UND PLÖTZLICH BRINGE ICH den Stiefvater mit Herz und Wärme in Verbindung, denke, dass er vielleicht von allen Menschen um mich herum der mir zugeneigteste Mensch gewesen ist. Ein Schweiger, der fühlte. Einer, der sein Inneres nicht nach außen stülpen und herzeigen konnte. Bis zu den Baumkronen liegt der Schnee in jenem Winter, als der Adoptionsvater stirbt. Schnee schneidet die kleine Ortschaft vom Rest des Landes ab. Schaufeln helfen nicht. Es müssen Panzer her. Schneeketten. Sonderfahrzeuge. Die aber gibt es drei Tage lang nicht. Die Panzer der Russen um die Ecke werden nicht angefordert. Und große Schneehubschrauber hat die Armee die ersten drei langen Tage nicht anzubieten. Fett wie Libellen, wenn Paarung angesagt ist und sie voneinander nicht lassen können, sollen die Rettungshubschrauber sein, heißt es im Ort. Wie Libellen, die im Sommer vor dem Schilf zu sehen sind, die wie angenagelt in der Luft stehen, kosmische Flachflüge vollführen und niemals abstürzen. Schneeweiß ist der Schnee, wie Puder, wie Zucker zum Himmel getürmt liegt er, lastet schwer, hat alles unter sich begraben. Der Adoptionsvater ist zuckerkrank, muss sich Spritzen setzen und hat keine Spritzen mehr, sie sich zu setzen.
Kann nicht aus dem Haus. Ist kein Schneemaulwurf, der sich durch die Schneedecke frisst, in die Kreisstadt gelangt, sich behandeln lassen kann. Schneefink. Schneemaus. Er stirbt. Es ist mit ihm aus. Schneeeule. Nur kein allzu großes Geheule. Schneebeere. Schneehase. Schneefuchs. Schneenacht. Er hat sein Leben zu Ende gebracht. Da liegt er, kalt und kälter werdend, wie der letzte Schneegutenachtgruß auf dem Bett. Die Adoptionsmutter weint. Ein Fluch der gemeinen Schneeziege, der kichernden Schneeantilope. Schneemann. Schneefrau. Schneekind. Im Schnee erfroren sind. Schnee-ich. Schnee-du. Schneemüllers Schuh. Schneehuhn. Schneehahn. Schneefrau. Schneemann. Schneegrenze. Aus. Ich konnte den Adoptionsvater nicht besuchen. Der Schnee, er lag zu hoch und lag wie ein Schutzschild zwischen ihm und mir. Sie begruben ihn. Sie saßen zusammen und gedachten seiner. Sie hätten den verlorenen Sohn gerne dabeigehabt. So kam der Frühling, und ich war allein zum anonymen Grab nach Rostock unterwegs. Einen Zettel in der Hand, auf ihm das Schrittmaß von der Adoptionsmutter aufgeschrieben: Sieben Schritte von der zentralen Birke aus, dann drei Schritte links und ich stand unmittelbar davor oder nebenbei oder oben drüber über der Urne mit Asche zu Asche und Amen. Der Frühling kehret wieder. Und alles freuet sich, ich blicke traurig nieder, er kam ja nicht für mich, was soll mir armem Kinde des Frühlings Pracht und Glanz, denn wenn ich Blumen winde, ist es zum Totenkranz, ach keine Hand geleitet mich heim ins Vaterhaus und keine Mutter breitet die Arme nach mir aus. Die Beerdigung des Adoptionsvaters fand an einem Schneetag statt. Der Friedhof lag verschneit. Der Weg zur letzten Ruhestätte musste freigeschaufelt werden. Die Urne wurde in ein Loch gestellt, das gerade so in den harten Boden gehackt worden war.
