Waren Heimfahren und Hierbleiben überhaupt noch Gegensätze. Wahrscheinlich wollte ich beidem gewachsen sein, wenn es so kommt. Wahrscheinlich wollte ich von nun an das Leben von hier, das Leben überhaupt, nicht länger abhängig machen vom Wunsch, täglich nach Hause zu wollen und es nie zu können. Je mehr ich nach Hause wollte, umso mehr versuchte ich, es nicht so stark zu wollen, dass es mich kaputtmacht, wenn ich es niemals darf. Den Wunsch nach Heimkehr wurde man nicht los, um aber außer ihm noch etwas anderes zu haben, sagte ich mir, wenn sie uns für immer hierbehalten, so ist es doch mein Leben. Die Russen leben ja auch. Ich will mich nicht sträuben, hier sesshaft zu werden, ich muss doch nur so bleiben, wie ich mit dem einen luftdicht versiegelten Flacon schon zur Hälfte bin. Ich kann mich umerziehen, ich weiß noch nicht wie, doch die Steppe wird es schon richten. Mich hatte der Hungerengel derart in Besitz genommen, dass mir die Kopfhaut flatterte, ich war damals frisch kahlgeschoren wegen Läusen.
Kobelian hatte sich im vergangenen Sommer unterm weiten Himmel einmal das Hemd aufgeknöpft, und als es flatterte, etwas gesagt von der Grasseele der Steppe und seinem Ural-Gefühl. In meine Brust geht das auch, habe ich mir gedacht.
Von der Tageslichtvergiftung
Die Sonne ist an diesem Morgen ganz früh wie ein roter Ballon aufgegangen, so aufgeblasen, dass überm Kokswerk der Himmel zu flach war.
Als die Schicht begann, war es Nacht. Wir standen im Scheinwerferkegel in der PEK-Wanne, ein 2 Meter tiefes Bassin, lang und breit wie zwei Baracken. Das Bassin war meterdick mit einer uralten versteinerten Pechschicht ausgegossen. Wir mussten es säubern mit Brecheisen und Spitzhacken, das Pech heraushacken und auf Schubkarren laden. Dann den Schubkarren über die Wackelbrücke aus Brettern aus dem Bassin hinaufschieben, bis zu den Gleisen fahren, wieder ein Brett hoch in den Waggon und dort das Pech auskippen.
Wir hackten schwarzes Glas, geriffelte, gewölbte und gezackte Klumpen flogen uns um die Köpfe. Staub sah man keinen. Erst wenn ich mit dem leeren Schubkarren über die Wackelbrücke aus der schwarzen Nacht in den weißen Lichttrichter zurückkam, glitzerte eine Organzapelerine aus Glasstaub in der Luft. Sobald der Scheinwerfer im Wind pendelte, verschwand die Pelerine und schwebte im nächsten Moment wieder an derselben Stelle als verchromte Voliere.
Um 6 Uhr war Schichtschluss und seit einer Stunde heller Tag. Die Sonne war geschrumpft, aber rabiat, ihre Kugel kompakt wie ein Kürbis. In meinen Augen juckte Feuer, alle Kopfnähte pochten. Auf dem Heimweg ins Lager war alles grell. Die Halsadern tickten und wollten platzen, die Augäpfel kochten in der Stirn, das Herz trommelte in der Brust, die Ohren knackten. Der Hals quoll wie heißer Teig und wurde steif. Kopf und Hals wurden eins. Die Schwellung griff auf die Schultern über, Hals und Rumpf wurden eins. Das Licht durchbohrte mich, ich musste schnell ins Dunkle der Baracke. Aber es hätte sackdunkel sein müssen, auch das Fensterlicht war mörderisch. Ich zog mir das Kissen über den Kopf. Gegen Abend kam Linderung, aber auch die Nachtschicht. Als es dunkel wurde, musste ich wieder unter den Scheinwerfer in die PEK-Wanne. In der zweiten Nachtschicht kam der Natschalnik mit einem Eimer, in dem eine knödlige graurosa Paste war. Wir schmierten sie uns, bevor wir ins Bassin stiegen, ins Gesicht und an den Hals. Sie trocknete gleich und blätterte wieder ab.
Am Morgen, als die Sonne aufging, tobte der Teer in meinem Kopf noch schlimmer. Ich tappte ins Lager wie eine siechende Katze, diesmal direkt zur Krankenbaracke. Die Trudi Pelikan streichelte mir die Stirn. Die Feldscherin zeichnete mit den Händen in der Luft einen noch dickeren Kopf und sagte SONZE und SWET und BOLID. Und die Trudi Pelikan weinte und erklärte mir etwas von photochemischen Mukosereaktionen.
Was ist das.
Tageslichtvergiftung, sagte sie.
