« Go on , es wird allmählich witziger«, sagte Cordula Späth. Jetzt hatte er sie. Auf diesem neuen Spielfeld, dem des, nun ja, beiderseitigen Interessiertseins nämlich, wußte er sich zu bewegen.»Gut, also mein Auftraggeber sagt: Vielleicht ist die Nichtsprachlichkeit von Musik eine Parasprachlichkeit, wie etwa bei der Mathematik — die ist ja nicht nur eine Sprache, sondern auch der Gegenstandsbereich einer Sprache — die Zahl ›1‹ ist ein mathematischer Ausdruck, dem außerhalb der Mathematik gar kein ähm… ontischer Status zukommt, es gibt höchstens einen Apfel oder einen Krieg oder einen Menschen, aber keine Eins.«
«Mathematik…«, sie schien die Idee zu kosten wie ein Zungenspitzchen LSD.
«Ja, oder vielleicht noch treffender — meint mein Auftraggeber, unter Berufung auf denselben Philosophen…«
«Heißt Bobby Brandom und sieht aus wie der Nikolaus. Sein style ist neu und macht mir Spaß, er nennt das Inferentialismus.«
«Okay, also, noch treffender: Vielleicht ist sie — die Musik — so etwas Ähnliches wie das Vokabular der Logik. Logik ist ja weniger eine Objektsprache, also eine Sprache, die Dinge und Sachverhalte ausdrückt, als vielmehr ein Instrument zum Explitzitmachen der… der fundamentalen semantischen und pragmatischen Strukturen einer diskursiven Praxis. Und analog dazu könnte dann die Musik die Funktion haben, die fundamentalen Strukturen des raumzeitlichen Erlebens explizit zu machen. Da sie sich ja in der Zeit abspielt, darauf angewiesen ist wie kaum eine andere Kunst, und andererseits sehr leicht die Illusion von Räumen erzeugen kann. Musik wäre dann die eigentliche Dimensionskunst, und wenn man das, was sie kann, dazu benutzen würde, eine neue…«
«Er will, daß ich Musik schreibe, mit der man durch die Zeit reisen oder durch den Raum springen kann, damit…«
«Ehrlich gesagt, er will, wenn ich ihn zitieren darf, mit Ihrer Hilfe ein defensives Waffensystem bauen. In Form eines Liebesweihefestspiels. Ein Kunstwerk für Flucht und Ausweichen, um damit ein offensives Waffensystem zu ergänzen, das er schon besitzt und das… biochemischer Natur ist.«
«Ein offensives…«, sie lächelte, nickte, als wolle sie gleich damit beginnen, sich Notizen zu machen, als habe sie den Auftrag bereits angenommen, als gebe es keinen Weg zurück zu Anstand und Unschuld mehr.
«Viel mehr kann ich Ihnen nicht sagen, außer, daß er Sie für eine ausreichend allseitig… kundige… Person hält, um davon auszugehen, ich könnte Sie damit beeindrucken, wenn ich Ihnen mitteilte, daß das offensive Waffensystem als eine seiner wichtigsten äh… Komponenten ein… intelligentes Mutagen aufweist, welches das phylogenetische Gedächtnis anzapfen kann, um Phänotypen von… Lebewesen…«
«Wie heißt der Onkel, Doktor Moreau?«
Sie stand auf, ging zu einem Regal, nahm ein Filofaxmäppchen raus, warf es Ryu in den Schoß:»Da schreibst du jetzt die Summe rein. Und eine Telefonnummer — gib mir keine Visitenkarte, ich schmeiß den Mist eh gleich weg. Dann denk ich drüber nach. Don't call us, we'll call you .«
«Gut…«, und Stufe Vier, das Zuckerstückchen,»… aber eins muß ich noch ergänzen. Er bietet Ihnen einen Bonus, der sich nicht in Geldmitteln ausdrücken läßt. «Ryu war froh, daß er den Laden bald würde verlassen dürfen, er hatte seinen Kugelschreiber gezückt und begann, während er noch redete, schon aufzuschreiben, was sie wissen mußte.
