Ich verteidige die Mutter, versetze mich in die Mutter hinein, fühle ihre Lage nach, als sie mit mir im fünften Monat schwanger geht. Es ist Mai. Es ist Sonntag. Muttertag, der Amerikanerin Ann Jarvis zu verdanken, von ihr ausgerufen aus Kummer und als Reaktion auf den Tod ihrer Mutter. Seit neunzehnhundertdreiundzwanzig gibt es, durch sie angeregt, auch in Deutschland den Tag der Mütter, jedes Jahr gefeiert am zweiten Sonntag im Mai. Muttergedenktage werden Muttertage werden Staatsfeiertage werden zu Tagen der Deutschen Mutter avancieren. Mütter schenken dem Staat ihre Söhne. Gesunde Babys für den Führer, der Land und Raum mit den Söhnen erringen will und Frauen anhält, in den Geburtenwettstreit zu treten. Stolze Mütter, jubelnde Frauen an den Tagen der Ausschütte, wenn sie für ihre Geburten das Ehrenkreuz der Deutschen Mütter verliehen bekommen. Geburt wird Soll und Pflicht. Kinder werden in die Welt gesetzt und treu in Gefolgschaft gebracht. Willige Söhne von den Müttern erzogen, um für die Mutter und das Mutterland ins Feld zu ziehen. Verlorene Söhne, ins Feld geschickt; ins Feld, was klingt, als ginge es mit ihnen zur Ernte, wo es nach Stalingrad geht, in die Schützengräben aus gefrorener Erde. Tote Söhne, die freudig die Züge besteigen, während sie mordenden Müttern zuwinken. Heimgekehrte Kranke. Verwundete, verstümmelte, verschandelte Söhne, die von den Massakern und Vergewaltigungen nicht reden werden, all die Verbrechen vergessen wollen und den Muttertag wieder feiern. Eventuell war da keine Mutter um meine Mutter und die junge Frau allein auf sich gestellt. Eventuell hat sich die einsame Mutter mit Fremden auf die Flucht begeben. Oder man floh gemeinsam, Vater, Mutter, Kind, und dann ist der Vater ergriffen und verschleppt worden und die Mutter meiner Mutter ist umgekommen. So werde ich von einer einsamen Frau geboren, und diese weiß als Mutter nichts mit dem Kind anzufangen, will es nicht, mag sich an das Kind nicht gewöhnen, nennt es Balg, heißt es Brut und Schreihals, könnte es heimlich ohne das Krankenhaus aufzusuchen zur Welt gebracht haben, im Galopp verloren, wie man dazu sagt, wenn in der stillen Kammer ein schwangerer Bauch behandelt wird, sich ein Kind zur Welt gebracht sieht von Frauen in der Nachbarschaft, die sich gut in dem Metier auskennen, dem Menschenkind wie ein Lamm, Kalb, Fohlen zum Leben verhelfen, wo es an Hebammen mangelt.
Der zweijährige Steven Damman verschwand spurlos, als seine Mutter ihn mit dem Kinderwagen vor einer Bäckerei auf Long Island, New York, abgestellt hatte. Nun hat sich bei der Polizei ein Mann gemeldet, der behauptet, dieser Junge zu sein. Der Vater Jerry Damman frohlockt. Eine DNA-Analyse soll endgültig Klarheit schaffen. Die Polizei will erst die Ergebnisse abwarten, ehe sie die Identität bestätigen will. Der auf einem Bauernhof in Iowa lebende Vater des vermissten Jungen, Jerry Damman, sagte, es könne sehr gut möglich sein, dass der Mann aus Michigan sein Sohn sei. Die Mutter von Steven Damman, deren Mann damals in einer Kaserne beschäftigt war, ließ den Jungen und seine kleine Schwester vor der Bäckerei zurück. Als die Mutter zurückkam, waren der Kinderwagen und beide Kinder weg. Kurz darauf wurde der Wagen mit der Tochter gefunden. Mehrere tausend Polizisten und Feuerwehrleute suchten umgehend nach Steven, von dem jedoch jede Spur fehlte, bis er jetzt offenbar überraschend aufgetaucht sein könnte.
