«Wenn ich jetzt sagte: Ich wohne hier?«
«— Würde ich antworten: Dann wären Sie mir aufgefallen.«
«Aha, man kennt sich im Goldstaubviertel.«
«Wie sagen Sie?«
«Meine Großmutter nannte es so. Manchmal nahm sie mich bei der Hand, wir fuhren hierher, und sie sagte: Mädchen, wenn du mal groß bist, mußt du jemanden von hier heiraten. Aus dem Goldstaubviertel. Wo die Professoren, Ärzte, Musiker wohnen. Aber heute war ich nur spazieren. Ich fahre mit der Elf hoch, atme den Großkopfeten ein paar Züge ihrer kostbaren Luft weg und trolle mich wieder in mein Quartier. — Ich soll Sie grüßen.«
«Von Herrn Kittwitz?«
«Ihre Zunge nadelt, passen Sie beim Schlucken auf. Herr Kittwitz wohnt in Gruna. — Nein, von Herrn Malthakus.«
«Sie waren bei ihm? Er ist schon verheiratet, soweit ich weiß«, sagte Meno mit einem Lächeln.
«Jetzt haben Sie den typischen Ich-glaube-das-würde-sie-nichtinteressieren-Gesichtsausdruck.«
«Und Sie den Die-Männer-sind-doch-alle-gleich.«
«Malthakus und ich sind dabei, ein wenig Freundschaft zu schließen. Sympathischer Kauz, ich mag ihn. Er ist so genau, aber seine Uhren haben ein Herz, wenn ich so sagen darf. «Schevola suchte eine Schachtel Zigaretten hervor, bot Meno davon an. Er lehnte ab, gab ihr Feuer.»Kann ich Sie zur Haltestelle bringen?«
«Danke, lieber begleite ich Sie noch ein Stück, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Er nahm es ohne Regung auf, daß Judith Schevola nun neben ihm ging, sah sich nicht um, als sie zur Kreuzung vorlief und lauschend stehenblieb, das Gesicht ihm zugewandt; obwohl er sich gern umgedreht und festgestellt hätte, woher sie so plötzlich aufgetaucht war; im Geist ging er die Hauseingänge durch, die sie passiert hatten, doch waren sie um diese Zeit gewöhnlich abgeschlossen, er hätte das Knarren einer Tür hören müssen; allerdings war er in Gedanken gewesen, und vielleicht hatte sie sich lautlos aus größerer Entfernung genähert. Die Konturen der Häuser waren nun gelöscht, die wenigen erhellten Fenster hingen als gelbe Flecke in der Dunkelheit. Meno wechselte die Straßenseite, die Hüte im Schaufenster von Hutmacher Lamprecht, das vom schmierigen Schein der Laterne auf der Kreuzung gestreift wurde, wirkten wie der sichtbare Teil von Wesen, die mit den Perücken aus dem Salon Wiener eine Verabredung hatten, die noch nicht ganz heran war. Schevola hielt sich die Nase zu:»Faule Eier, bah!«
An der Schneiderei Lukas vorbei, an der Tanzschule Roeckler, aus der das Tremolo eines bis zur Dünnhäutigkeit abgenutzten Flügels nieselte.
— Er hatte Zahnschmerzen , schrieb Meno, dieser Flügel im Tanzsaal in der ersten Etage, so verstimmt und empfindlich klang er, und daneben rankten sich die Nosferatu-Finger eines von den Füßen bis zu den Ellbogen in Stuck gehauenen Cellisten um das Griffbrett seines verschnupften Cellos, die Glatze des Pianisten blinkte in rhythmischer Eintracht mit dem salonweichen Bogen-Aufundab des Geigers, der im Schniepel, abseits vom Cello und dem Flügel, in metallisch schimmernder Korrektheit neben einer Monstera mit senfblassen Blättern stand, Tangos über den Schachbrettboden der Tanzfläche schleichen ließ, zu den schmirgelnden Schritten der Anfängerkurse, wobei seine linke Hand Vibratos leierte, die dem Pianisten, mit einer Papierblume auf der Frackbrust, leere Blicke an die Saaldecke entlockten, wo sich Amoretten und geflügelte Nilpferdchen, die erst dem zweiten Blick gestanden, Engel zu sein, in Rosenwolken neckten; die Tannhäuser-Musik sprießt über die Szenerie, und ich könnte Niklas jetzt berühren, nur sein Körper ist anwesend, ist erstarrt und würde vielleicht nichts spüren, das Wort ist über ihn gesprochen, und der zweite Niklas: den nur er kennt, der seinen Körper bewohnt, ist fort —
Dies Tremolo auf dem Gipfel stumpf gewordener Melodien weckte in Meno Erinnerungen an seine Schulzeit und manche vergeblich absolvierte Tanzstunde. Am Haus Zu den Meerkatzen vorbei und jetzt die Mondleite in Richtung zur Bautzner Straße hinunter kroch der Nebel aus der Grünleite, die als Sackgasse hinter der Kreuzung vom Lindwurmring abzweigte und wo sich Arbogasts Chemisches Laboratorium befand.
