Karli Halmen lag auf dem Gesicht in seiner Delle. Die verheilten Narben des Brotdiebstahls schimmerten wie Wachsschrammen durch sein kurzes Haar. Durch seine Ohrmuschel leuchtete die rote Seide der Äderchen. Ich dachte an meine letzten Rendezvous im Erlenpark und Neptunbad mit diesem einen, doppelt so alten, verheirateten Rumänen. Wie lange er, als ich zum ersten Mal nicht kam, auf mich gewartet hatte. Und wie oft, bis er verstanden hat, dass ich auch die nächsten Male und nie mehr wiederkommen werde. Kobelian konnte frühestens in einer halben Stunde wiederkommen.
Und wieder hob es mir die Hand, ich wollte Karli Halmen streicheln. Zum Glück half er mir aus der Versuchung. Er hob das Gesicht aus dem Sand, und er hatte in den Sand gebissen. Er aß, und es knirschte in seinem Mund, und er schluckte. Ich war erstarrt, und er füllte sich den Mund zum zweiten Mal. Von seinen Wangen fielen die Sandkörner ab, als er kaute. Und ihr Abdruck war ein Sieb auf den Wangen und auf der Nase und auf der Stirn. Und die Tränen auf beiden Wangen eine hellbraune Schnur.
Als Kind habe ich die Pfirsiche angebissen und mit dem Biss nach unten fallengelassen, sagte er. Dann habe ich sie aufgehoben und die sandige Stelle gegessen und sie wieder fallengelassen. Bis nur der Kern übrig war. Mein Vater ist mit mir zum Arzt gegangen, weil ich nicht normal bin, weil mir der Sand schmeckt. Jetzt habe ich Sand genug und weiß gar nicht mehr, wie ein Pfirsich ausschaut.
Ich sagte: Gelb, mit feinen Härchen und bisschen roter Seide um den Kern.
Wir hörten das Auto kommen und standen auf.
Karli Halmen begann zu schaufeln. Wenn er die Schaufel füllte, liefen die Tränen gerade herunter. Wenn er den Sand fliegen ließ, liefen sie links in den Mund und rechts ins Ohr.
Die Russen haben auch ihre Wege
Karli Halmen und ich sind mit dem Lancia wieder mal quer über die Steppe gefahren. In alle Richtungen liefen Erdhunde. Überall Räderspuren, niedergewalzte Grasbüschel rotbraun lackiert mit getrocknetem Blut. Überall die Prozession der Fliegenschwärme auf dem zerquetschten Pelz mit herausgequollenen Eingeweiden. Viele glänzten noch ganz frisch, bläulichweiß geringelt wie ein Haufen Perlmuttketten. Andere waren blaurot und halb verrottet, oder schon so verdorrt wie Trockenblumen. Und jenseits der Räderspuren lagen die weggeschleuderten Erdhunde, als hätten ihnen die Räder nichts angetan, als würden sie schlafen. Karli Halmen sagte: Tot sehen sie aus wie Bügeleisen. Nie und nimmer sahen sie aus wie Bügeleisen. Dass er an so etwas dachte, ich hatte dieses Wort schon vergessen.
Es gab Tage, an denen die Erdhunde zu wenig Angst vor den Rädern hatten. Vielleicht hatte der Wind an solchen Tagen denselben Sog wie der Autolärm und verwirrte ihre Instinkte. Wenn die Räder auf sie zukamen, liefen sie, aber benommen und keinesfalls um ihr Leben. Ich war mir sicher, dass Kobelian sich nie die Mühe machte, einem Erdhund auszuweichen. Und genauso sicher, dass er noch nie einen überfahren hatte, noch nie hatte einer unter den Rädern gequiekt. Dieses hohe Pfeifen hätte man auch nicht gehört, weil der Lancia zu laut war.
Trotzdem weiß ich, wie ein Erdhund unterm Auto pfeift, weil ich es bei jeder Fahrt im Kopf höre. Kurz, herzzerreißend, drei Silben hintereinander pfeift er: Hasoweh. Wie wenn man ihn mit der Schaufel erschlägt, genauso, weil es genauso schnell geht. Und ich weiß auch, wie an dieser Stelle die Erde erschrickt und kreisrund vibriert, genauso wie ein dicker Stein ins Wasser fällt. Ich weiß auch, wie einem gleich danach die Lippe brennt, weil man draufbeißt, wenn man ihn mit einem Hieb und aller Kraft getroffen hat.
Seitdem ich ihn liegengelassen habe, rede ich mir ein, dass man Erdhunde nicht essen kann, auch wenn man für die lebenden keine Spur von Mitleid und vor den toten kein bisschen Ekel hat. Falls ich es hätte, würden sich Mitleid und Ekel nicht um die Erdhunde scheren, sondern um mich. Es wäre nur Ekel vor meinem Zaudern aus Mitleid, nicht vor dem Erdhund.
