«Ob er gedenkt, seine hier und, wie gesagt, auf Kosten unseres Staates erworbenen Kenntnisse auch für ihn nutzbringend anzuwenden, in den Dienst der Menschen zu stellen, die durch ihre Arbeit sein Studium möglich machten. Wir halten das für ein legitimes Interesse.«
«Ihre Akte sollten wir also nicht so voreilig schließen, wie es die Leipziger Kollegen für richtig hielten. Ihre Frau scheint Sie von unserem Weg abgelenkt zu haben … Überschlafen Sie meinen Vorschlag, denken Sie darüber nach.«
«In aller Ruhe. Ach, und noch eins: Wie Sie wissen, werden Ärzte hier zulande gebraucht. Es wäre Verrat an den Patienten, die Ihnen anvertraut sind. — Genosse Feldwebel! Zeigen Sie dem Herrn Doktor den Weg.«
Die» Santa Maria «hatte Lateinsegel mit roten Kreuzen, die» Nina «war dickbäuchig, über der Wasserlinie gekrümmt wie ein Türkensäbel, Robert sagte: Die schwimmt auf dem Buckel, und dann kamen Magellans Schiffe, am Bug emporschlagende Gischt, zerrissene Rahen in den Roßbreiten, roaring forties, salzzerfressene Masten und ausgelaugte Takelage; Magellan mit dem Fernrohr auf dem Achterdeck, und es war das Nichts, in das er starrte, das von Spanien und Portugal erkundete Nichts aus brandungsbestürmten Felsen, toten Buchten, schwarzen Löchern, die immer wieder Horizonte schluckten, Sonnen, Monde, Tierkreiszeichen über dem windgeknitterten Meer, und trotz allem wirkte Magellan wie ein Mann, der Zeit hatte, das kam Christian komisch vor, und er beobachtete lange diesen Generalkapitän, wie er auf einem Plakat gegenüber dem Bett die Welt umkreiste. Eine Schnur war diese Reise, um den Globus gelegt, der Äquator eine Kordel, die den Leib des Erdballs an seiner dicksten Stelle zusammenhielt; einmal rundherum, von da an gab es Grenzen. Und neben dem bärtigen Seefahrer winkte Gagarin, ein Mann in einer Raumkapsel, und auch sie hatte die Erde mit einer unsichtbaren Schnur umwunden. Die Farben schon ein wenig verblaßt, wie alt war dieses Foto, hatten sie es aus einer» Armeerundschau «ausgeschnitten, aus dem» Sputnik«? Ornella Muti und Adriano Celentano daneben; Fotos aus dem» Filmspiegel«,»Hügel der blutigen Stiefel «mit dem, wie Ina sagte,»wahnsinnig «blauäugigen Terence Hill; Kapitän Tenkes, der ungarische Freiheitsheld. Momentlang war das Ticken des Weckers, über Christians Kopf auf einem Wandbrett, so laut wie Metronomklacken, tack tack tack, oder war es das Holzbein eines Freibeuters, der auf dem Deck seines Seelenverkäufers hin- und herlief und auf Tortuga starrte, einen hämischen Papagei auf der Schulter … Auf Tortuga, der geheimnisvollen Insel vor Venezuela, mußte es heiß sein, so heiß wie in diesem Bett: Christian warf die Steppdecke zurück und legte den Arm auf die Stirn. Am Sonntagnachmittag war Doktor Fernau gekommen, hatte ihn abgehorcht und abgepocht mit seinen von hunderttausend Beklopfungen schon verbreiterten Fingern, dem Plessimeter-Mittelfinger links und dem Perkussions-Mittelfinger rechts, wie Richard erklärte (und niemand verstand), und alle Finger Fernaus waren borstig behaart, sie hatten Christian betastet oder vielmehr: geknetet, was an den Muskeln ziemlich weh tat, so daß Fernau die Stirn gerunzelt und» Schließ Er Seinen Wirsing!