NACHT IST IN DER STADT, wenn die Leuchtreklamen entzündet werden, alles würdevoll und geweiht aufflammt, flackert, surrt. Licht an und Licht aus. Licht in Reihe wechselt, zu Wellen gelegt. Wellengänge. Wirbel. Wundervolle Drehungen. Installation. Hintereinandergeschaltete Röhren, so kunstvoll zueinander angeordnet, dass sich die Augen freudig täuschen lassen, getäuscht sein wollen. Das große Kino. Die winterliche Großstadt, von innen her leuchtend. Die große Kugel vor dem Rathaus. Eine lichtspendende bläuliche Kugel, der Erde nachempfunden. Und in der Auslage eines Schaufensters dieser blaue Wasserball, auf dessen Haut schwarze Linien entzücken. Linien, die für Erdteile, Kontinente, Wasserflächen und Polkappen stehen. Ich verlasse Rostock. Alles, was Einbildung ist, könnte besser sein als der Besuch bei meiner Mutter. Ich sollte es dabei belassen, dass ich mir eine Mutter im Kopfe geformt habe, die es mit mir ausgehalten hat. Ich sollte die Fahrt zur Mutter nicht antreten, beschwöre ich mich. Lieber Rostock besuchen und beruhigt nach Hause gehen. Meine Mutterfahrt ist wie eine Expedition ins Ewige Eis. Ich breche auf wie einst Scott zur Antarktis, mit dem Ziel, als erster Mensch den Südpol zu erreichen. Ich erreiche den Südpol, wenn ich den Klingelknopf zur Wohnung der Mutter drücke. Ich bin auf das schützende Zelt angewiesen. Ich werde keine stolze Flagge setzen. Ich komme zu spät. Ich erreiche den Mutterpol viel zu früh. Ich werde mich zur Mutter aufmachen und dabei ums Leben kommen. Wenn ich den Klingelknopf drücke, stirbt die Waise. Es bleibt nur ein lebloser Körper von mir. Das wertvollste Dokument sind meine Aufzeichnungen, von einem Suchtrupp aufgefunden, von einem Verlag herausgegeben. Ein Tagebuch mit dem Titel Last Expedition, zu deutsch Letzte Fahrt. Ich ende wie Amundsen. Ich beginne in einer kleinen Schaluppe mit Namen Gjöa meine erste Expedition. Ich komme, bildlich gesprochen, erfolgreich durch die Nordwestpassage von meinem Atlantischen Waisentum zur Pazifischen Ozeanmutter. Ich bestimme die Position meines inneren Magneten. Ich bin der Kapitän der Fram. Ich beginne die Expedition meines Lebens. Ich nehme in der Geschichte der Mutterfindungsforschung einen Platz ein. Ich lebe über Jahre in Vorbereitung auf die Antarktis. Ich führe Recherchen durch. Ich erreiche als Erster den Mutterpol; richte die Reise dergestalt ein, dass sie bei relativ günstigen Wetterbedingungen stattfindet. Ich weiß, dass mir kein Erfolg beschieden sein wird. Erfolg ist nicht das Ziel der Reise. Ich bin hauptsächlich vor der Reise zur Mutter unterwegs. In Gedanken will ich so viel wie möglich bedenken und ausschließen, dem Detail Aufmerksamkeit schenken, darauf achten, wie mich die Mutterfindung in ihrer Vorbereitung körperlich belastet.
Ich habe keine Chance. Ich werde mein Leben zerstören. Das der Mutter wird keinen Kratzer aufweisen. Spiegelblanke Gewissensflächen. Große Gefühlseisfläche. Ich besuche die Mutter, und meine Kufen hinterlassen ein paar kurze Schnitte, die aus der Flugperspektive eines über die Eisfläche fliegenden Vogels schon nicht mehr auszumachen sind. Ich benehme mich mittelalterlich. Ich komme mir vor, als würde ich die Mutter wie einen Gral erobern, ihr Herz packen können, es in meinen Händen für mich zu erwärmen. Ich reise mit dem Schlitten. Er wird statt von Schlittenhunden von mir gezogen. Ich komme wesentlich langsamer voran, als die Fahrgeschwindigkeit meines Autos vorgibt. Ich spüre die Ermüdung der letzten Jahrzehnte hinterm Lenkrad. Nein, ich gähne nicht. Ich bin gut vorbereitet. Ich habe ausreichenden Schlaf gehabt. Es ist die innere Müdigkeit, von der ich rede. Die in mir wirkende Erschöpfung ist nicht mit einer körperlichen oder geistigen Ermüdung nach Arbeit oder sonstiger Anstrengung zu vergleichen. Die innere Ermüdung ist keine Krankheit wie Diabetes, Krebs oder von Symptomen signalisiertes Herzleiden, das der Patient mit seinem Arzt bespricht. Die innere Erschöpfung ruft Abstand zur Mutterfahrt hervor. Ich übe die Fahrtätigkeiten automatisch aus. Tief in mir nimmt der Mutterwille mit jedem Kilometer ab, den ich auf den Mutterhort zufahre. Es kommt zur innerlichen Verlangsamung des Denkens. Mir droht letztendlich der völlige Denkverlust, ein inneres Gedächtnisversagen. Die nun schon über Jahrzehnte anhaltende, innere geistige Anstrengung, das in meinem Inneren Kreise ziehende konzentrierte Nachdenken über das Mutterproblem, hat zu einem Zustand geführt, den ich als geistige innere Erschöpfung bezeichne. Wenn man eine rote Fläche längere Zeit anstarrt, erscheint sie grau. Die Netzhaut ermüdet durch die lange Wahrnehmung der roten Farbe. Wer starkem Lärm ausgesetzt ist, nimmt ihn irgendwann weniger stark wahr. Das Innenohr ermüdet.
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