Aber wenn Karli und ich nächstes Mal Zeit hätten, wenn wir aussteigen könnten, bis Kobelian seine drei vier Säcke vollgestopft hätte mit jungem Gras für seine Ziegen, wenn wir so lange Zeit hätten. Ich glaube, dass Karli Halmen nicht mitmachen würde, weil ich dabei bin. Ich müsste die Zeit vergeuden und ihm gut zureden, bis es fast zu spät wäre, wenn wir nächstes Mal Zeit hätten. Vor einem Erdhund muss man sich nicht schämen, müsste ich sagen, und nicht vor der Steppe. Ich glaube, er würde sich vor sich selber genieren, jedenfalls mehr als ich mich vor mir. Und mehr als ich vor Kobelian. Ich müsste ihn wahrscheinlich fragen, wieso er Kobelian zum Maßstab macht. Ich bin überzeugt, wenn Kobelian so weit wie wir von zu Hause weg wäre, würde er Erdhunde essen, müsste ich sagen.
Manche Tage waren nur niedergewalzte braunlackierte Grasbüschel in der Steppe, von einem Tag auf den andern. Und die Wolken waren alle geschmolzen von einem Tag auf den andern. Es blieben nur die mageren Kraniche oben im Himmel und die wilden fetten Schmeißfliegen auf der Erde. Aber es lag kein einziger toter Erdhund im Gras.
Wo sind sie, würde ich Karli fragen. Schau doch, die Russen, warum gehen so viele zu Fuß durch die Steppe und bücken sich. Eine Zeitlang bleiben sie sitzen. Glaubst du, die ruhen sich aus, die sind alle müd. Die haben auch so ein Nest im Schädel wie wir, denselben leeren Bauch haben die wie wir. Die Russen haben auch ihre Wege. Und mehr Zeit als wir, die sind hier in der Steppe zu Hause. Kobelian hat nichts dagegen. Wieso liegt neben der Fußbremse immer eine kurzstielige Schaufel in der Kabine, das Gras rupft er doch mit der Hand. Wenn wir nicht dabei sind, steigt er nicht nur für Ziegengras aus, würde ich zu Karli sagen und bräuchte nicht zu lügen, weil ich die Wahrheit gar nicht weiß. Selbst wenn ich sie wüsste, wär es nur die eine Wahrheit, und das Gegenteil wäre die andere. Auch du und ich sind mit Kobelian anders als ohne ihn, würde ich sagen. Auch ich bin anders ohne dich. Nur du bildest dir ein, dass du nie anders bist. Beim Brotstehlen warst du doch anders und ich war anders und alle anderen auch — aber das würde ich niemals sagen, weil es ein Vorwurf wäre.
Pelz stinkt, wenn er verbrennt. Ich häute das Fleisch, mach du schnell das Feuer, würde ich sagen, wenn Karli Halmen zuletzt doch mitmachen würde.
Karli Halmen und ich sind immer wieder mit Kobelian quer über die Steppe gefahren. Auch eine Woche danach standen wir auf dem Lancia oben. Die Luft war blass, das Gras orange, die Sonne drehte die Steppe in den Spätherbst. Die überfahrenen Erdhunde waren vom Nachtreif gezuckert. Wir fuhren an einem alten Mann vorbei. Er stand im Staubwirbel und winkte uns mit einer Schaufel. Sie hatte einen kurzen Stiel. Auf seiner Schulter hing ein Sack, der war nur viertelvoll und schwer. Karli sagte: Der holt kein Gras. Wenn wir nächstes Mal Zeit hätten, wenn wir aussteigen könnten. Kobelian hätte nichts dagegen, aber du willst doch zartfühlend sein, du würdest nie mitmachen.
Man sagt nicht umsonst blinder Hunger. Karli Halmen und ich wussten nicht viel voneinander. Wir waren zu viel zusammen. Und Kobelian wusste nichts von uns und wir nichts von ihm. Wir waren alle anders, als wir sind.
Kurz vor Weihnachten saß ich bei Kobelian in der Kabine. Es wurde dunkel, und wir machten noch eine Schwarzfahrt zu seinem Bruder. Wir hatten Kohle geladen.
Mit der Bahnhofsruine und dem Kopfsteinpflaster begann ein Städtchen. Wir bogen in eine holprige, krumme Randstraße ein. Am Himmel war noch ein Streifen hell, hinter einem gusseisernen Zaun standen Tannenbäume — nachtschwarz schlank und spitz, hoch über alles hinaus waren sie deutlich zu sehen. Drei Häuser weiter hielt Kobelian.
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