Das Brot war nicht da, und Karli Halmen saß in der Unterwäsche auf seinem Bett. Albert Gion brachte sich vor ihm in Stellung und gab ihm, ohne ein Wort, drei Fäuste auf den Mund. Karli Halmen spuckte, ohne ein Wort, zwei Zähne aufs Bett. Der Akkordeonspieler führte Karli am Nacken zum Wassereimer und drückte seinen Kopf unters Wasser. Es blubberte aus Mund und Nase, dann röchelte es, dann wurde es still. Der Trommler zog den Kopf aus dem Wasser und würgte ihm den Hals, bis Karlis Mund so hässlich zuckte wie Fenjas Mund. Ich stieß den Trommler weg, zog aber meinen Holzschuh aus. Und es hob mir derart die Hand, dass ich den Brotdieb beinah totgeschlagen hätte. Der Advokat Paul Gast hatte bis dahin von seinem Bett oben zugeschaut. Er sprang mir auf den Rücken, riss mir den Schuh weg und warf ihn an die Wand. Karli Halmen lag angepisst neben dem Eimer und kotzte Brotschleim.
Mir hatte die Mordlust den Verstand geschluckt. Nicht nur mir, wir waren eine Meute. Wir schleppten den Karli in der blutigen, verpissten Unterwäsche neben die Baracke hinaus in die Nacht. Es war Februar. Wir stellten ihn an die Barackenwand, er torkelte und fiel um. Ohne Absprache öffneten der Trommler und ich die Hosen, dann auch der Albert Gion und alle anderen. Und weil wir schon mal vor dem Schlafengehen waren, pissten wir Karli Halmen nacheinander ins Gesicht. Auch der Advokat Paul Gast machte mit. Zwei Wachhunde bellten, hinter ihnen kam ein Wachmann angerannt. Die Hunde rochen das Blut und knurrten, der Wachmann fluchte. Der Advokat und der Wachmann trugen Karli zur Krankenbaracke. Wir schauten ihnen hinterher und rieben uns mit Schnee das Blut von den Händen.
Alle gingen stumm in die Baracke und krochen in die Betten. Ich hatte einen Blutfleck am Handgelenk, drehte ihn zum Licht und dachte, wie hellrot Karlis Blut ist, wie Siegellack, gottseidank aus der Ader, nicht aus der Vene. In der Baracke war es mucksstill, und ich hörte in der Kuckucksuhr den Gummiwurm schnarren, nah wie aus meinem eigenen Kopf. Ich dachte nicht mehr an Karli Halmen, auch nicht an Fenjas unendlich weißes Leintuch, nicht einmal an das unerreichbare Brot. Ich fiel in einen tiefen ruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen war das Bett von Karli Halmen leer. Wir gingen wie immer zur Kantine. Auch der Schnee war leer und nicht mehr rot, es hatte frisch geschneit. Karli Halmen lag zwei Tage in der Krankenbaracke. Danach saß er mit eitrigen Wunden, zugeschwollenen Augen und blauen Lippen wieder zwischen uns in der Kantine. Die Sache mit dem Brot hatte sich erledigt, alle verhielten sich wie immer.
Wir haben Karli Halmen den Diebstahl nicht vorgehalten. Und er hat uns die Strafe nie vorgeworfen. Er wusste, er hat sie verdient. Das Brotgericht verhandelt nicht, es bestraft. Die Nullgrenze kennt keine Paragraphen, sie braucht kein Gesetz. Sie ist eines, weil der Hungerengel auch ein Dieb ist, der das Hirn stiehlt. Die Brotgerechtigkeit hat kein Vor- und kein Nachspiel, sie ist nur Gegenwart. Total durchsichtig oder total geheimnisvoll. Auf jeden Fall ist die Brotgerechtigkeit anders gewalttätig als hungerlose Gewalt. Dem Brotgericht kann man nicht kommen mit der gängigen Moral.
Die Zeit des Brotgerichts war im Februar. Im April saß Karli Halmen bei Oswald Enyeter in der Rasierstube auf dem Stuhl, seine Wunden waren heil, sein Bart gewachsen, wie zertrampeltes Gras. Und ich war nach ihm dran und wartete hinter ihm im Spiegel, wie Tur Prikulitsch sonst hinter mir stand. Der Rasierer legte seine pelzigen Hände auf Karlis Schultern und fragte: Seit wann fehlen uns vorn die zwei Zähne. Weder zu mir noch zum Rasierer, nur zu den pelzigen Händen sagte Karli Halmen: Seit dem Kriminalfall mit dem Brot.
Als sein Bart abrasiert war, setzte ich mich auf den Stuhl. Es war das einzige Mal, dass Oswald Enyeter beim Rasieren eine Art Serenade pfiff und aus dem Schaum ein Fleckchen Blut quoll. Nicht hellrot wie Siegellack, sondern dunkelrot, wie eine Himbeere im Schnee.
