Täglich derselbe Stumpfsinn, das machte Herrn von Schnaub-Villalila nicht nur beim Brötchenkaufen, sondern insgesamt und überhaupt wahnsinnig.
Die Sache mit seinem Namen zum Beispiel: Immer wieder begegnete er im Laufe seiner eigentlich sehr interessanten Tätigkeit irgendwelchen Idioten, die es nicht lassen konnten, ungefähr so an ihn heranzutreten:»Ryu von Schnaub-Villalila, das ist ja ein sehr exotischer Name, woher haben Sie den denn?«
Von Manufactum.
Bei eBay gewonnen.
Vom Imperator zugeteilt.
Woher kriegt man denn Namen, ihr Butterköpfe?
Mit frühchristlicher Engelsgeduld aber sagte Ryu jedesmal sein Sprüchlein auf, von wegen japanische Mutter, adliger deutscher Vater, diplomatischer Dienst, diverse italienische Vorfahren…
Sechsunddreißig Jahre alt, Angestellter eines internationalen Finanzdienstleisters, dort zuständig für Kulturförderung, Ausstellungsmanagement, Preisjuryarbeit, Stiftungsrecht, sonst noch was?
Sie wollten in Wirklichkeit natürlich überhaupt nichts wissen. Denen war bloß langweilig, mit sich, legitimerweise. Weshalb bade ich das aus? Weil ich dafür bezahlt werde. Und zwar unverschämt hoch.
Ryu gehörte nicht zu den Menschen, die unter solchen Umständen anfingen, sich Gedanken darüber zu machen, daß es doch mehr geben müßte, wer weiß… Er drehte lieber vor der Bahnhofsbackwarentheke durch.
Immerhin, das Mädchen hier — kräftig gebaut, pfirsichrote Backen, ziemlich hübsch eigentlich — war noch nicht völlig abgestorben und deshalb in der Lage, sich gegen den Auftritt zu wehren:»Hören Sie mal, was wollen Sie denn? Ich hab Sie nur gefragt, was es sonst noch sein darf. Also sagen Sie mir's, oder bezahlen Sie das Brötchen. «Vereinzelte Zustimmung aus der Schlange hinter Ryu überspülte sein Rückgrat als eine Art Schamwelle, er wußte einen verstörten Moment lang gar nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Da legte an ihm vorbei eine Hand mit wertvollen Ringen (das sah er gleich, dafür hatte er ein Auge) einen Fünf-Euro-Schein aufs Geldschälchen. Eine Stimme, voll und männlich, sagte, viel zu dicht an Ryus linkem Ohr:»Kommen Sie, was zu trinken kriegen Sie bei mir«, und dann, lauter und befehlsgewohnt, zum Mädchen:»Stimmt so.«
Ryu kannte den etwa fünfzig Jahre alten Mann im dunklen Winteranzug und leichten Mantel zwar nicht, aber das väterliche Lächeln, die leicht versoffenen, dennoch klaren Augen, das sanfte» Hmm, wollen wir«, mit dem er ihn plötzlich durch die große Halle, ja, was — schob? zog? — , dies alles legte Ryu nahe, daß er ihn eigentlich hätte kennen müssen. Der hier war wichtig.
«Ich hab ähm Termine«, sagte Ryu schwächlich, wie einer, der Anstalten macht, sich einer Verführung zu verweigern, die er in Wahrheit wünscht. Die Halle war plötzlich ein einziger Grusel: Dem Kind da hing Rotz aus der Nase, die Luft roch nach toten Maden, zwei Männer, die Besteck verkauften, waren ganz sicher Mörder, die Teenager lachten verdorben, das Zugpersonal wählte Hitler.
Ryu war mitunter für diese Art Schrecken mitten im Gewöhnlichsten überaus empfänglich.
Einmal, beim Lesen der» Ermittlung «von Peter Weiss, war ihm an der Stelle plötzlich schlecht geworden, wo eine ehemalige Nazigröße dem Gericht mitteilt, sie» sammle Porzellan Gemälde Stiche / sowie Gegenstände bäuerlichen Brauchtums«. Reichlich unerbeten hatte sich daran in Ryus Kopf die Frage entzündet, ob das nicht genau Ryus Kundschaft war, ob nicht die Kunstsinnigen von heute die Massenmörder und ihre Finanziers von morgen waren, so wie die Schöngeister von gestern die Massenmörder und ihre Finanziers von vorgestern gewesen waren.
Genauer hinsehen: Einer der beiden Besteckverkäufer hatte keinen natürlichen Unterkiefer, sondern irgend etwas Künstliches überm Hals hängen (Porzellan Gemälde Stiche), und die Mädchen, die so kreischten, waren teils blaß, als würden sie gerade ausgeblendet, und der Rotz auf der Oberlippe des Kindes schien blutig.»Sehen Sie das auch? Wir sollten schnell hier weg«, sagte der Mann, von dem Ryu plötzlich dachte: Mein Chef. Mein… König? Klang richtig. Wie das?
