ICH LEBE WIE ein Boxer vor seinem Kampf im Trainingscamp, bereite mich auf den Mutterbesuch vor, bin in den Trainingspausen am Hafen, esse Lammfleisch, stemme Muttergedanken wie Hanteln, bin auch mal im Doppelhaus unten am Hafen, wo die Schippersleut hocken. Ehrwürdige Seefahrtsherren, sonntags immer in ihrer alten Seefahrtsrobe gekleidet, die schnasseln, klönen und das Latein der Seebären tauschen. Kapitäne zu Land statt Kapitäne zu Wasser. Waisen der Seefahrt. Auf einer Liege vor einer Wand mit Seefahrtslisten, Kalendern, Fotografien und angegilbten Zeichnungen von Schiffen, eine kreisrunde Uhr, die das Zeitliche nicht mehr bestimmen kann, an einem mit heller Tischdecke bezogenen Tisch. Auf ihm ein Fernglas, zwei Aschenbecher, ein Zettelkasten, ein dreiarmiger Glaskerzenhalter mit himmelblauen Kerzen und diese unübersehbar große Messingglocke. Bier hole ich mir aus dem Kasten an der Tür. Ich stoße aufs Leben an und setze mich, um hier zu schweigen, mich der soliden Stimmung im Raum hinzugeben, die hin und wieder durch den Ruf nach Herbert, von außerhalb der gemütlichen Hütte, gestört wird. Herbert zieht seinen Kopf ein wie vor einem Hammerschlag. Au backe, da ist sie ja. Die Frau ruft ihrem Mann in der Hütte zu, dass sie in der Stube zu Hause auch eine herrliche Sitzgarnitur hätten. Und weg ist Herbert, hinaus und auf seinem Fahrrad, das er wieder nicht abseits, sondern vor dem Eingang abgestellt hat. Fünf Jahre lebe ich auf dem Land, unbehelligt wie in einem Trainingslager auf den einen Moment zu, die Stadt wieder betreten zu können und von ihr aus dann der Mutter entgegengehen.
DIE GLOCKE DES ORTES schlägt. Ein schöner, nahezu perfekter Ton, dieser Glockenklang. Für meine Verhältnisse spät in den Tag hinein erwacht, der wechselhaft und leicht windig werden soll und in der Tendenz zu warm für die Jahreszeit ist, sieht mich die große Lebensaufgabe, mein Mutterbesuchsvorhaben, müde, nahezu träge im Raum. Ich wasche mich. Ich kämme mein Haar. Ich schlurfe in die Arbeitsecke, wo Stühle um den Tisch gerückt zum gemütlichen Eckchen werden. Ich trinke Kaffee. Ich telefoniere mit einem Freund, suche im Schrank nach frischen Socken, rufe eine Freundin an. Wir reden dieses und jenes. Sie will wissen, wie ich den wichtigen Tag beginne. Wie alle Tage auch, sage ich, versuche Heiterkeit, sage aus dem Kopf eine Sequenz von Ulrich von Hutten auf: Noch einmal ruf ich keiner hier der mir zum Sturme lauf sei dann ists recht dann stehts bei mir frisch drauf, verabschiede mich, lege auf, bin im Badezimmer überm Waschbecken. Was hast du getan, dich zu wappnen, frage ich mich am Spiegel. Harold and Maude angesehen, antworte ich mir. Der Film mit dem Typen, der einen Jaguar E von seiner Mutter geschenkt bekommt, ihn in einen schwarzen Leichenwagen verwandelt, eine echte Spitzenszene. Und dieser Junge selbst, dieses einsame Sorgenkind in Utah, das seinen Vater im Alter von zwölf Jahren verliert, ihn als Selbstmordleiche im Haushalt vorgefunden hat. Ich lebe wie er in der Vorstellung, die Zeit zu überholen. Als könnte ich meine verhinderte, nie stattgehabte Kindheit mir nix, dir nix simulieren und das nicht mehr zu ermöglichende Leben mit Leben erfüllen.