Schneefall. Schneeaugen. Schneeblicke. Schneeaugenblicke. Schneejahrzehnte. Ein Leben von Schnee bestimmt. Wohin ich gerate, woher ich komme, auf was zu ich gehe. Schnee treibt vor meinem Fenster, während ich an der Schreibmaschine sitze, schneeweiße Seiten fülle, um festzuhalten, was ich erlebt habe, nachdem er eines Tages an meine Tür geklopft hat. Schnee fliegt an meinem Haus vorbei, als wolle er nie landen. Schnee, der mehr erschöpft und willenlos zu Boden geschleudert wird, als dass er niedergeht und zu Boden tänzelt. Wind heult. Die Tür vibriert in ihrem Rahmen. Schneeweiß ist die Erinnerung, in die hinein ich fahren muss, will ich aus ihr hervor einzelne Details des fremden Lebens freipusten, ausgraben.
DIE MUTTER IST AUF EIS gelegt, mir abgenommen, ins Kühlfach gesperrt worden. Feinfrostmutter. Feinfrostvaterschaft. Gefrierzustand. Wärme darf sich unterhalb des Gefrierpunkts entwickeln. Ich kann bei dem Gedanken wegtreten oder wütend gegen die Wände springen, sooft es beliebt. Die Schrift ist die Irrenanstalt. Das Schreiben ist mein Gefängnis. Ich bin einem Komapatienten vergleichbar, er künstlich, ich künstlerisch am Leben gehalten. Worte sind Schläuche. Ich werde über einen Tropf mit Silben versorgt, über Röhrchen fließen Buchstaben in mich ein. Ich erinnere mich meint: ich sterbe. Ich verende langsam. Ich hauche, wenn ich mich schreibend verhalte, in Wirklichkeit mein literarisches Leben aus, und bin erledigt, wenn ich davor bin, in die Mutter als Thema zurückzukriechen.
Ahnenforschung Iffland. Sag mir Deinen Namen, ich sag Dir, wer Du bist! Schwester gefunden. Ich bin so glücklich und froh, dass es solche Unternehmen gibt. Nach über fünfzig Jahren habe ich nun meine Schwester wieder gefunden. Durch Vertreibung, Kriegsgefangenschaft und die Teilung Deutschlands wusste keiner vom Anderen. Was mir in fünfzig Jahren nicht gelang, schaffte Herr Iffland in sieben Tagen. Solche Dienstleistungen am Menschen kann man mit Geld nicht aufwiegen.
BUTTERFAHRT/MUTTERFAHRT, denke ich. Die Straße ist seltsam wenig befahren. Der Verkehrsfunk vermeldet keinerlei Störungen. Ich fahre auf einer wenig auffallenden Straße meinem Ziel entgegen. Die Gedanken springen rastlos hin und her. Ich bin an diesem Punkt der Reise nahe daran sie abzubrechen und will, anstatt geheuchelte Emotionen und abgerungene Wiedersehensfreude aufkommen zu lassen, lieber eine Person überraschen, die von mir noch nie besucht wurde, die ich mag. Dem Ziel entgegen, das immer weniger mein Ziel ist mit jedem Kilometer, wähne ich die Zeiten der Sehnsucht lange vorbei und frage mich nicht mehr, warum ich zur Mutter aufbreche, sondern wie es so weit mit mir kommen konnte, mich gegen den Willen für die Fahrt zur Mutter zu entschließen. Schuld gebe ich mir selbst und dem hauptberuflich psychologisch tätigen Freund, der mir in den Ohren gelegen hat, den auffälligen Kinderheimknacks mit seiner Hilfe zu beheben, die durch das Fehlen der Mutter in meiner Seele angerichteten Schäden ausmerzen: So auffällig wie du dich benimmst, sagte er, kann ich einige Merkmale von Schädigung deines Charakters aufzählen. Deine Redelust, dieses dauernde Plappern, das erste deutliche Zeichen. Die Sucht, dich dauernd in den Mittelpunkt zu rücken. Dein Hang zur Betäubung, zum Alkohol, gepaart mit Kontrollverlust und aufflammender Streitsucht. Diese permanente Unstetigkeit. Diese unvernünftige Spenderfreude und Manie zur Verschwendung von Geld, das du doch nicht nebenbei verdienst und zum Fenster hinauswirfst, als hättest du Millionen. Deine Schüchternheit Frauen gegenüber. Deine oberflächlichen Verliebtheiten, deine akute Betriebsblindheit, was Emotion und Liebesbefähigung anbelangt. Dein Entengang. Dein viel zu früher Haarausfall. Deine Flucht an den Schreibtisch und in die Schriftstellerei. Dein Spott gegenüber den Wohlstandsbürgern. Deine kleinen Ausraster, die du Produktivitätssteigerung nennst, dass ich nicht lache. Dein lautes Generve und unberechenbares Genöle auf Partys, von Leuten veranstaltet, die keine Spießer sind und es nicht verdient haben, von dir beleidigt zu werden.
