betrachten zu lassen und wieder zu verschwinden. Das Unscheinbare ist erst in all seiner nebulösen Unklarheit innig zu erleben. Der an einem gewöhnlichen Tag ignorierte, große, stumme, unscheinbar am Wegrand schlafende Ackerstein tritt wacher aus dem Nebel hervor, gewinnt an Würde und Gewichtigkeit. Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt, im kalten Golde fließen. Leben ist Nebel und Nebel ist Leben. Rückwärts wie vorwärts gelesen mögen die zwei Worte Nebelleben und Lebenebel in Gold gefasst untereinander aufgeschrieben auf meinem Grabstein stehen. Nebel mögen, heißt Zuwachs durch Schwinden anerkennen. Nebel als Grundlage allen Seins zu werten heißt, Nebel als Dauerausstellung und Fingerzeig annehmen; das unerhörte Flüstern. Nebel weiß ich um mich, der es gut mit mir meint.
DAS FELD LIEGT WIE ein gestärktes Nachthemd da. Mir ist, als hörte ich eine Krähe rufen. Ich verehre seither Krähen. Ich bewahre mir von diesem ersten mir bewusst werdenden Tage an Hochachtung vor Krähen und Nebelschwaden. Ich rede von Nebel und Krähen, wenn von Leichtigkeit und Erdschwere die Rede ist, vom Verschwinden der Dinge. Am schönsten ist mir im Nebel, wenn Krähen schreien, die nicht zu sehen sind und im Nebel gar nie nach wem rufen. Nebelkrähen sah ich zuerst. Nebelkrähen sollen also bis an mein Lebensende meine Schicksalsvögel bleiben. Nebelkrähen begleiten mich durchs Leben. Ich werde im Nebel befruchtet, durch Nebel gezeugt. Nebelschwaden sind die Fruchtblase, in der ich geworden bin. Im Nebel weiß ich den Vater geborgen, von dem niemand weiß. Im Nebel weiß ich die Mutter hinterlegt, die vergessen hat, wer ich bin. Ein aus dem Nebel gekrochener, nicht aus dem Gebärtrakt der Mutter gepresster Erdenbürger bin ich.
Im März dieses Jahres wurde im hessischen Bromskirchen der Hungertod der vierzehn Monate alten Jacqueline bekannt. Das Mädchen wog mit sechs Kilo nur noch halb so viel wie andere Kinder in ihrem Alter. Das Kind hatte seit Monaten keinen Arzt gesehen.
ES IST SPÄTER HERBST. November. Es kann Januar, Februar, Juni, Juli, August sein. Es schneit nur in der Erinnerung so mütterlich sanft. Wir schreiben das Jahr 1954. Der Krieg ist neun Jahre vorbei. Der Krieg ist nie vorbei, sagt der Verstand. Der Schutt ist großteils beiseitegeschafft worden. Hinterm Dorf, hinter der Stadt, hinter den Metropolen, wo Kuhlen ausgehoben werden konnten, Schutt zu Bergen aufgeschüttet worden ist. Berge, die zum Landschaftsbild dazugehören wie all die Kriege, die in der Welt geführt werden, ununterbrochen, seit ich in diese Welt hineingeraten bin. Warschauer Pakt. Nationale Volksarmee. Aus Einheiten bestehender Bauch meiner Mutter. Eben war ich noch in ihm kaserniert. Im Bauch der Sowjetunion, die meiner Mutter weitreichende Souveränitätsrechte gewährt. Kurzzeitiger Berufswunsch: Volkspolizist. Im Alter dann von zwei Jahren von der Mutter Richtung Westen verlassen, im Kleinkinderheim verblieben, mitten hinein in die Entstalinisierung, auf den zwanzigsten Parteitag der KPdSU zu, in die Dekade der friedlichen Koexistenz geworfen wie in einen Würfelbecher mit nur einem roten Würfel ohne Zahlen versehen und lauter Hammersichelsymbole. Höfliche Begrüßungen werden Kampfansage. Schlagworte. Schlagbäume. Erlass. Reparation. Zahlungen. Schulden. Rückgabe. Aktien. Anhebung unterer Industrielohngruppen. Preise. Senkungen.
Der Wagen heißt Tschaika wie Möwe. Gesamtproduktion dreitausendeinhundertneunundsiebzig Stück. Viertürig oder fünftürig. Ich kann es nicht mehr sagen. Auf jeden Fall innen mit sieben Sitzplätzen versehen. Hat an die zweihundert Pferdestärken unter der Haube, prahlt der Fahrzeuglenker. Acht Zylinder. V-Motor. Dreiganggetriebe. Hydraulischer Drehmomentwandler. Klimaanlage. Servolenkung. Höchstgeschwindigkeit hundertsechzig Kilometer die Stunde, die ist er auf einem Fluggelände ein-, zweimal voll ausgefahren. Ein Gefühl, kann er sagen, sagt der Kraftfahrer und knutscht sich im Spiegelbild, dass es laut schmatzt. Durchs ganze Land würde er mich am liebsten chauffieren, abheben, aufsteigen und die überall Ruh über den Wipfeln stören, den Krähen es zeigen, ihnen den Fliegermarsch blasen: Kerzengrad steig ich zum Himmel, flieg ich zur Sonn direkt, unter mir auf das Gewimmel, da pfeif ich mit Respekt, wenn wir dann so oben schweben, mein Freund, das ist ein Leben, da fühl ich mich wie ein junger Gott, Kreuz Himmeldonnerwetter sapperlot, in der Luft gibt’s keine Räuber, kein Bezirksgericht und auch keine alten Weiber, sieht man oben nicht, da oben gibt’s kein Hundefutter und keine Schwiegermutter, in der Luft gibt’s keine Steuer, keine Kaution, auch der Zins ist nicht so teuer, und kommt der Schneider mit der Rechnung, fliegt man bitte ganz gemütlich ihm davon, Freunderl, drum sei nicht dumm, drum drum drum, sei nicht dumm/komm und sei mein Passagier, fliege fliege flieg mit mir, droben, wo die Sterne stehn, wollen wir spazieren gehn, schmeiß hin all Dein Gut und Geld, einen Fußtritt dieser Welt, in der Luft, in der Luft fliegt der Paprika, auf zum Himmel, Himmel, Himmel, Hipp, hipp, hurra.
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