All meinen Taten gehen unzählige innere Monologe voran. Alles wie bei einer Kuh, einem Ochsen vorgekaut zwischen sieben Mägen zur Verdauung gebracht, ehe die Gedanken im Kopf raus dürfen, freigegeben sind, auslaufen und springen wie kleine Kälberlein. Ich habe allein mit mir Dinge zu bereden, die von mir zu mir besprochen werden wollen. Es ist daran nichts Ungewöhnliches. Ich kann mit mir lange vorm Spiegel stehen, zu mir sprechen. Es reden mit mir, wenn ich scheinbar so aussehe, als rede ich mit mir allein, zusätzliche, mir mitunter völlig neuartige, gänzlich fremde Stimmen auf mich ein, dass ich mich gezwungen sehe, zeitweise völlig zu verstummen und die Stimmen in mir miteinander diskutieren lasse. Ich stehe dann unerklärliche Momente vor dem Spiegel, die Arme steif ausgestreckt, die Hände auf dem Waschbeckenrand und kann mich nicht ermächtigen, nach Belieben mich einzumischen, Einhalt zu gebieten, um endlich mit mir Sachen zu bereden, die dem Augenblick wichtig sind, wie zum Beispiel die Mutterfahrt in Kürze. Ich stehe vor dem Spiegel und blicke mich von unten her streng an und werde den Eindruck nicht los, dass ich unwichtig bin, dass das Durcheinander im Kopf den Ton angibt, wo unsinnig, sinnlos um Lappalien gestritten wird, die nichts, aber auch gar nichts mit mir zu schaffen haben. Die morgendlichen Kopfdebatten. Der Tonfall. Mit welcher Stimme rede ich, wenn sie im Wortsalat unterzugehen droht, ich mich aufs Wort verstehe? Ein Fremder, sähe er mich so vor dem Spiegel, würde unsicher abwarten und sich verwundern, kopfschüttelnd abgehen und nicht wissen, was er gesehen hat. Ich lasse die Stimmen in mir tönen und halte aus, bis der eigene Mund die Möglichkeit erhält zu sprechen. Am Mit-sich-Selbstgespräche-Führen interessieren mich die Formen von Sprachfindung. Ich mag zum Beispiel Stotterer, ihre Konzentration aufs Wort. Alle Menschen sollten stottern. Alle Menschen sollten sich wie der Stotterer um die eine Silbe, das eine Wort, den einen Satz mühen. Der Stotterer strebt Genauigkeit an. Wieso denke ich das alles vor meiner Abreise, frage ich mich im Spiegel und schweige dazu, betrachte meine Haut, die Falten um die Augen herum, die Form der Lippen, Augenbrauen. Ich sehe mich an wie nie zuvor im Leben und bin mir wie nie zuvor meiner Person so unsicher. Vor der Abfahrt rufe ich meine kleine Schwester an, um sie zu informieren, dass ich nun doch zur Mutter fahre. Sie sieht sich vom Staat zwangsbehandelt und will vom Staat eine Entschädigung. Sie spricht von Verschleppung, Unrecht, das ihr widerfahren ist. Die Mutter spielt für sie keine Rolle. Die Mutter hat uns nicht gebraucht, sagt sie. Das ist Verrat. Man muss eine solche Person nicht besuchen. Dann bricht sie das Gespräch ab.
Ich sitze im Auto. Ich mache mich auf. Ich gehe der Sache nach. Ich bin allein. Ich fahre zum Mutterort. Ich lange dort an. Ich sehe mich um. Ich taste mich vor. Ich kann mir sagen, dass ich in puncto Mutternndung gekommen bin und erst einmal recherchiere, um Übersicht und Einblick zu erhalten und dann genauer hinzusehen. Mit Leuten reden, sitzen, sprechen. Mit niemandem sonst Kontakt haben. Notieren. Mit all meinen wachen Sinnen aufschreiben, was mir durch den Kopf schießt, mein Hirn registriert; die Fremdheit der Mutter; die inneren seelischen Brennstäbe. Dass mich nicht Zorn lenkt. Ich kann mich nicht auf die Autofahrt konzentrieren. Ich muss auf einen Parkplatz fahren, den Motor abschalten, abspannen, ausruhen, mir gut zureden, dass ich nicht ausraste, ein Verkehrschaos anrichte.
