Kaum trat die Mutter ihre Pensionszeit an, wurde nicht nur das Geld knapp — der Vater, besiegt von seiner Entlassung, schaffte frei nichts mehr heran —, sondern auch noch ein fieser Blutkrebs bei ihr diagnostiziert. Gegen den mutete man ihr, unter voller Anteilnahme des Ehemanns, Enkels, Sohnes und dessen Freundin, eine nahezu tödliche Therapie zu, die zweimal abgebrochen wurde, bis sie zu einer wackligen Art von Erfolg führte. Kaum hatte sie sich hinreichend gefangen, entdeckte man beim Gatten nunmehr Lungen- und Speiseröhrenkrebs, und zwar einen schnellen.
Innerhalb weniger Wochen und nach einem erfolglosen Angriff der stationären Medizin auf die Wucherungen war der Mann ein Pflegefall, kehrte im Rollstuhl, mit Atemgerät und zur selbständigen Nahrungsaufnahme unfähig nach Hause zurück und war dort eine Last für sie, die dem Tod eben hatte entkommen können — immerhin, sagte Katja zu Cordula am Telefon, als die ihr angekündigt hatte, sie werde ihre laufende Konzerttournee jener Tage unterbrechen, um in der Kleinstadt für Katja da zu sein,»wird es wohl… alles in allem… nicht lange dauern«.
«Was heißt nicht lange?«fragte Cordula und bereute die Frage im selben Moment.
«Na ja«, sagte Katja, hörbar müde bis an die Grenze zum Wachkoma,»wenn du ihn noch mal sehen willst, nimmst du besser den nächsten Zug.«
Was antwortete man da?
Cordula kam nicht dazu:»Außerdem, wo wir grad bei super Nachrichten sind«, die Komponistin konnte das sexy sarkastische Grinsen der Geliebten direkt vor sich sehen, ja, sie meinte, man hörte es sogar, bei dieser Stimmlage,»von Stefan und mir gibt es auch Neuigkeiten.«
«Was denn«, witzelte Cordula, um den Horror ein bißchen aufzuhellen,»bist du schwanger?«
Katja lachte humorlos:»Wie hast du das nur wieder erraten, Bienchen?«
In der bis zum Wahnsinn einsamen, eifersüchtigen und schmerzlichen Nacht, die auf dieses Telefonat folgte, kam sich Cordula Späth hauptsächlich wie die letzte Sau vor: Wie kann ich rasen, über diese Nachricht, wenn doch der arme Großvater des vorgesehenen Kindes gerade viel größere Probleme hat als ich mit meinem verrückten Besitzanspruch auf die Süße? Was bin denn bitte ich für ein Monster?
Sie fuhr dann tatsächlich mit dem berühmten nächsten Zug, war der Süßen eine Stütze und zu Stefan mitfühlend nett, aber eine Woche danach schrieb sie Katja eine E-Mail, in der die ganze Verbocktheit der Lage, die ganze Sehnsucht und Aussichtslosigkeit zu unkontrolliertem Textgebrüll geballt waren.
Katjas Antwort, immerhin, kam sehr schnell: Cordula müsse verstehen, es gehe eben nicht, beziehungsweise sei quälend und verwirrend, denn sie, Katja, liebe Stefan, aber:»Ich mag dich sehr sehr. Bei mehr, nur dem Gedanken, zerreißt mein Herz vor Glück und Angst.«
Der Satz mit den beiden» sehr«, das begriff Cordula, die ja nicht dumm war, sofort, als sie ihn das erste Mal las, war natürlich das Schönste, und aufgrund des Zusammenhangs zugleich das Traurigste, was ihr je überhaupt ein Mensch mitgeteilt hatte: Liebe, die vor sich selber Angst hat, sie könnte zu groß sein.
Daß aber das Schönste und das Traurigste so eng beieinanderlagen, ja daß diese zwei ineinander verbissen waren wie kämpfende Krokodile, verriet der Künstlerin furchtbar Eindeutiges über die Lage des Menschengeschlechts und ließ sie nur noch entschlossener dem tatsächlichen Zustand einen künstlichen entgegenstemmen, mit dem ganzen bißchen Menschenkraft, das sie hatte.
Von den anderen Menschen, denen es ja im Grunde allen auch so ging, nämlich völlig anders, aber schlecht, war erkennbar keine Hilfe zu erwarten. Ihr Vorstellungsvermögen hatte einen gefährlichen Knick; sie hielten generell von der Wirklichkeit viel mehr als von der Wahrheit.
Cordula wußte, daß sie von solchen nichts erhoffen durfte.
Deshalb nahm sie das Angebot des Löwen an.