Freilich, wir sollten schnell hier weg, aber was ist eigentlich» hier «und wer sind» wir«, bin ich Faust, ist er Mephisto, Einflüsterer aus dem großen Ganzwoanders, der mir Geheimnisse zeigen wird, die ich vielleicht lieber gar nicht wissen will?» Ein Geschäft«, sagte der Fremde.»Ich brauche Sie, damit Sie mir ein Geschäft vermitteln. Ich will jemanden in mein Projekt holen, eine Person, die Sachen in… Geräuschen verstecken kann. Sie redet nicht mit Wissenschaftlern, die aus ihren Forschungen viel Geld gemacht haben, aus eigenen Patenten, via Startup-Unternehmen. Sie redet nicht mit mir, verstehen Sie? Sie redet nur mit dem Geld direkt, oder mit erkennbar autorisierten Beauftragten des Geldes. Das verkürzt den Handel, und fürs Verkürzen hat sie viel übrig. «Eine lange, merkwürdig vertrauliche, ganz offene Erklärung, bei der verzwickte Sachverhalte bündig dargelegt worden waren, fand Ryu, noch immer wie im Traum, und wunderte sich über die Leute, durch die sie hindurchgingen oder die durch sie hindurchgingen, sowie darüber, daß das zum Teil gar keine Leute waren, sondern Frauen in großen Muschelanzügen, in Gehäusen mit zu vielen Armen und Beinen, wie aus dem computergenerierten Science-fiction-Film, und daß das Dach der Halle manchmal verschwand, um einem freien Himmel Platz zu machen, an dem es einerseits heller blauer Tag, andererseits tiefe Nacht war.

Worüber wundere ich mich gerade?
Ich wundere mich über die Umstände, über meinen Entführer und dessen erstaunliche Reden, aber am allermeisten darüber, daß man diese Reden gar nicht hören kann, denn wenn ich es mir recht überlege, nehme ich sie ganz anders wahr, als ich sollte, nämlich durch die Nase: Was der da spricht, das sagt sein Rasierwasser, das ist ein Duft.
Ryu nahm sein Brötchen im Gehen aus der Knistertüte und biß herzhaft hinein, hauptsächlich, um herauszufinden, ob Dreikornbrötchen auch noch schmeckten, wenn man gerade wahnsinnig wurde.
2. Verlaufskurve
Es hatte diese Zwischenfälle zu allen Zeiten gegeben, nicht nur während der Langeweile, auch davor und danach. Die Menschen waren die einzigen Wesen, die sich beharrlich weigerten, solche Ereignisse für voll zu nehmen, wenn sie ihnen begegneten; es sei denn, das betreffende Ereignis spielte sich in ihren eigenen Hirnen ab, etwa in dem des Mathematikers und Physikers Theodor Kaluza, als der die sogenannte fünfte Dimension ins Nachdenken übers sogenannte Raum-Zeit-Kontinuum einführte.
Froschregen, Fische in der Wüste, sprechende Esel, Drachen am Rand mittelalterlicher Sümpfe, Werwölfe, Vampire, Incubi und Succubi, spontane Selbstentzündung von Personen, Reflexe höher- wie niederdimensionaler Wirklichkeiten überall, Götter mit Habichtshäuptern, Einhörner im Einkaufszentrum, Zwerge, Riesen, Witzfiguren, die nicht witzig waren, und ein bißchen ernste Wahrheit nistete sogar im Spiritismus.

Auf dem Höhepunkt einer Tirade gegen die Jakobiner erblickte ein loyalistischer Redner an der Stelle, wo eigentlich das Wappen des legitimen Herrscherhauses hätte sein müssen, das Zeichen des Löwen Cyrus Golden und fing, anstatt zu verstehen, was ihm die Welt damit sagen wollte, ganz furchtbar an zu lachen, was auf den ebenfalls anwesenden Maximilien Robespierre einen bleibenden, mehrere spätere Entscheidungen und Gedanken prägenden Eindruck hinterließ.
Die Apollo 13 -Mondmission kehrte in Wirklichkeit nicht wegen der bekannten technischen Schwierigkeiten ohne Landung wieder auf die Erde zurück, sondern weil die Astronauten auf dem Mond aus der Ferne einen Bautrupp der Gente beobachtet hatten, der gerade damit beschäftigt war, die erste Basis zu errichten — ein gegen den Zeitpfeil ausgesandtes Echo, das bei unmittelbar darauf folgender Überprüfung durch Sonden der NASA keinerlei Spuren hinterlassen hatte und also wohl (so das offizielle Abschlußdokument der geheimen Untersuchungskommission)»not really there «gewesen sei.
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