Winters waren die Rolläden vor den Fenstern der Pension Steiner herabgelassen. Kam man von der Straßenbahnhaltestelle, schimmerten die Lampen wie grüne und gelbe Augen durch die Jalousien, die schiefhingen und im Wind klirrten, dahinter wanderten Schatten auf und ab. In der Pension lebte ein ehemaliger Generalstäbler des Deutschen Afrikakorps’ Tür an Tür mit einem untersetzten Mann mit mächtigem schwarzgefärbtem Schnurrbart und rasiertem Schädel, der sich Hermann Schreiber nannte und von dem die Fama ging, er trage in Wahrheit einen russischen Namen und sei in seiner Jugend Spion im Dienst der zaristischen Geheimpolizei Ochrana und gleichzeitig der noch illegal arbeitenden Roten Truppen gewesen. Rumänen, Polen und Russen stiegen auf dem Weg zur Leipziger Messe gern in der Pension ab und feierten mit den Fremdsprachenkorrespondentinnen des Handelsbüros, die Russen manchmal auch mit Offizieren aus dem Lazarett der sowjetischen Streitkräfte, das früher ein Sanatorium gewesen war, berüchtigte Feste. Gegenüber der Pension, auf der anderen Seite der Turmstraße, gab es die» Autoersatzteil-Zentrale«. An Tagen, wo der Sage nach Lieferung gekommen sein sollte, bildeten sich lange Schlangen davor. Aus lauter Panik, etwas zu verpassen, stellte man sich ebenfalls an. Von Autos verstand Meno nicht das geringste, aber auch er hatte sich, in einer Art von heroischer Anwandlung, einmal in diese Schlange gereiht, weil ihn das Besitzfieber gepackt hatte; in einem der Ausharrenden hatte er nämlich den Bildhauer Dietzsch erkannt, der ihn fragte, ob er nicht eine Autoanmeldung besitze: was der Fall war;»Aber Herr Rohde, Sie würden doch eh nie fahren, hab ich recht? Verkaufen Sie mir Ihre Anmeldung — ich zahle Ihnen fünftausend Mark!«Denn das war das erste Geschenk vieler DDR-Bürger an ihre Kinder, wenn sie Jugendweihe oder Konfirmation hatten: sie für ein Auto anzumelden, das nach fünfzehn Jahren Wartezeit, wenn sie Schule, Lehre oder Studium längst abgeschlossen haben und das Geld dafür verdienen würden, gekauft werden konnte … Eine Anmeldung wie Menos, die aus den frühen Siebzigern stammte, war Gold wert. Aber Meno hatte Verdacht geschöpft (außerdem war seine Anmeldung für Christian bestimmt), Erwerbstrieb entwickelt, sich angestellt und zwei Auspuffkrümmer für einen» Polski Fiat«, einen» Wartburg«-Stoßdämpfer und drei komplette Sätze Scheibenwischer für einen» Saporoshez «käuflich erworben. Danach war» alles alle«, Herr Priebsch, der Verkäufer, hob bedauernd die Arme. Nicht einmal die aus einem Stück Draht gebogenen Röhrchen mit Haft-Saugnapf gab es mehr, in denen am» Trabant«- und» Wartburg«-Armaturenbrett eine Kunstblume aus Sebnitz in der Sächsischen Schweiz angebracht werden konnte, und die an diesem Tag eigentlich geliefert worden waren. Herr Klothe, der über den Rohdes im Italienischen Haus wohnte, Leiter der Abteilung Planung/Rationalisierung im VEB» Robotron «und nach Meno an der Reihe, nahm es mit der Gelassenheit, die man für diese Fälle entwickelt hatte:»Sagen Sie, Betten haben Sie wohl nicht mehr?«—»Nee«, antwortete der in einen blaugrauen Kittel gekleidete Herr Priebsch,»hier gibt’s nur keine Winterreifen. Keine Betten gibt’s im Möbelladen. Und auch dort werden Sie kein Glück haben, denn Betten werden ja hierzulande nicht mehr hergestellt.«—»Sachense bloß. Und wieso?«—»Ganz einfach, nicht nötig! Die Volksarmee steht auf Friedenswacht, der Intellekt ist auf Rosen gebettet, die Politiker schlafen im Ausland, die Rentner im Westen, die Künstler ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus, die Partei schläft nie — und der Rest sitzt!«
Die erstandenen Schätze hatte Meno im Keller gehortet. Sie hatten sich als harte Währung erwiesen, war es doch Ingenieur Stahl gelungen, eine neue Mischbatterie für das Gemeinschaftsbad des Tausendaugenhauses für den» Wartburg«-Stoßdämpfer einzutauschen.