7. Metamorphologie
«Welches Tier, Frau Späth?«fragte der Löwe bei einem der wenigen persönlichen Treffen auf seinem Landgut in Boleskine, Schottland, im Gewächshaus, wo er den Rosengarten pflegte, seine duftende Spazier- und Gedankengalerie.»Was wären Sie gern?«
«Verrat ich nicht. Sie selber, na, das weiß ich ja.«
«Ach?«Er lächelte, roch an einer gelben Blüte, wandte sich ihr zu.»Was wissen Sie denn sonst noch so, von mir?«Sie steckte den Daumen in ihren breiten Nietengürtel, maß den Mann, der bald kein Mann mehr sein würde, mit viel Sympathie, und sagte:»Sie gehen nicht immer so stocksteif und tragen sich nicht immer so aristokratisch wie hier und vor mir, das weiß ich zum Beispiel. Obwohl ich's nie gesehen habe. Nach langen Arbeitsstunden im Labor schleppen Sie sich wie ein leidendes altes Weib hoch ins Bett.«
«Hoch?«
«Oder runter. Auf ein anderes Stockwerk jedenfalls.«
Er nickte,»Was noch?«
«Sie erscheinen auf Meetings mit Ihren Leuten niemals in Begleitung von Adjutanten oder Helfern wie Schnaub-Villalila, sondern immer allein, um den Moment zu genießen, nein: um denen, zu denen Sie kommen, zu erlauben, den Moment Ihres Auftritts zu genießen, als was Erhebendes. Eine Art Motivationstechnik. Und dann scheißen Sie die Leute manchmal so brutal zusammen, daß die wie zerbrochenes Spielzeug liegen bleiben, ein Trümmerfeld. Danach drehen Sie sich einfach um und gehen. Sie fahren zwischen die Schlafenden wie ein blutiger Wirbelsturm, und dann wieder führen Sie sich auf wie ein heiliger Mann, der Vergebung und Erlösung den Leuten aufs Auge drückt, mit aller Gewalt, aller Überredung und aller List. Sie sind mindestens so schwul, wie ich lesbisch bin, wenn nicht schwuler, und haben wesentlich mehr Erfolg bei Ihrem Liebeswerben. Aber wenn's geklappt hat, wissen Sie schnell nicht mehr, was Sie mit diesem Erfolg anstellen sollen. Sie haben ein vergleichsweise kaltes Herz, aber dafür ein glühend heißes Hirn, so daß Ihnen manchmal der Dampf aus den Ohren rauskommt. Sie arbeiten hart, damit Sie ein Löwe werden können und nicht eine Schlange bleiben müssen. «Er nahm sie bei der Hand; sie ließ es geschehen. Er sagte:»Woher, wenn ich so eine dumme Frage stellen darf, wissen Sie so viel über das, was ich bin, nein: was ich tue?«
«Weil wir uns sehr ähneln, natürlich, und weil ich also ganz dasselbe tun würde, wenn ich nicht glücklicherweise lieber Kunst machen würde als… ihgitt… Politik.«
8. Das gute Leben
Soweit es Ryu von Schnaub-Villalila betraf, machte er das Beste draus und kaufte sich schließlich sogar eine lila Villa, das heißt, sie war erst weiß, dann ließ er sie anmalen, um ganz Hamburg-Blankenese damit zu ärgern, was ihm mühelos gelang.
Alles geschah nach Plan: Er war aus seiner alten Firma ausgeschieden. Nach einer Weile mochte ein Wirtschaftsprüfer, der sich die Verflechtungen besah, die Ryu für den Löwen flocht und wieder auflöste, je nach Fortschritt des großen Werks, gar annehmen, daß inzwischen der Löwe und sein Biopharmaunternehmen für Ryu schufteten statt umgekehrt — dafür nämlich, daß Ryu den ganzen Tag Schöngeistiges und Grundlagenforscherisches begutachten, koordinieren, finanzieren durfte.
Der Herr als Knecht des Knechts — darüber sollten sich andere die Köpfe zerbrechen, Wirtschaftsprüfer und Marxisten, Ryu aber sagte sich:»Wirklich, ich mach das Beste draus«, manchmal sogar beim Rasieren, morgens, und der andere Ryu im Spiegel war seiner Meinung.
Die Geldvernunft, in deren Parametern der Finanzier agierte, schien ihm die vernünftigste Vernunft, die im Diesseits zu haben war. Das Schönste fand er, daß er allmählich ein sehr freies, sehr fungibles Verhältnis zur eigenen Identität bekam und sich nicht mal mehr besonders dran störte, daß selbst seine rund um den Erdball verteilten Leidenschaften (mit Teresa in Santiago, mit Ellen May in Kapstadt, mit Miss Emma Frost (delectable!) im Hellfire Club von Westchester oder dem engelhaften Umberto in Mailand, der ihm danach, während der Mond seinen höchsten Punkt erreichte, auf dem Balkon stundenlang aus D'Annunzio vorlas, und Ryu verstand kein Wort) der Differenzierung von Person und Besitz gehorchen mußten, weil er eben» vermögend «war und immer vermögender wurde, als Katalysator einer großen Weltveränderung, die er bei sich» die Beseitigung der Langeweile und die Überwindung des Menschen «zu nennen begonnen hatte.
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