Der Fencheltee schmeckte ekelhaft, Christian schüttete ihn in den Ausguß. Er sah nach draußen, auf Griesels Garten, der noch winterlich kahl lag; Marcel, Familie Griesels schwarzer Pudel, sprang in seinem Zwinger hin und her und bellte, weil der dicke, gescheckte Nachbarskater Horaz, begleitet von der Katzendame Mimi, weiß mit schwarzen Pfötchen, eben ungerührt an den Tomatenhölzern auf dem Beet vor der Breitfront des Zwingers schnüffelte, und Mimi elegant ihre gerollte Rechte schleckte; Marcel heulte und biß in sein Spielzeug, einen Stoffkolben, aber es nützte ihm nichts.
In der Kohlenhandlung hinter Griesels Garten wurden Briketts geschippt, vertraute Geräusche: ein scharfes Anschneiden des Kohlehaufens, Metall ratschte über Beton, dann polterten die Kohlen in große Blechwaagen, die Schaufeln wurden kurz abgeklopft, kratzten Grus zusammen, nahmen schlitternden Anlauf, schnitten wieder scharf in die Kohlen hinein, ein wenig wütend, ein wenig hinterhältig, ein wenig besessen in den selbstbewußten Schwielenhänden von Plisch und Plum, wie die Gehilfen der Handlung im Viertel genannt wurden, Christian hatte noch nie ihre richtigen Namen gehört, der eine war lang und spindelig gebaut, der andere kurz und viereckig, Tante Barbara sagte: ein Koffer auf zwei Beinen; und wenn ein Zentner voll war, rumpelten die Briketts aus den blanken Rinnen in Rupfensäcke, die Hauschild, der verwachsene, knorrige Kohlehändler, aus dessen schwarzverschmiertem Gesicht wasserblaue Augen leuchteten, zum Schuppen vorn an der Rißleite schleppte, wo die Kunden warteten.
Christian ging wieder ins Bett. Das Licht war weitergewandert, die Wolkenweberei, die seit Sonnabend graue Wolle über den Himmel strickte, riß an einer Stelle auf und schickte Sonnenstrahlen ins Zimmer: Da war Roberts Tisch, die verstreuten Fußballbilder, die von Niklas geliehenen Olympia-Fotobücher, dahinter, rechtwinklig zum Fenster gestellt, sein eigener Schreibtisch mit dem Schrägpult darauf, das er sich vor Jahren aus Holzresten und zwei bei Matthes, der Papierwarenhandlung vorn an der Bautzner Straße, gekauften Reißbrettern selbst gebastelt hatte, und hinter dem Tisch gleich der Schrank mit den Büchern, kaum einen Meter entfernt. Die hohen und massigen, dunkelbraunen Furnierholzschränke, Wohnraum-Typensatz, Modell RUND 2000, aus dem VEB Möbelwerke Hainichen, die zu fünft entlang der Wände standen, nur eben Platz für eine Couch, die Schreibtische und das Bett ließen — Roberts mußte ausgezogen werden —, erdrückten das Zimmer mit ihrer dunklen Massivität. Er liebte das Zimmer nicht, denn es bestand aus diesen schweren Schränken im Geviert und aus der teppichbelegten Leere dazwischen, die von der Tür sofort einsehbar war; es hatte etwas von einem Käfig, dessen Inhalt man mit einem Blick erfassen konnte. Die Poster an der Wand wirkten wie Fremdkörper, von Anne mehr geduldet als gewünscht, ebenso das Netz mit Fuß- und Handbällen und Roberts Fußballschuhen, das an einem Haken über dem Türende des Betts hing. Christian schloß die Augen, lauschte, mußte