Wenn der Hunger am größten ist, reden wir von der Kindheit und vom Essen. Die Frauen reden ausführlicher vom Essen als die Männer. Am ausführlichsten reden die Frauen aus den Dörfern. Bei ihnen hat jedes Kochrezept mindestens drei Akte, wie ein Theaterstück. Durch die verschiedenen Ansichten über die Zutaten wächst die Spannung. Sie steigert sich rasant, wenn in die Füllung aus Speck, Brot und Ei keinesfalls nur eine halbe, sondern eine ganze Zwiebel, und nicht nur vier, sondern sechs Knoblauchzehen gehören und wenn die Zwiebeln und der Knoblauch nicht nur gehackt, sondern gerieben werden. Und wenn Semmelbrösel besser sind als Brot und Kümmel besser ist als Pfeffer und Majoran sowieso das Beste, sogar besser als Estragon, der doch zu Fisch passt, nicht zu Ente. Wenn die Füllung zwischen Haut und Fleisch geschoben werden muss, damit das Hautfett beim Braten einsickern kann, oder unbedingt in die Bauchhöhle geschoben werden muss, damit sie beim Braten nicht das Hautfett saufen kann, hat das Theaterstück seinen Höhepunkt erreicht. Manchmal behält die evangelisch gefüllte Ente recht, manchmal die katholisch gefüllte.
Und wenn die Frauen vom Dorf mit Wörtern Suppennudeln machen, dauert das sicher eine halbe Stunde, bis die Anzahl der Eier und das Rühren mit dem Löffel oder kneten mit der Hand besprochen ist, bis der Nudelteig glasdünn gewalkt und trotzdem nicht zerrissen und auf dem Nudelbrett getrocknet ist. Bis er dann gewickelt und geschnitten ist, bis die Nudeln dann vom Nudelbrett in die Suppe kommen, bis die Suppe langsam und ruhig oder kurz und aufwallend gekocht ist, bis sie serviert und eine gute Handvoll oder nur eine spitze Pfote frischgehackte Petersilie draufgestreut wird, dauert es noch mal eine Viertelstunde.
Die Frauen aus der Stadt verhandeln nicht, wie viele Eier man für den Nudelteig nimmt, sondern wie viele man sparen kann. Und weil sie ständig an allem sparen, taugen ihre Kochrezepte nicht einmal für den Prolog eines Theaterstücks.
Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: Man nehme. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.
Es ist ein Spießrutenlauf, bis man in der Frauenbaracke sitzt. Beim Eintreten muss man, bevor man gefragt wird, sagen, wen man sucht. Am besten fragt man selbst: Ist die Trudi da. Und während man fragt, geht man am besten schon nach links, dritte Reihe, auf das Bett der Trudi Pelikan zu. Die Betten sind einstöckige Eisengestelle wie in den Männerbaracken. Manche Betten sind mit Decken zugehängt für die Abendliebe. Ich will nie hinter die Decke, ich will nur Kochrezepte. Die Frauen glauben, dass ich zu schüchtern bin, weil ich einmal Bücher hatte. Sie meinen, lesen macht delikat.
Meine mitgebrachten Bücher habe ich im Lager nie gelesen. Papier ist streng verboten, den ersten halben Sommer habe ich meine Bücher hinter der Baracke unter Ziegelsteinen versteckt. Und dann verschachert. Für 50 Seiten Zarathustra-Zigarettenpapier habe ich 1 Maß Salz bekommen, für 70 Seiten sogar 1 Maß Zucker. Für den ganzen Faust in Leinen hat der Peter Schiel mir einen eigenen Läusekamm aus Blech gemacht. Die Sammlung Lyrik aus acht Jahrhunderten habe ich in Form von Maismehl und Schweineschmalz gegessen und den schmalen Weinheber in Hirse verwandelt. Davon wird man nicht delikat, nur diskret.
Diskret schau ich mir nach der Arbeit die jungen Dienstrussen unter der Dusche an. So diskret, dass ich selbst nicht mehr weiß, warum. Die würden mich totschlagen, wenn ich es wüsste.
Ich war wieder nicht standhaft. Ich hab mein ganzes Brot zum Frühstück gegessen. Ich sitze wieder in der Frauenbaracke neben der Trudi Pelikan auf der Bettkante. Die zwei Zirris kommen dazu und setzen sich vis-à-vis aufs Bett von der Corina Marcu. Sie ist seit Wochen auf dem Kolchos. Ich schau mir die goldenen Härchen und die dunkle Warze auf den mageren Fingern der beiden Zirris an und erzähle, um nicht gleich vom Essen zu reden, von der Kindheit.
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