«gerüffelt hatte, um ungerührt weiterzukneten, die Lymphknoten zu untersuchen, wobei er unerwartet zart vorging, so daß Christian, der sich auf Luftnot gefaßt gemacht hatte, vor Erstaunen schluckte. Dann kratzte sich Doktor Fernau das struppige eisengraue Haar, griff an die linke Brust, fand dort aber nichts, denn er trug keinen Kittel, sondern eine Hausjoppe zu Flanellhosen mit kaputtem Reißverschluß und Pantoffeln aus grobem Filz: Er wohnte nicht weit von den Hoffmanns entfernt, auf der Sonnenleite, die sich den abschüssigen Hang am Ostrand des Viertels hinabschlängelte. Zwei Finger zwischen Christians Kiefern, durchwühlte er seine abgewetzte und an einer Seite in der Naht aufgeplatzte Hebammentasche, knurrte» So!«als er einen Holzspatel gefunden hatte und rammte ihn,»Aah!«grunzend, in Christians Mund.»Bißchen belegt, die Lingua! Aber, mein Gott, solange ’s nicht fault … Was haben wir hier …«, und kniff das rechte Auge zusammen, das linke wurde ein blaues Okular hinter der Brillenlinse, lupte ihm in den Rachen, der Blick mikroskopierte wohl am Zäpfchen herum, das angstvoll auf- und abschlüpfte, den Spatel tunkte Fernau auf die Mandeln:»Raus mit dem Mist!«Christian röchelte, sah Fernaus Auge wie das eines Monsters riesengroß und lachte dem Doktor aufs Brillenglas, der Kosakenschnurrbart zog sich schief in die Breite:»Wir haben hier: offensichtlich nichts! Kleine Reizungen, der Waldeyersche Ring gerötet, aber was soll’s, Krankenhaus ist nicht nötig, bißchen jäsrig die Lunge, steht eine wichtige Klassenarbeit an, der Herr?«sagte Doktor Fernau und drückte den Spatel Anne in die Hand.»Der Junge hat bißchen Temperatur, das kommt vor in dem Alter, Hormone rollen, nichtwahr, undsoweiter. Stecken Sie ihn in die Kissen, von mir aus, Frau Hoffmann, kann man machen, die Wadenwickel waren ja schon gut, Tee mit Honig, ja, was Fiebersenkendes, ja, hat erbrochen? Na ja.«
Grippaler Infekt, hatte Fernau geschrieben, zwei bis drei Tage Bettruhe bei Schonkost.»Könnte ich mal einen Termin bei Ihnen bekommen, Herr Hoffmann? Ich habe einen eingewachsenen Zehennagel, der mich plagt.«
«Bißchen Temperatur?«hatte Anne leise gefragt, als Fernau gegangen war.»Er hatte vierzig drei, das nennt er bißchen Temperatur? Sollten wir ihn nicht doch in der Klinik untersuchen lassen?«
«Fernau ist seit dreißig Jahren Praktischer Arzt, ich glaube, der weiß, was er sagt«, hatte Richard entgegnet. — Die Standuhr gongte: viertel Elf. Anne hatte die Jalousie herabgelassen, die Lamellen aber angestellt, so daß ein trübes Licht ins Zimmer sickerte, hellgrau und öd, in dem selbst die Seehelden an der Wand reizlos wurden und Tortuga alle Geheimnisse verlor; kein träge dahindümpelnder Schiffsleib in einer Lagune, auf deren Grund das Messing eines Sextanten blinkte, kein Wellenrauschen vor dem Bug des Hauses, wie er es in windigen Nächten manchmal zu hören geglaubt hatte, keine Positionslichter an Steuer- und Backbord; und die Mienen von Roberts Fußballheroen sagten, daß Italien gegen Deutschland, Mexiko 70, kein wirklich weltbewegendes Ereignis gewesen war, nur ein Fußballspiel, damals, als die Italiener nicht nur mauerten; Uwe Seeler blickte leer, nicht volksheldenhaft, WM 74: Die Frisur von Paul Breitner glich einem elektrisierten Staubwedel.
