Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle zu allen Fragen den Kopf. Ich sehe den Doktor bedenklich gucken. Ich sehe ihn sich jäh abwenden. Er redet im leisen Ton. Die Erzieherinnen mustern mich und blicken den Doktor an, ehe sie gleichzeitig nicken. Eine Erzieherin schnäuzt in ihr Taschentuch. Der Doktor bespricht die Befunde und gibt Taktiken vor. Sie nehmen mich spät vom Tisch herunter. Sie stehen noch lange vor mir. Sie stehen und legen die Köpfe noch schiefer. Drei Jahre, heißt es, wird es dauern. Die Zeit geht schnell um. Aus dem Zurückgebliebenen muss ein Nichtzurückgebliebener geformt sein, ehe ich ins Schulheim darf. Die Heimleiterin kommt hinzu: Reden magst du nicht? Nun gut. Mit niemandem? Ich bin die Banni. Darfst Banni zu mir sagen. Ziehst vor zu schweigen. Ist manchmal besser, schweigsam sein. Der Fisch dort im Aquarium redet auch nicht viel.
Im thüringischen Sömmerda verdurstete der neun Monate alte Leon. Die Mutter hatte ihn und seine zweijährige Schwester in der Wohnung zurückgelassen. Das Mädchen wurde nach vier Tagen gerettet, nachdem sich Mitarbeiter des Jugendamtes Zugang zu der Wohnung verschafft hatten.
WIR SCHREIBEN DAS JAHR 1958. In den westdeutschen Kinos läuft der Film Diebe habens schwer, eine Komödie über Kleinkriminelle, die vom großen Geld träumen. Im Osten Deutschlands feiern die Bürger den Sputnik 1, von sowjetischem Boden aus in den Kosmos gesandt. Wir sind im Osten Deutschlands. Der Segen hängt schief zwischen Ost und West. Die Berlinkrise, ausgelöst durch die ultimative Forderung der Sowjetunion nach der Entmilitarisierung Westberlins, und die gewaltsame Kollektivierung in der Landwirtschaft lassen den Flüchtlingsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik wieder anschwellen. Am Ende sind seit der Gründung des Staates bis zum Mauerbau nicht weniger als 2,7 Millionen DDR-Bürger in den Westen geflohen. Dort ziehn sie hin auf wilden Meereswogen, arm kommen sie im fernen Weltteil an, und unterm fremden, weiten Himmelsbogen erwartet sie ein neues Schicksal dann, Elend, Armut und Kummer wiegt sie gar oft in Schlummer, oh armes Deutschland, kannst du ohne Graun die Flucht der armen Landeskinder schaun. Um mich herum Bedürftigkeit, Fantasie durch Mangel. Der Staat ist die Luft um uns herum. Wir atmen den Staat. Der Staat lässt uns nicht dick werden, im Hirn nicht und nicht am Bauch. Der Fußballgott des Jahres heißt Pele und ist so jung wie die älteste Tochter der Heimleiterin. Ohne Mutter, ohne Vater aufgewachsen, bin ich belastet genug und weiß ein paar Jahre später, dass ich später Schriftsteller werden muss, dafür einzustehen, dass ich in der schönen Limousine sitzen bleiben darf und nicht Gleisarbeiter, Knastbruder, Militär werden muss wie so viele Jungen im Heim, denen nichts anderes übrig blieb.
Traumhaftes Ende einer langen Suche: Nach sechsundsiebzig Jahren hat eine im Krieg heimatvertriebene Frau ihre dreiundneunzigjährige leibliche Mutter wiedergefunden. Hartnäckige Recherchen ihrer Schwiegertochter und die Fachkunde des Kirchlichen Suchdienstes führten die beiden Mitte August nach jahrzehntelanger Trennung zusammen. Beim Suchdienst in Passau war von einem Jahrhundertereignis die Rede. Anhand der Geburtsurkunde sei die Gesuchte in einem Seniorenheim ausfindig gemacht worden. Familienmitglieder sind erstaunt über die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Damen. Die Seniorin hatte als sechzehnjähriges lediges Mädchen im heutigen Tschechien ihre einzige Tochter zur Welt gebracht und ins Waisenhaus geben müssen. Sechs Jahre später kam das Kind zu Pflegeeltern und landete nach der Vertreibung 1945 in einem schwäbischen Flüchtlingslager. Zu ihrer Familie gehören zwei Töchter, ein Sohn, fünf Enkel und ein Urenkel, der sich über eine neue, äußerst seltene Verwandte freuen darf: die Ururoma. Durch kirchliche Suchdienste sind nach dem Zweiten Weltkrieg an die 19 Millionen Menschen ausfindig gemacht worden. In der Kartei befinden sich nach den Wohnorten in den Vertreibungsgebieten erfasst zwanzig Millionen Namen, das Schicksal von mehr als fünfhunderttausend zivilen Vermissten bleibt unaufgeklärt.