— Und während die Nadel, schrieb Meno, die Musik aus der Schallplatte hob und Niklas’ Gesicht sich veränderte, die Anspannung und Erstarrung einer glücklichen Ruhe wichen, begannen in meinem Kopf farbige, aus den Feuerfasern der Musik gewobene Fotografien zu erscheinen, glitten mit quallenweichen Umrissen auf, verharrten für Sekunden, in denen ich sie klar und wie Stücke einer mit Leben gefüllten, aus Leben bestehenden Retina sah; Brandung, die Dinge anschwemmt, Möblierung des Meeres: rundgeschliffene Kiesel, Hühnergötter, einen tangversponnenen Bernstein mit eingeschlossenem Insekt, einen ertrunkenen Falter; die Dünung steigt, rollt auf ihre Gaben, bäumt sich zu einem Glasberg, und auf dem Gipfelpunkt stoppt die Bewegung, der Vorführer drückt auf einen Knopf, und die Brandung gerinnt; dann sah ich, wie die Musiker sich bewegten, die Spinne aus gleichzeitig auf- und niederfahrenden Geigenbögen, sah Gesichter, pockig vom Weinstein der Zeit, in den Urnensternen und Medusen des Zimmers treiben, hörte Niklas, wie er an einem anderen Abend, er und ich über ein hektografiertes Büchlein im Querformat gebeugt, die Gesichter benannte und Anekdoten zum besten gab:»der mit dem langen Hals, der da am Kontrabaß steht, das ist die Salon-Giraffe«,»der da, an jedem Finger einen Ring mit dickem Stein, den nannten sie in der Kapelle den Brillanten-Klops«, dann der» Flötist Alfred Rucker«, aus dessen Silberstab die Musikfurien donnerwetterten,»der groooße Rucker, genannt Taifun, der blies alles zusammen«, und schon beim Wort» groß«beugte sich Niklas zurück, längte das Kinn und schloß halb die Augen hinter der Vierkantbrille, um dem Attribut, das aus der Tiefe kam: seiner Stimme und der Musikgeschichte, jene träumerische Note zu verleihen, die ich von den Türmern kannte, wenn sie eine Leistung als unwiederholbar und grandios, als unrettbar in der Vergangenheit, in glänzenderen und vielleicht auch erhabeneren Epochen versunken, kennzeichnen wollten, als»ä Wunder«; und manchmal dachte ich, daß die Türmer sich auf ebenso sonderbare wie typische Weise durch die Zeit bewegten: in die Vergangenheit ging ihre Zukunft, die Gegenwart war nur ein blasses Schattenbild, eine unzulängliche und verkrüppelte Variante, ein fader Aufguß der großen Tage von einst, und manchmal hatte ich auch den Verdacht, daß es gut war, wenn etwas in die Vergangenheit sank, wenn es starb und verdarb, daß die Türmer es insgeheim billigten, denn dann war es gerettet — es gehörte nicht mehr der Gegenwart an, aus der man floh, und oft wurde genau das, war es tot, plötzlich in den Himmel ihrer Wertschätzung gehoben, was man, als es lebte, nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte. — Die Musik scheint aus Niklas’ Fingerspitzen zu fließen, die weiß sind, weil er Handschuhe trägt; ich sehe die signierte Fotografie von Max Lorenz an der Wand über dem Klavier, mit weisendem Arm schaut der Ritter in die Ferne, schwelgend wie ein blankes Schwert ragt die Stimme, sticht zu, die Platte tanzt, schwer von Spinnweb, Funken knistern, ein gelber Magnet das Etikett in der Mitte, und ich sah Niklas, während die Musik stieg, wieder unruhiger werden, ein Mensch, für den sie Lebenselixier war, der ohne sie nicht lange zu atmen imstande sein würde, und ich dachte, was geschehen wäre, mit ihm, mit seiner Welt, wenn ein Umstand ihm den Kontakt zur Musik genommen hätte, sein Sehnsuchts-Leben, in der Musik zu sein; die Fische im Zimmer dünten auf und ab, bewegten sich wie Taschentücher auf einer windgezupften Leine, die Rose unter dem Glassturz schien erstarrt —
Die alten Häuser mit dem angegriffenen Putz … Die Konturen begannen zu verschwinden, die Ascheloren des Lazarett-Heizhauses rumpelten; das dunkle Brummen setzte ein, dessen Herkunft er sich nicht erklären konnte, vielleicht kam es von einem Trafohaus oder einer Entlüftungsanlage; er hatte es schon oft auf seinen Abendspaziergängen gehört.
«So spät noch unterwegs?«Es war Judith Schevola. Er war zusammengezuckt und hatte unwillkürlich einen Schritt aus dem Licht gemacht, das von einer Laterne über der Kreuzung Lindwurmring/Mondleite dünn herüberfiel.»Haben Sie mich erschreckt. — Was machen Sie hier oben?«
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