eingeschlafen sein, denn er erschrak vom Stundengong der Wohnzimmeruhr. Das Gartentor krachte, gleich darauf schrillte Griesels Klingel: Das war Mike Glodde, der Briefträger mit den schielenden Augen und der Hasenscharte, der mit Griesels mittlerer Tochter verlobt war und ihnen die Post ins Haus brachte; aber nur ihnen, für die anderen gab es am oberen Ende der Heinrichstraße die Zentral-Schließfächer, die die Post eingerichtet hatte, um ihren Briefträgern die weiten Wege zu verkürzen; wer wollte auch noch Briefträger werden in dieser Phase des gesetzmäßigen Übergangs vom» Soz. «zum» Komm.«, und Christian lächelte, als er Briefträger Gloddes Ruf nach» Mar-zel!«hörte; elf Uhr: Die Physikstunde war um, und Stabenow schloß mit seiner stehenden Unterrichtsbeendigungsformel:»Und jetzt denkt mal über alles nach — warum! Warum! Wa-rum!«
Im Haus flatterte Musik, eine Melodie voller Wehmut und tapferer Sentimentalität, gesungen von einem Männerchor: Das waren die Comedian Harmonists. Die Stimme des Tenors kurvte nach oben, Leschnikoffs schmiegsames Timbre, wie aus Glacé; Christian beugte sich zur Wand, legte das Ohr an die Tapete, jetzt waren auch die tieferen Stimmen besser zu hören. Das war das Grammophon der Stenzel-Schwestern, und immer im gleichen Abstand machte die Platte einen butterweichen Schlenker. Schritte und Gepolter mischten sich in die Musik, wahrscheinlich turnten die Stenzel-Schwestern ihre Übungen … Sie waren in ihrer Jugend Voltigierreiterinnen gewesen, beim Zirkus Sarrasani. Mein kleiner grüner Kaktus — steht draußen am Balkon — hollari, hollari, hollaro … Er legte sich wieder hin. Das Fieber kam zurück, die Gliederschwäche. Zwei der drei Stenzel-Schwestern wohnten oben, die dritte Schwester, die älteste, hatte ein Zimmer bei Griesels, und das war etwas, das Griesel verstimmte: daß er, obwohl er der amtlich bestellte Hausverwalter war, eine Zuweisung bekam und Hoffmanns nicht, und weil es deswegen Anrufe gegeben hatte, Hinweise auf Pro-Kopf-Quadratmeter- und Kinderzahl, hatte Richard vor einigen Monaten, nach einem Gespräch bei den Rohdes im Italienischen Haus, ein Schild an die Tür geschraubt: Ina Rohde.»Die wohnt doch nur zum Schein hier, sie kriegt ja auch nie Post!«stichelte Griesel. Anne sagte:»Den jungen Mädchen heutzutage werden ihre Liebesbriefe einfach zugesteckt, Herr Doktor Griesel.«— Ob wir diesen August wieder an die Ostsee fahren, dachte Christian, zusammen mit Tietzes, wie im letzten Jahr. Ezzo hatte eine neue einsachtziger Rute bekommen, aus ganz weichem Fiberglas, und dazu eine Rileh Rex-Stationärrolle. Tietzes würden wohl wieder nach Rügen fahren, und wenn Ezzo Glück hatte, nahmen ihn die Fischer mit auf den Greifswalder Bodden, wo es die größten Hechte gab. Erst neulich hatte er Christian eine Karte nach Waldbrunn geschrieben, er habe sich Zepp-Blinker, einen Wobbler und einen Dorschpilker bei Press gekauft, dem Anglerfachgeschäft auf dem Bischofsweg unten in der Neustadt, außerdem fünfundzwanziger Schnur grün, die könnte man am Kaltwasser mal ausprobieren.