ICH BIN AUF DEM WEG zur Mutter meint: Ich entferne mich von der Mutter, je mehr ich zu ihr aufbreche; ich werde ihr am Klingelknopf ihrer Haustür entkommen sein. Die Mutter wird den Sohn das weitere Mal zur Waise stempeln, wenn dieser nur Gast im Haus der Mutter bleibt. Das die Menschen Trennende ist nicht durch einen Besuch aufzuheben und über Bord zu werfen. Man kommt nicht zusammen, auch wenn man dem Augenschein nach zusammengehört. Der Graben wird breiter, die Kluft wird tiefer, ist erst der Fuß über die Hemmschwelle bewegt, aber trotzdem keine Nähe entstanden. Diesseits des Tales stand der junge König, griff feuchte Erde aus dem Grund, kühlte nicht die Glut der armen Stirn, sie machte nicht sein krankes Herz gesund, ihn hielten zwei frische Wangen und ein Mund, den er sich verbot, fester schloss der König seine Lippen und sah hinüber in das Abendrot, jenseits des Tales standen ihre Zelte, vorm roten Abendhimmel quoll der Rauch. Ich bin in die Dorfkirche meiner Adoptionstage zurückgekehrt. Adam sah ich und Eva dicht beisammen und mir gegenüber stehen, wie ich die zwei Figuren in Erinnerung habe. Ich betrachtete die Orgel der kleinen Dorfkirche wieder, unter der ich eine Weile gelebt habe. Ich erinnere den damaligen Organisten; er spielt etwas von Bach; ich höre ihm mit geschlossenen Augen zu. Sein Orgelspiel erzeugte in mir heftige Muttergedanken. Ich habe die wehmütige Musik aus den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts lange suchen müssen, die ich als die aus jener Ära stammende Musik wiedererkannte. Ich bin in dem Ort, wo meine Kinderheimzeit ihren Anfang nahm. In der Theologie sind Schuld und Sünde verkoppelt. Sünde als Schuld im Verhältnis von Mensch zu Gott. Sühne als Schuldhaftigkeit der Gotteskinder. Schuldig der Nichteinhaltung sittlicher Gebote sind die Schuldigen. Schuldig der Übertretung sind die Überläufer. Schuld bin ich, bin gekennzeichnet, Mutterhaut engt mich. Bin voller Zeichen. Die Zeichen tummeln sich. Die Zeichen schreien. Die Zeichen fesseln mich, binden mich fester in meine Haut, aus der ich nicht fahren kann, in der ich stecke wie im Hautschlamassel. Wie kann man an solchen Blödsinn glauben. Fantasie hast du, das muss man dir lassen, sagen sie, nennen mein Verhalten einen Rückfall. Sie sagen, dass ich schwierig geworden bin, seit ich an dem Mutterbuch schreibe. Schwierig ist das gehässige Wort meines Lebens. Oder wie Karl Valentin mal gesagt hat: Mögn täten ich wollen, aber dürfen habe ich mir nicht getraut. Ungeschützt nähere ich mich der Wahrheit, gerate in die von der Mutter verschandelte Biografie. Nur weil ich in diesem Wagen sitze, mir die Mutter als Ziel der Reise angebe, vormache, vorgaukle, muss das noch lange nicht heißen, dass ich froh über diese Fahrt bin und wahrhaftig zur Mutter unterwegs, mir mit dem Besuch bei der Mutter den Wunsch meines Lebens erfülle. Innere Stimmen sind meine Triebkraft. Innere Stimmen wollen mich und die Mutter zusammenführen. Innere