DIE HEIMLEITERIN hegt eine Vorliebe für Sonderfälle. Ich bin ein vierjähriger, der Zuwendung würdiger Fall. Ich muss vor ihr stehen, dass sie den Sonderfall überblickt. Zwei Mädchen stehen dabei. Sie sind die Töchter der Heimleiterin, Rosa und Lena. Brav stehen sie, andächtig mit staunenden, offenen Mündern. Sie tuscheln leise. Ich verstehe nicht, was unter den Mädchen getuschelt wird. Sie lachen mich an. Ich lache die beiden Mädchen nicht an. Sie nehmen mich links und rechts bei den Händen. Ich gehe mit den Mädchen unter Achtungshinweisen die schmale Treppe empor in deren Kinderzimmer. Oh, diese Helle, denkt es in mir. Welch eine Farbenpracht. Ich soll den Sessel besteigen. Ich soll in ihm Platz nehmen. Ich sitze wie in Gips gegossen. Ich wage nicht, mich zu bewegen. Ich erstarre vor Glück. Ich hocke steif und angefroren. Ich kauere im Sessel. Die Mädchen reden wechselseitig auf mich ein. Brauchst nicht bei den anderen sein. Wohnst bei uns. Freust du dich? Schau, was wir für dich vorbereitet haben.
Welch ein Singen, Musizieren, Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren, Frühling kommt mit Sang und Schalle. Wie sie alle lustig sind, flink und froh sich regen, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar, wünschen dir ein frohes Jahr. Ich bekomme ein Bett zugewiesen. Ich darf im Mädchenzimmer schlafen. Ich erlebe wundervolle Tage, Wochen, Monate. Die Ärzte besuchen mich im Mädchenzimmer. Ich werde im Beisein der Mädchen untersucht und vermessen, gewogen und betastet, mal mit gerunzelter, mal mit nicht gerunzelter Stirn vom Arzt begutachtet. Die Mädchen ergehen sich an meinem Dasein, finden süß und bezaubernd. Ich bin ihnen ein Püppchen. Sie binden mir Schleifen ins Haar. Sie ziehen mir Mädchenkleider an, benehmen sich beflügelt, lachen und albern viel; eine Heiterkeit herrscht, die leise auf mich überspringt. Ich lache nicht, ich lächle kurz. Ich esse bei den Mädchen am Kinderzimmertisch. An Feiertagen bekomme ich Extraportionen. Was die Mädchen nicht mögen, schieben sie mir hin, was ich nicht aufessen mag, teilen sie unter sich auf. Alle wolln wir lustig sein, lustig wie die Vögelein, hier und dort, feldaus, feldein, springen, tanzen, scherzen. Kannst Schwester zu jeder von uns beiden sagen. Bist unser kleines Brüderchen. Wir tun ja nur so.
Ich mag meine beiden Schwestern. Ich gefalle den beiden Mädchen sehr. Ich darf mit ihren Spielsachen spielen. Sie stellen mir ihre Spielutensilien zur Verfügung. Ich nenne einen hölzernen Traktoren mein. Sag, das ist ein Traktor. Sprich uns nach. Sag Traaaktooor. Sag Tuff. Ich rede nicht. Ich grinse die Mädchen an. Sie einigen sich rasch. Sie sagen: Dann eben nicht. Und wenn ich weine, sagen sie: Weine nicht, kleiner Bruder. Und dann sagen sie wieder: Sag Tute, Tuuuteee.
Im Oktober starb im sächsischen Zwickau der vierjährige Mehmet an Hirnblutungen. Sein Stiefvater hatte das Kind unter anderem mit einem Bambusstock geschlagen und ihn nachts an sein Bett gefesselt. Die Eltern mussten sich wegen Totschlags verantworten, dem Jugendamt konnte kein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Mehmets drei Geschwister leben heute bei Pflegefamilien.
DIE LEIBHAFTIGE MUTTER hat mich verlassen. Ich werde in das nach Krankenhaus riechende Säuglingsheim überführt. Ich dämmere hinter weißen Gitterstäben eines Kinderhausbettes. Ich bin im wahrsten Sinne flach auf den Rücken gelegt und gelte als Kümmerling. Ich starre die Zimmerdecke über mir an, blicke auf Wasserflecken und Schattierungen, verfolge Schattenspiele, die sich mühen, mir Abwechslung zu bringen. Helle und dunkle, harte und weiche Strukturen. Tröstende und Angst einflößende Deckenlichtspiele, die mich unterhalten, am Leben halten, den Verlust der Geburtsstadt vergessen machen wollen. Schatten. Animation. Licht. Gewicht. Gaukeleien gegen die Trostlosigkeit und Abnabelung, die nicht zu heilen ist, die mit mir überlebt und wächst und groß wird und erst zum Lebensende hin, am Schluss mit mir absterben wird.
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