Sie gab mir auf einem Meerrettichblatt einen Klumpen selbstgekochter Salbe aus Ringelblumen und Schweineschmalz, zum Einreiben, damit die wunde Haut nicht platzt. Die Feldscherin sagte, ich sei zu anfällig für die PEK-Wanne, sie werde mich für drei Tage krankschreiben und vielleicht mit Tur Prikulitsch sprechen.
Ich blieb drei Tage im Bett. Halb schlafend, halb wach schwemmten mich die Fieberwellen nach Hause, in die Sommerfrische auf die Wench. Hinter den Tannen geht die Sonne ganz früh wie ein roter Ballon auf. Ich schaue durch den Türspalt, die Eltern schlafen noch. Ich komme in die Küche, auf dem Küchentisch lehnt ein Rasierspiegel an der Milchkanne. Meine Fini-Tante, dünn wie ein Nussknacker gebaut, geht mit der Brennschere zwischen Gasherd und Spiegel hin und her. In ihrem weißen Organzakleid onduliert sie sich die Haare. Dann kämmt sie mich mit den Fingern und bändigt meine Haare, wo sie immer noch abstehen, mit Spucke. Sie nimmt mich an der Hand, wir gehen Margareten pflücken für den Frühstückstisch.
Taufeuchtes Gras reicht mir bis in die Achseln, es knistert und summt, die Wiese ist voll mit weißfransigen Margareten und blauen Glockenblumen. Ich pflücke nur Spitzwegerich, der heißt Schießkraut, weil man aus seinem Stiel eine Schlinge machen und den Samenkolben weit wegschießen kann. Ich schieße auf das grellweiße Organzakleid. Aber dann sitzt auf einmal zwischen dem Organza und genauso weißen Unterkleid um den Unterleib der Fini-Tante ein brauner Schlauch aus festgekrallten Heuschrecken. Sie lässt ihren Margaretenstrauß fallen, streckt die Arme von sich und erstarrt. Und ich schlüpfe unter ihr Kleid und schaufle die Heuschrecken mit den Händen weg, immer schneller. Sie sind kalt und schwer wie nasse Schrauben. Sie zwicken, es gruselt mich. Über mir ist keine Fini-Tante mit ondulierten Haaren, sondern ein Koloss aus Heuschrecken auf zwei mageren Beinen.
Unterm Organzakleid war es das erste Mal, dass ich verzweifelt schaufeln musste. Jetzt lag ich in einer Baracke und rieb mich drei Tage mit Ringelblumensalbe ein. Alle anderen gingen weiter ins PEK-Bassin. Nur ich wurde, weil ich zu anfällig war, ab nun von Tur Prikulitsch in den Schlackekeller geschickt.
Dort blieb ich.
Jede Schicht ist ein Kunstwerk
Wir sind zu zweit, der Albert Gion und ich, zwei Kellerleute unter den Dampfkesseln der Fabrik. In der Baracke ist der Albert Gion aufbrausend. Im dunklen Keller ist er bedächtig, aber bestimmend, wie Melancholiker sind. Vielleicht war er nicht immer so und ist im Keller so geworden, wie der Keller ist. Er arbeitet schon lange hier. Wir reden nicht viel, nur was sein muss.
Der Albert Gion sagt: Ich kipp drei Wagen, dann kippst du drei.
Ich sage: Dann putze ich den Berg.
Er sagt: Ja, danach gehst du stoßen.
Zwischen Kippen und Stoßen geht die Schicht hin und her, bis die Hälfte um ist, bis der Albert Gion sagt:
Wir werden eine halbe Stunde schlafen unter dem Brett, unterm Siebener, dort ist es ruhig.
Und dann kommt die zweite Hälfte.
Der Albert Gion sagt: Ich kipp drei Wagen, dann kippst du drei.
Ich sage: Dann putze ich den Berg.
Er sagt: Ja, danach gehst du stoßen.
Ich sage: Wenn nun der Neuner voll ist, werd ich gehen und stoßen.
Er sagt: Nein, du kippst jetzt, ich gehe stoßen, auch der Bunker ist voll.
Nach Schichtende sagt entweder er oder ich: Komm putzen, wir wollen den Keller rein übergeben.
Nach einer Woche im Keller stand Tur Prikulitsch wieder in der Rasierstube hinter mir im Spiegel. Ich war zur Hälfte rasiert, und er hob den öligen Blick und die sauberen Finger und fragte:
Wie ist es denn bei euch im Keller.
Gemütlich, sagte ich, jede Schicht ist ein Kunstwerk.
Er lächelte über die Schulter des Rasierers, hatte aber keine Ahnung, dass es stimmte. Man hörte den dünnen Hass in seinem Ton, seine Nasenflügel schimmerten rosa, in seinen Schläfen Marmoradern.
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