Veroonikaa, der Lenz ist daa … Die Stenzel-Schwestern waren klein und wirkten verschrumpelt wie alte Prinzessinnen, sie trugen im Sommer kurze Röcke, so daß man die weißen, von Muskeln eckigen Waden sah, die groben Wandervogel-Strümpfe, bis über die Knöchel hinuntergerollt; die Köpfe der Schwestern bespannte fein-milchiges Haar, so dünn, daß die pergamentblasse Kopfhaut durchschimmerte, hinten flochten sie es zu Dutts, tennisballgroß, und hielten sie mit Haarnetzen zusammen: grün, blau und rot, in denen Einkaufszettel, Zwirnsrollen und Sicherheitsnadeln steckten.»Krest-jan!«so grüßten sie ihn, wenn er die Treppe hinaufstieg, um sich die Fotografien anzusehen hinter der Glastür; im Flur vor den beiden Wohnungen in der zweiten Etage, und da war wieder Magellan und sein Schiff, in der Tür auf der Etage der Hoffmanns diesmal, eine Karavelle mit hohem Achterdeck und Lateinsegeln und spinnwebfeinen Wanten, eingeschliffen ins mattierte Glas, die Wellen unter dem Schiffskörper schlängelten sich wie ein Malaiendolch oder Poseidons Locken, Delphine schwammen durchsichtig zum Nußholzrahmen der Tür, die den Flur vom Treppenzylinder trennte, und wenn es dunkel war und die Wohnungstür offenstand, füllten sich die Schlifflinien mit dem Korridorlicht, es war, als ob eine Radiernadel aus einer schwarzen Metallschicht Sternbilder gravierte: Schiff und Delphine; in der Glastür im Hochparterre Windrose und Hanse-Kogge; ein Windjammer mit einer Reliefätzung von Atlantik und Südamerika, durch die eine fein gestrichelte Linie ums Kap Hoorn bis nach Chile lief, bei den Stenzel-Schwestern und dem jungen André Tischer, der erst vor kurzem eingezogen war … und zwar allein, ein kaum zwanzigjähriger Bursche, und schon eine eigene Wohnung, kein Wunder, daß Gerüchte über ihn kursierten. Er sei der Sohn eines hohen Funktionärs und auf die schiefe Bahn geraten, was man daran sehen könne, daß er einen Boxerhund besitze, den er ohne Maulkorb und Leine durch die Straßen führte, immer in schwarzer Lederkluft und mit entweder ganz kurz geschorenem oder zottellangem Haar — ein Assi! stellte Tante Barbara fest, ich sage euch: Der ist ein Assi! — , Nietengürtel und Cowboystiefeln, die Roberts grünen Neid erregten, denn wo,»zum Donner!«, gab es in ganz Dresden auch nur den Schatten solcher Stiefel — na! Der wird wohl bei der Firma sein! meinte Niklas, kann ja auch nicht mal grüßen, das ist schon ein Sümp-tom! — , und außerdem kam jeden Sonnabend eine Operntragödin zu ihm, die mit dampfend heißem Scheuerlappen, der wie ein großer Aal aufklatschte, für ihn die Treppe wischte, dann hinaufging, worauf es polterte, dann sehr still wurde, eine Stille, die Anne mit verlegenem Gesichtsausdruck und lautem Geschirrklappern, eingeschaltetem Radio und der abrupten Feststellung, es seien nicht genug Kohlen da, zu füllen versuchte, worauf Robert sagte:»meinetwegen «und Kohlen holen ging; eine Stille, aus der, langsam und unwiderleglich, das Geräusch eines asthmatisch quietschenden Bettgestells wuchs, in das sich das intensive Erzittern des Hoffmannschen Flurleuchters mischte und schließlich die anfeuernden Rufe einer Frauenstimme, die einer Kutscherin auf einem von wilden Pferden und stocksteiniger Straße hin- und hergeworfenen Kutschbock zu gehören schien, die schreiend auf ihr Ziel zuhielt, begleitet vom Jaulen des Boxerhundes und vom rhythmisch versetzten Ächzen der Matratzenfedern, darunter das Grunzen eines Kutschers von der Konkurrenz, Toresschluß! Sperrstunde! Nachtwächterhorn, und manchmal kreischte die Operntragödin, weil der Hund sein Herrchen zu retten versuchte. Andere hielten André Tischer für einen geheimnisvollen Westdeutschen, denn er sprach keinen Dialekt, aber Richard winkte ab und erzählte eine ganz andere Geschichte: Der junge Tischer war der Sohn eines Arztehepaars, das in Blasewitz gewohnt hatte; der jüngere Bruder von André habe eines Tages, vor etwa einem Jahr, als die Eltern nach einem anstrengenden Dienst fest schliefen, mit Streichhölzern gespielt und dabei das Haus in Brand gesteckt, André sei außerhalb bei Freunden gewesen; die Nachbarn, ein Geiger in der Staatskapelle und ebenjene Operntragödin, hätten den Brand bemerkt und zu löschen versucht; vergebens. Die Stadt habe André, der keine Verwandten hatte und zunächst bei der Operntragödin untergekommen war, diese Wohnung zugewiesen. Er arbeite jetzt als Krankenwagenfahrer am St. Joseph-Stift.
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