DER MUTTER NACH FÜNF JAHRZEHNTEN die Hand geben bereitet mir in Gedanken schon Mühe genug. Die immer wiederkehrenden Themen Becketts. Ein nackter Held liegt mit Riemen an seinen Schaukelstuhl gefesselt, ein anderer Held wird im Rollstuhl herumgefahren, der nächste ist bis zum Hals eingebettet, steckt in einem Haufen aus Erde als Symbol des nie gelebten Lebens ohne die verfluchten Erzeuger. Das isolierte Ich, die absurden Verstümmelungen des tragikomischen Clowns. Das brüchige Glück der Erinnerung. Das abstrakte Dasein in lautloser Leere. Leben in luftloser Dunkelheit. Der raumlose, zeitlose Endzeitzustand. Der in Erstarrung gefangene, absterbende Körper. Ich gebe der Mutter die Hand und komme mir wie der Versager vor. Ich gebe der Mutter nicht die Hand, esse nicht von ihrem Teller, gehe sie nichts an, wie sie mich nichts angehen soll und fremd mir bleiben, als namenloser Portier in dem Hotel unserer Beziehung.
Es SIND ZEITLEBENS Personen um mich herum, die Interesse an meinem Waisensein bekunden. Ich soll erzählen, mein Herz freilegen, alles aussagen, mich von der Last befreien. Man horcht mich zur Mutter aus und schont mich, weil man meint, dass die Waise zu schonen ist. Ich bin über fünfzig Jahre. Ich werde in wenigen Tagen die Mutter zum ersten Mal im Leben sehen. Wir werden uns angeblickt haben, damals, als sie und ich Mutter und Kind waren und auch in Blickverbindung gestanden haben, bis zu jenem Tag, als die Verbindung dann gekappt worden ist, alle Leinen zerschnitten wurden, es keinen Mutterhalt mehr für das verstoßene Kind, das Baby, das von seinen Strippen losgesagte Marionettenkind gab. Ich habe die mobile Nummer der Frau gespeichert, die meine Mutter ist und die Bezeichnung nicht verdient. Ich weiß die Adresse. Ich mache mich aber nicht auf. Beinahe drei Jahre zögere ich, rede mir ein, ich bereitete alles gründlich vor, mache mich für das Treffen fit und weiß, dass ich die Mutterthematik insgesamt nicht abarbeiten kann, wie kein Mensch die verlorene Kindheit mit Gewinn für sich umtauschen wird. Ich bleibe das mangelhafte Geschöpf, das ich bin. Die mutterlose Person. Die unausgereifte Waise, der unvollständige Mensch. Das begonnene Wesen mit all seinen unerforschten Regionen, die Unmündigkeit in Person, die sich zu sondieren hat. Es kommt zu keinem Glücks- und Sicherheitsgefühl, wenn ich mich auf dem Weg zur Mutter sehe. Ich sollte nicht auf derartige Spukgespinste achten, mich besser auf die eigene Kraft orientieren, der Missachtung mit Missachtung begegnen, bespreche ich mich und will der Verachtung, Ablehnung, lauten Lästerung meiner Person aus der (im heilenden Sinne des Wortes verrückten Ordnung) mit konsequenter Ignoranz begegnen. Menschliche Leere. Totes Hirn. Kranke Herausforderung. Schädelkot. Ich sehe mich herausgefordert, in Trab gehalten, ununterbrochen beschäftigt, seit ich mich nicht mehr so ablehnend und feindlich zur Mutter verhalte, zur Mutter mütterlich denke und in die Vergangenheit einfahre wie in einen Schacht, ein Bergwerk, eine stillgelegte Grube. Klatschnasse Gänge. Karges Licht. Feuchter Untergrund. Dunkle Seitengedanken. Hohe leere Höhlen und beängstigende Nebengänge, wie mitten in einen Schlangenbauch geführt, werde ich mich eher verdauen und ausscheiden, ohne je bei der Mutter anzulangen.
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