Stimmen sind die Fahrt über an meiner Seite und von nichts anderem beseelt, als dabei zu sein, daneben zu stehen, wenn der Moment gekommen ist, von dem die naiven Leute denken, dass er für die Waise ein großer, erhabener Augenblick ist. Hals über Kopf riskiere ich meinen eigenen Fall. Und doch geht die Fahrt nach Eberbach weiter über die Autobahn, vorbei an Auffahrt, Abfahrt, Anschluss, Zufahrtsstraße, Brücke, Raststätte, Parknische und Pinkelhaus. Auf Höhe Boxberg verlasse ich die Autobahn, um über Land zu fahren. Ich will außerhalb der Autobahn ins Schwärmen für Landschaft geraten, für die Natur sein, durch die ich sause, bei aufziehender Dunkelheit; in sie hinein bergauf und aus ihr heraus bergab. Ich fahre merklich langsamer. Bei diesem Sauwetter steht kein Tramper an der Straße. Es mangelt an der potentiellen Mitfahrerin, dem Mitfahrenden, den ich aufnehmen und wohin er oder sie gebracht zu werden wünscht, chauffieren könnte. Bis auf ein entlegenes Gehöft am Ende der Zeit würde ich diejenige Person fahren, hielte sie mich nur von meinem Vorhaben ab. Es steht niemand am Straßenrand. Die Zeiten der Mitfahrerei sind vorbei. Ab Mosbach ist die Strecke dann langweilig und wenig kurvenreich. Ich drossele die Geschwindigkeit, sprich: innere Stimmen bremsen meinen Wagen aus. Wenn man den Wagen aus der Vogelperspektive sähe, denke ich, wäre an meinem Fahrverhalten auszumachen, wie hochexplosiv es unter dem Wagendach zugeht. Stimmengeladen stehe ich auf einem Feldweg und lasse mich bereden, bis ich der Meinung bin, weiterfahren zu können. So rausche ich die nächsten Kilometer Richtung Mutterwohnort, sprich: auf Eberbach am Neckar zu. Die inneren Stimmen zwingen mich weiterhin, ihnen zuzuhören. Ich kann mich gerade so auf die Fahrt konzentrieren. Da redet viel zu viel aus mir heraus auf mich ein. Die inneren Stimmen springen auf den Sitzen, reißen Tür und Fenster auf, dass ich ein weiteres Mal das Tempo drossele, halte und ungehalten die eigenen inneren Stimmen niederzuschreien versucht bin. Ich steige aus, um mich von ihnen zu befreien, was nicht gelingt, denn die inneren Stimmen kommen mit mir mit, wohin ich mich auch bewege. Also tue ich, als wüsste ich nichts, laufe gestikulierend auf dem Acker umher, kreuz und quer, um das Thema, das meiner Stimmen Thema ist, diese verdammte Mutterfindung, gegenüber den inneren Stimmen als ein normales Unternehmen zu werten. Dass die von mir so genannte Mutterfindung nur eine Recherche ist, ein literarischer Ausflug und nichts als eine Reise von mir zu einer Frau hin, von der ich weiß, dass sie meine leibliche Mutter ist und nicht sonderlich hell im Kopf sein kann, kurzum, es um Material für einen Stoff geht, der mir lange schon, fast mein vollständiges Leben lang im Hirn geistert und abgearbeitet werden will. Ich fahre weiter, sinniere über mein Verhältnis zu der Familie. Mein Potential reicht nicht für familiäre Dauerzustände.
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