Bea, hast du Tur meinen Schal geschenkt.
Sie sagte: Er hat ihn einfach genommen. So ist er.
Wie, fragte ich.
Na so, sagte sie. Er wird dir bestimmt etwas dafür geben, vielleicht einen freien Tag.
In ihren Augen funkelte nicht die Sonne, sondern die Angst. Aber nicht vor mir, sondern vor Tur.
Bea, was habe ich von einem freien Tag, sagte ich. Ich brauche Zucker und Salz.
Von den chemischen Substanzen
Mit den chemischen Substanzen ist es wie mit den Schlacken. Wer weiß schon, was die Abraumhalden, die Holzfäule, der Eisenrost und Ziegelschutt alles ausdünsten. Es ging auch nicht nur um Gerüche. Als wir ins Lager kamen, erschraken unsere Augen, das Kokswerk war völlig zerstört. Man konnte sich nicht vorstellen, dass es nur der Krieg gewesen sein soll. Das Faulen, Rosten, Schimmeln, Bröckeln waren älter als der Krieg. So alt wie die Gleichgültigkeit des Menschen und das Gift der chemischen Substanzen. Man sah, dass es die chemischen Substanzen selber waren, die sich hier zusammentaten und die Fabrik in den Ruin zwangen. Es musste Havarien und Explosionen im Eisen der Rohre und Maschinen gegeben haben. Die Fabrik war einmal hochmodern, allerneueste Technik der zwanziger und dreißiger Jahre, deutsche Industrie. Auf den Schrotteilen waren noch Namen wie FOERSTER und MANNESMANN zu lesen.
Man musste im Schrott Namen suchen und im Kopf angenehme Wörter finden gegen das Gift, weil man spürte, dass diese Substanzen ihre Attacken fortsetzen und ihr Komplott auch gegen uns Internierte richten. Und gegen unsere Zwangsarbeit. Auch für die Zwangsarbeit hatten die Russen und die Rumänen schon zu Hause auf der Liste ein angenehmes Wort gefunden: WIEDERAUFBAU. Dieses Wort war entgiftet. Wenn schon AUFBAU, dann hätte es ZWANGSAUFBAU heißen müssen.
Weil ich den chemischen Substanzen nicht ausweichen konnte, ihnen ausgeliefert war — sie zerfraßen unsere Schuhe, Kleider, Hände und Schleimhäute — habe ich beschlossen, die Gerüche der Fabrik zu meinen Gunsten umzudeuten. Ich habe mir Duftstraßen eingeredet und angewöhnt, für jeden Weg auf dem Gelände eine Verführung zu erfinden: Naphtalin, Schuhcreme, Möbelwachs, Chrysanthemen, Glyzerinseife, Kampfer, Tannenharz, Alaun, Zitronenblüten. Es ist mir gelungen, angenehm süchtig zu werden, weil ich den Substanzen nicht erlauben wollte, giftig über mich zu verfügen. Angenehm süchtig heißt nicht, dass ich mich mit ihnen versöhnte. Angenehm war, dass es so wie die Hunger- und Esswörter auch Fluchtwörter aus den chemischen Substanzen gab. Dass auch diese Wörter für mich selbst substantiell notwendig waren. Notwendig und eine Folter, weil ich ihnen glaubte, obwohl ich wusste, wozu ich sie brauche.
Auf dem Weg zur Jama, am eckigen Kühlturm lief das Wasser außen herunter, es war ein Rieselturm. Ich taufte ihn PAGODE. Unten herum war ein Bassin, das auch im Sommer nach Wintermänteln roch, nach Naphtalin. Ein runder weißer Geruch wie die Mottenkugeln zu Hause im Schrank. Hier an der Pagode hatte das Naphtalin einen eckigen schwarzen Geruch. Wenn ich an der Pagode vorbei war, wurde er wieder rund und weiß. Ich sah mich als Kind.
Wir fahren mit der Eisenbahn in die Sommerferien auf die Wench. Aus dem Zugfenster sehe ich bei Kleinkopisch die brennende Erdgassonde. Sie hat eine fuchsrote Flamme, und ich staune, wie klein die Flamme ist und trotzdem im ganzen Tal die Maisfelder verdorren lässt, aschgrau wie im spätesten Herbst. Es waren Greisenfelder im Hochsommer. Man wusste aus der Zeitung: Die Sonde. Ein schlimmes Wort, es bedeutete, die Sonde brennt wieder und niemand kann sie löschen. Die Mutter sagt, sie wollen jetzt Büffelblut aus dem Schlachthaus holen, fünftausend Liter. Sie hoffen, dass es schnell gerinnt und einen Stopfen macht. Die Sonde riecht wie unsere Wintermäntel im Schrank, sage ich. Und die Mutter sagt: Ja, ja Naphtalin.