«Wollen wir weitergehen?«Meno wies auf den Nebel.
«Warum soll man nicht mal nach faulen Eiern riechen, wenn man nach Hause kommt«, entgegnete Schevola.»Was wird da eigentlich produziert?«
«Das weiß keiner außer dem Baron und seinen Mitarbeitern. Es unterliegt der Geheimhaltung, soviel ich weiß. Man munkelt allerlei.«
«Also gehen wir. — Erzählen Sie mir von sich.«
«Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
«Sie sind ein verschlossener Mensch. Sie reden wenig und beobachten viel. Solche Menschen haben oft viel zu sagen.«
«Meinen Sie.«
«Ein Abenteurer scheinen Sie nicht zu sein«, kommentierte sie, als sie sich der Grünleite näherten und er stehenblieb. Es stank jetzt wie auf einer Müllkippe.
«Kommt drauf an, wo Sie das Abenteuer suchen würden.«
«Hier und jetzt gehen Sie keins ein, darauf wette ich.«
«Wetten Sie nicht zu hoch.«
«Wie wär’s?«Sie wies in die Grünleite, auf die dampfenden Gebäude des Chemischen Laboratoriums.
«Und wenn es Wachen gibt?«
«Ich hätte also doch ziemlich hoch wetten können.«
«Wir müssen vorsichtig sein, ich weiß nicht, was passiert, wenn wir erwischt werden. «Er warf einen Blick auf ihre Kleidung.»Sie sind zu gut angezogen für das, was wir vorhaben. Und Ihr Mantel ist zu hell, man wird Sie sehen können.«
«Wird man nicht. Das ist ein Wendemantel. Moment. «Sie zog ihn aus, schlug das dunkle Futter nach außen.»Kennen Sie sich hier eigentlich aus?«Sie setzte ein herausforderndes Lächeln auf.
«Wir werden sehen.«
Die Grünleite war vom schwachen Lichtschein einiger Häuser beleuchtet, die zum Lazarett gehörten, sowjetische Offiziere und Ärzte wohnten darin. Eins der Fenster stand offen, Radiomusik schwappte heraus. Schevola wechselte auf die gegenüberliegende Straßenseite, die im Schatten einer hohen Mauer lag. Das Mauerwerk war stark angegriffen. Meno zog sein Taschenmesser hervor und stieß es probeweise in den Mörtel. Die Klinge versank bis zum Heft, ohne daß er den Stoß mit großer Kraft geführt hatte. Auf der Mauerkrone war Stacheldraht gespannt, aber an einigen Stellen ragten Baumkronen herüber. Es mußte sich um den Wald handeln, durch den weiter vorn der Kuckuckssteig von Arbogasts Chemischem Laboratorium hinab zur Bautzner Straße und zum Mordgrund lief. Fabian Hoffmann, der Sohn des Toxikologen aus der Wolfsleite, hatte ihn mit seiner Bande, zu der auch Ina Rohde und Fabians Schwester Muriel gehörten, ausgekundschaftet, er hatte Meno von verwitterten Statuen erzählt und von einer Mauer aus undurchdringlichem Gestrüpp, verwilderten Heckenrosen, die den Kuckuckssteig vom Wald des Chemischen Instituts abgrenzten. Schevola drehte sich gegen die Mauer und hustete unterdrückt. Der Nebel quoll wie feuchte Watte aus dem Eingangstor des Laboratoriums, das wie am Haus Arbogast aus einem kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Greif bestand, hier überwölbt von einem gelbschwarz gebänderten Stahlbogen. Meno wunderte sich, wie die Anwohner bei diesem Gestank das Fenster offenlassen konnten, sie mußten unempfindliche Nasen haben oder waren Schlimmeres gewöhnt. Schevola spähte durch das Tor.»Niemand zu sehen. Am besten da«, sie wies auf das Ende der Sackgasse, wo neben einigen Garagen Müllcontainer standen,»wenn wir die an die Mauer rollen, müßten wir’s schaffen. «Sie stand bis zu den Knien in dem gelblichen, jetzt nach Fischsuppe stinkenden Nebel, auf ihrem Gesicht lag ein zugleich gieriger und wacher Ausdruck, den sie in Menos Blick gespiegelt wiederzuerkennen schien: der Ausdruck verschwand sofort, es war, als ob sie ihn fallengelassen und einem feinen, raschen Radierstift überlassen hätte.»Sehen Sie mal. «Sie hielt den Zeigefinger hoch und präsentierte Meno einen schwarzen Klecks auf der Kuppe.»Wofür halten Sie das? Teer?«
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