«Toll, ideelle Werte. Ich schlaf gleich ein, falls…«
Stufe Fünf: Dem Gegenüber das Wort abschneiden, wenn anders Autorität nicht herzustellen ist:»Unsterblichkeit. Er bietet Ihnen die physische Unsterblichkeit an, Frau Späth.«
5. Der Löwe, drei Gleichnisse
«Nein, eine einzelne Person darf nicht entscheiden. Entscheidungen einer einzelnen Person sind immer oder fast immer einseitige Entscheidungen. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, mit deren Meinung man rechnen muß. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, die auch falsche Meinungen zum Ausdruck bringen können. Aufgrund der Erfahrungen von drei Revolutionen wissen wir, daß unter hundert Entscheidungen, die von einzelnen Personen getroffen und nicht kollektiv überprüft und berichtigt wurden, annähernd neunzig Entscheidungen einseitig sind.«
Josef Stalin
«If a group achieves enough togetherness to exercise agency as a group, over a period of time, perhaps we should, on just those grounds, conceive it as a living individual whose life extends over that period of time. I claimed that the continued existence of a person requires the continuation of an individual life. I never restricted the required individual life to the life of an individual human being. There was always a need to leave room for the possibility that, say, Martians or dolphins might be persons in the Lockean sense. So one line I could take, in defending my so-called ›animalism‹ against Rovane's appeal to group persons, would be to stress that the idea that does the work, in the position that is only awkwardly so called, is not the idea of an individual constituted as such by mere biology but the idea of a kind of continuity recognizable as the continuation of an individual life.«
John McDowell
«There are bright senses and dark senses. The bright senses, sight and hearing, make a world patent and ordered, a world of reason, fragile but lucid. The dark senses, smell and taste and touch, create a world of felt wisdom, without a plot, unarticulated but certain.«
John Crowley

6. Sündenfall
Sie war reif für die Verlockung der Unsterblichkeit und für noch manch andere, gefährlichere.
In nicht allzu vielen Jahren hatte sie viel zu viel gesehen, das sie nachgeben hieß.
Erst ein halbes Jahr vor Ryus Erscheinen in ihrem Tonstudio war ihr endgültig klargeworden, daß die eilige Katja (die sie bei sich, der Eingebung einer gemeinsamen Freundin folgend, das Wetzelchen nannte) und sie selbst miteinander nicht hatten, was man eine Zukunft nennt.
Denn erstens war Katja leider» einfach nicht lesbisch genug«(Cordula, im Tagebuch) — der damalige Beau der Eiligen hieß Stefan und war ein anständiger, kluger Kerl, aber, fand Cordula, andererseits eindeutig keine Frau und deshalb ein ganz schlechtes Zeichen. Zweitens aber ließ Katja das allgemeine Elend in regelmäßigen Abständen so nah an sich heran, wie das keine Künstlerin je geduldet und ertragen hätte, und da wurde Cordula, weil sie Katja so sehr liebte, dann immer mit hineingezogen, was schließlich selbst bei dieser so prinzipienfesten und starken Person dazu führte, daß ihr Charakterrückgrat ein bißchen ausleierte.
Die Intimität, die sich aus solchem Mitleidenmüssen zwangsläufig ergab, wurde nämlich nicht durch eine entsprechende Lustnähe belohnt — es gab ab und zu ein Küßchen, ab und zu ein unbeholfen süßes Zusammensein in irgendwelchen Betten, aber kein ordentliches Einanderauffressen.
Nie.
Die Sache mit Stefans Eltern zum Beispiel.
Das waren zwei brave Leute von geringem Stand und magerem Verdienst. Ihn hatte nach Jahrzehnten grauer Rackerei im Versicherungswesen die Arbeitslosigkeit ereilt, sie war schließlich in Rente gegangen, davor bei der katholischen Sozialfürsorge beschäftigt gewesen.
Stefan lebte längst nicht mehr bei ihnen, seine ältere Schwester, psychisch» durch den Wind«(Katja), versuchte es seit ein paar Jahren mit betreutem Wohnen, ihr Kind, also Stefans Neffe und der Enkel seiner Eltern, lebte bei diesen. Die beiden Alten waren keine übermäßig fanatischen Anhänger des herrschenden Systems, aber sie opponierten auch nicht —»normale Mitmacher«, fand Cordula, also Personen, die sich nie etwas hatten zuschulden kommen lassen, und natürlich (erkannte die Tragödin in der Komponistin rasch) war damit klar, daß sie zu denen gehören, die es unverhofft am härtesten trifft.
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