Erdfett, die Russen nennen es NEFT. Manchmal liest man das Wort auf Zisternenwaggons. Es ist Erdöl, und ich denke sofort an Naphtalin. Nirgends sticht die Sonne so wie hier, an der Ecke der Moika, an der achtstöckigen Ruine der Kohlewäsche. Die Sonne saugt das Erdfett aus dem Asphalt, es riecht pikant fettig, bitter und salzig, wie eine riesige Schachtel Schuhcreme. In der heißen Mittagszeit legte der Vater sich für sein Stundenschläfchen auf den Diwan und die Mutter wichste derweil seine Schuhe. An der achtstöckigen Ruine der Moika ist es jeden Tag, wann immer ich vorbeikomme, zu Hause gerade Mittag.
Die 58 Koksbatterien sind nummeriert und stehen senkrecht wie aufgebrochene Särge in einer langen Reihe. Außen Ziegelsteine und innen gefüttert mit Schamott, der zerbröckelt. Ich denke an GEFÜTTERTE SCHAMHAFTE MOTTEN. Auf dem Boden glänzen Ölpfützen, der zerbröselte Schamott setzt Kristalle an wie gelber Grind. Er riecht nach den gelben Chrysanthemenbüschen aus dem Hof vom Herrn Carp. Aber hier wächst nur giftbleiches Gras. Der Mittag liegt im heißen Wind, das bisschen Gras ist unterernährt wie wir, es schleppt an seinem eigenen Gewicht und trägt gewellte Halme.
Der Albert Gion und ich haben Nachtschicht. Am Abend gehe ich in den Keller, an all den Rohren vorbei, einige verpackt in Glaswolle, andere nackt und verrostet. Manche in Kniehöhe, andere überm Kopf. Ich müsste wenigstens einmal an einem Rohr entlanggehen, in beide Richtungen. Wenigstens einmal müsste ich von einem Rohr wissen, woher es kommt und wohin es führt. Dann wüsste ich noch immer nicht, was es transportiert, ob es überhaupt etwas transportiert. Ich müsste wenigstens einmal an einem Rohr entlanggehen, aus dem weißer Dampf kommt, weil das wenigstens weißen Dampf transportiert, Naphtalindampf. Es müsste jemand geben, der mir wenigstens einmal das ganze Kokswerk erklärt. Einerseits wüsste ich gerne, was hier passiert. Andererseits weiß ich nicht, ob die technischen Abläufe, die ja auch ihre Wörter haben, meine Fluchtwörter nicht stören würden. Ob ich mir die Namen all der Skelette in den Schneisen und Lichtungen überhaupt merken könnte.
Aus den Ventilen zischt weißer Dampf, unterirdisch vibriert es. Drüben bimmelt die Viertelstundenglocke der Einserbatterie und bald bimmelt die Zweier. Die Exhaustoren zeigen ihre Eisenrippen aus Treppen und Leitern. Und hinter den Exhaustoren wandert der Mond in die Steppe. In solchen Nächten sehe ich die Kleinstadtgiebel von zu Hause, die Lügenbrücke, die Fingerlingstiege und daneben die Pfandleihanstalt Schatzkästlein. Und den Muspilli, den Chemielehrer, sehe ich auch.
Die Ventile im Röhrendickicht sind NAPHTALINBRUNNEN, sie tropfen. Nachts sieht man, wie weiß die Hähne der Ventile sind. Anders als Schnee, fließend weiß. Und die Türme sind anders schwarz als die Nacht, stachlig schwarz. Und der Mond hat sein Leben hier und noch eines zu Hause über den Kleinstadtgiebeln. Und hier wie dort hat er einen Hof, in dem die ganze Nacht das Licht brennt und sein uraltes Inventar beleuchtet — einen Plüschsessel und eine Nähmaschine. Der Plüschsessel riecht nach Zitronenblüten, die Nähmaschine nach Möbelwachs.
Meine ganze Bewunderung hatte der Parabolturm, die MATRONE, der grandiose Kühlturm, sicher 100 Meter hoch. Sein schwarz imprägniertes Korsett roch nach Tannenharz. Seine weiße, immergleiche Kühlturmwolke war aus Wasserdampf. Wasserdampf riecht nicht, belebt jedoch die Nasenschleimhäute und verstärkte all die vorhandenen Gerüche und das Erfinden der Fluchtwörter. So gut täuschen wie die Matrone konnte nur noch der Hungerengel.
Neben dem Parabolturm lag ein Berg Kunstdünger, Vorkriegskunstdünger. Kunstdünger, hatte Kobelian gesagt, ist auch ein Kohlederivat. DERIVAT klang tröstlich. Von weitem glänzte der Vorkriegskunstdünger wie Glyzerinseife im Cellophan. Ich sah mich als Elfjährigen im sommerlichen Bukarest, 1938, in der Calea Victoriei zum ersten Mal in einem modernen Kaufhaus, in der straßenlangen Bonbonabteilung. Süßer Atem in der Nase, Cellophan knistert an den Fingern. Es überläuft mich kalt und überschwemmt mich heiß von außen und von innen. Ich hatte meine erste Erektion. Das Kaufhaus hieß auch noch Sora — Schwester.
Читать дальше