Christian stand auf, zog sich den Bademantel über, tappte in die Küche, um etwas Tee zu trinken, den Anne ihm in zwei Thermoskannen hingestellt hatte. In der Speisekammer fand er eine angerissene Packung Hansa-Keks, er kostete, die Kekse hatten Feuchtigkeit aufgenommen und schmeckten wie durchweichte Pappe. In Waldbrunn gab es jetzt Physik bei Herrn Stabenow. Er wirkte kaum älter als die Schüler mit seinem jungenhaften Gesicht und der Nickelbrille, die ihm ständig die Nase hinabrutschte; er schob sie mit dem Mittelfinger der Rechten wieder hinauf, eine Geste, auf die die Klasse trotz der deutlichen Analogie zum Vogelzeigen weniger achtete als auf die Versuchsanordnungen: zwei verchromte Kugeln auf schräggestellten Stäben, Gummiband und Kurbel, und wenn Stabenow drehte, raspelten Funken zwischen den beiden Kugeln — Mittelfinger, Nickelbrille —; Magneten, groß wie Eishockeypucks, Stabenow streute Eisenpulver dazwischen, das sich zu Feldmeridianen ordnete und oben an den Polen glitzernde Büschel bildete — Mittelfinger, Nickelbrille —; aber irgendwann vergaßen sie die Geste, vergaßen das Feixen und folgten gebannt dem Hantieren Stabenows, das niemals unsicher wirkte; seine Experimente, die er akribisch nach dem Unterricht im kleinen Vorbereitungskabinett neben dem Physikzimmer aufstellte und durchprobte, funktionierten immer, auch das imponierte ihnen natürlich, denn sie konnten sich in Stabenow versetzen und ahnten ihre eigene scharfsichtige Grausamkeit, der keine Eigenheit eines Lehrers entging, sie wußten, daß er es sich schon denken konnte, daß sie insgeheim auf einen Fehler von ihm warteten. Christian trank Annes starken Fencheltee und ärgerte sich, daß er hier krank lag, während die anderen experimentieren konnten. In der Polytechnischen Oberschule hatte er Physik nicht gemocht, es gab für seinen Geschmack in diesem Fach zuviel Mathematik; erst die Kernphysik hatte ihn aufhorchen lassen, aber auch nur, solange nicht gerechnet wurde — und wenn Arbogast gekommen war, der Pate der Louis-Fürnberg-Schule, und aus seinem Leben und von Forscherpersönlichkeiten erzählt hatte, die er kannte. Bei Stabenow war es anders. Er brannte für sein Fach, die Schüler spürten das. Sein ganzer Körper krümmte sich, wenn er vom prinzipiellen Aufbau eines Radios erzählte und abgerissen begeistert den verschlungenen Wegen der menschlichen Stimme durch all die Röhren, Transistoren, Spulen und Widerstände nachging. Am Ende des Unterrichts war die Krawatte verrutscht — eine von den» Maurerkellen«, die es in Waldbrunn zu kaufen gab und die ihm, hieß es, die Vermieterin ebenso aussuchte wie die Socken: Herr Stabenow wohnte in einer der Gassen, die vom Markt gingen, zur Untermiete. Die Tafel war über und über mit Formeln und Skizzen in Stabenows genialischer Schmierschrift bedeckt, die Trümmer mehrerer weißer und roter Kreidestücke lagen enthusiastisch weit in der Klasse verstreut. Unter den Jungen hatte er ein wahres Physikfieber entzündet, alle wollten sie plötzlich Uranspaltung betreiben, Großtaten auf dem Gebiet der Mikroelektronik vollbringen, Taschenrechner mit hundert Funktionen erfinden … zunächst aber Pfeife rauchen lernen, denn alle genialen Physiker, das sahen sie auf den Fotos, die Stabenow mitbrachte, rauchten Pfeife: Einstein, Niels Bohr, Kapitza … Max Planck, hatte der Pfeife geraucht … oder Heisenberg? Mit einunddreißig Jahren den Nobelpreis … da blieben ihnen noch vierzehn, das war eine Unmenge Zeit, sie würden es bestimmt auch schaffen. Sie mußten nur ordentlich Pfeife rauchen und lernen, so bedeutend zerstreut zu sein wie jener Physiker, der sich eines Morgens auf sein Fahrrad schwang und starren Blicks, die Pfeife im Mund, zu treten begann, bis jemand fragte: Wo wollen Sie denn hin? — Ich fahre zum Institut! — Ohne Kette?
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