Nach der Pause kommt der Tango. Ich tanze mit der anderen Zirri. Unsere Sängerin, die Loni Mich, steht einen halben Schritt vor den Musikanten. Bei der Paloma geht sie noch einen halben Schritt vor, weil sie das Lied ganz für sich haben will. Die Arme und Beine hält sie steif, die Augen rollen, der Kopf wiegt sich. Ihr Kropfansatz zittert, die Stimme wird rauh wie der Sog von tiefem Wasser:
Und schnell geht ein Schiff zugrunde
Früh oder spät schlägt
Jedem von uns die Stunde
Auf Matrosen ohé
Einmal muss es vorbei sein
Einmal holt uns die See
Und das Meer gibt keinen
Von uns zurück
Bei der plissiert getanzten Paloma hat jeder zu schweigen. Da wird man sprachlos und denkt, woran man muss, wenn man auch nicht will. Da schiebt jeder sein Heimweh wie eine schwere Kiste. Die Zirri lässt die Füße schleifen, ich drücke ihr die Hand ins Kreuz, bis sie wieder in den Takt zurückfindet. Sie hat seit einer Weile den Kopf von mir weggedreht, damit ich ihr Gesicht nicht sehe. Ihr Rücken zittert, ich spüre, wie sie weint. Das Schlurfen ist laut genug, ich sage nichts. Was könnte ich sagen, außer sie soll nicht weinen.
Weil man ohne Zehen nicht tanzen kann, sitzt die Trudi Pelikan am Rand auf der Bank, und ich setze mich zu ihr. Ihre Zehen sind im ersten Winter erfroren. Im Sommer wurden sie unterm Kalkwagen zerquetscht. Im Herbst wurden sie amputiert, weil Würmer unter den Verband kamen. Seither geht die Trudi Pelikan auf den Fersen, zieht die Schultern nach vorn und neigt sich nach hinten. Das macht ihren Buckel rund und die Arme steif wie Schaufelstiele. Weil sie weder auf der Baustelle noch in einer Fabrik oder als Garagenhilfe zu gebrauchen war, wurde sie im zweiten Winter Helferin in der Krankenbaracke.
Wir reden über die Krankenbaracke, dass sie nur eine Krepierstube ist. Die Trudi Pelikan sagt: Wir haben nichts zum Helfen, nur Ichtyol zum Einreiben. Die Feldscherin ist ja Russin und meint, die Deutschen sterben in Wellen. Die Winterwelle ist die größte. Die Sommerwelle die zweitgrößte mit den Epidemien. Im Herbst reift der Tabak, dann kommt die Herbstwelle. Die vergiften sich mit Tabaksud, das ist billiger als Steinkohleschnaps. Und sich mit Glasscherben die Adern ritzen ist ganz umsonst, so wie sich die Hand oder den Fuß abhacken. Und genauso umsonst, aber schwerer ist, sagt die Trudi Pelikan, mit dem Kopf an die Ziegelwand rennen, bis man umfällt.
Die meisten kannte man nur vom Sehen, vom Appell oder aus der Kantine. Ich wusste schon, dass es viele nicht mehr gab. Aber wenn sie nicht vor meinen Augen umgefallen waren, hielt ich sie nicht für tot. Ich habe mich gehütet zu fragen, wo die jetzt sind. Wenn es so viel Anschauungsmaterial von anderen gibt, die schneller abdanken als man selbst, wird die Angst mächtig. Mit der Zeit übermächtig, also zum Verwechseln ähnlich mit Gleichgültigkeit. Wie soll man sonst flink sein, wenn man den Toten als erster entdeckt. Man muss ihn rasch nackt machen, solang er biegsam ist und bevor sich ein anderer die Kleider nimmt. Man muss sein gespartes Brot aus dem Kissen nehmen, bevor ein anderer da ist. Das Abräumen ist unsere Art zu trauern. Wenn die Tragbahre in der Baracke ankommt, darf außer einem Leichnam für die Lagerleitung nichts zu holen sein.
Wenn der Tote kein persönlicher Bekannter ist, sieht man nur den Gewinn. Abräumen ist nichts Böses, im umgekehrten Fall würde der Leichnam mit einem dasselbe tun, und man würde es ihm gönnen. Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts zu tun. Ich glaube, je kleiner die Scheu vor den Toten wird, umso mehr hängt man am Leben. Um so mehr ist man für jede Täuschung zu haben. Man redet sich ein, dass die Fehlenden nur in ein anderes Lager gekommen sind. Was man weiß, gilt nicht, man glaubt das Gegenteil. Wie das Brotgericht kennt auch das Abräumen nur die Gegenwart, handelt aber nicht gewalttätig. Es geschieht sachlich und zahm.
Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde
Vor meinem Vaterhaus steht eine Bank
Und wenn ich sie einst wiederfinde
Dann bleib ich dort mein Leben lang
Das singt unsere Sängerin, die Loni Mich, mit Schweißtropfen auf der Stirn. Und der Zither-Lommer hat sein Instrument auf den Knien, seinen Metallring am Daumen. Nach jeder Liedzeile zupft er ein weiches Echo und singt mit. Und der Kowatsch Anton schiebt die Trommel ein paarmal nach vorn, bis er der Loni zwischen seinen Trommelstöckchen ins Gesicht schielen kann. Die Paare tanzen durch den Gesang und verhopsen sich wie Vögel bei der Landung, wenn scharfer Wind bläst. Die Trudi Pelikan sagt, wir können sowieso nicht mehr gehen, wir können doch nur noch tanzen, wir sind dicke Watte mit wiegendem Wasser und klapprigen Knochen, schwächer als die Trommelschläge. Als Gründe dafür zählt sie mir ihre lateinischen Geheimnisse aus der Krankenbaracke auf.
Polyarthritis. Myokarditis. Dermatitis. Hepatitis. Enzephalitis. Pelagra. Dystrophie mit Schlitzmaul, genannt Totenäffchengesicht. Dystrophie mit steifen kalten Händen, genannt Hahnenkralle. Dementia. Tetanus. Typhus. Ekzeme. Ischias. Tuberkulose. Dann kommen Ruhr mit hellem Blut im Stuhlgang, Furunkel, Geschwüre, Muskelschwund, Dörrhaut mit Krätze, Zahnfleischschrumpfen mit Zahnausfall, Zahnfäulnis. Erfrierungen erwähnt die Trudi Pelikan nicht. Auch nicht die Gesichtserfrierungen mit ziegelroter Haut und eckigen, weißen Flecken, die in der ersten Frühjahrswärme dunkelbraun werden, wie sie schon jetzt die Gesichter der Tanzenden färben. Und weil ich nichts sage und nichts frage, gar nichts, zwickt mich die Trudi Pelikan fest in den Arm und sagt:
Leo, ich meine es ernst, stirb nicht im Winter.
Und der Trommler singt mit der Loni zweistimmig:
Seemann lass das Träumen
Denk nicht an zu Haus
Die Trudi sagt in dieses Lied hinein, dass die Toten den ganzen Winter im Hinterhof gestapelt und mit Schnee zugeschaufelt, ein paar Nächte liegenbleiben, bis sie hart genug gefroren sind. Dass die Totengräber faule Halunken sind, dass sie die Leichen in Stücke hacken, damit sie kein Grab schaufeln müssen, nur ein Loch.
Ich habe der Trudi Pelikan gut zugehört und spüre von allen lateinischen Geheimnissen ein bisschen was in mir. Die Musik ermuntert den Tod, er kann schunkeln.
Ich fliehe aus der Musik in meine Baracke. Auf den beiden Wachtürmen an der Straßenseite des Lagerhofs stehen die Posten schmal und starr wie aus dem Mond gestiegen. Aus den Bewachungslaternen fließt Milch, aus der Wachstube am Lagereingang fliegt Gelächter in den Hof, dort wird wieder Zuckerrübenschnaps gesoffen. Und auf dem Lagerkorso sitzt ein Wachhund. Er hat grüne Glut in den Augen, zwischen seinen Pfoten liegt ein Knochen. Ich glaube, es ist ein Hühnerknochen, ich beneide ihn. Er spürte es und knurrt. Ich muss etwas tun, damit er mich nicht anspringt und sage: Wanja.
Er heißt bestimmt nicht so, schaut mich aber an, als könnte auch er meinen Namen sagen, wenn er nur wollte. Ich muss weg, bevor er es tut, mache große Schritte und drehe mich ein paarmal um, dass er mir ja nicht nachkommt. An der Barackentür angelangt, sehe ich, dass er sich noch immer nicht nach dem Knochen bückt. Er schaut mir noch immer nach oder meiner Stimme und dem Wanja. Auch einem Wachhund geht das Gedächtnis weg und kommt wieder. Und der Hunger geht nicht weg und kommt wieder. Und die Einsamkeit ist wie er. Vielleicht heißt die russische Einsamkeit Wanja.
Angezogen wie ich bin, krieche ich in mein Bettgestell. Wie immer brennt das Dienstlicht überm Holztischchen. Wie immer, wenn ich nicht einschlafen kann, starre ich das Ofenrohr an mit seinen schwarzen Kniefalten und die zwei eisernen Tannenzapfen der Kuckucksuhr. Dann aber sehe ich mich als Kind.
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