Uwe Tellkamp - Der Turm

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Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der "süßen Krankheit Gestern" der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze — oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.

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«Fräulein!«murmelte Judith Schevola entrüstet. Kittwitz lachte.»Aus irgendeinem Grund scheinst du ihr sympathisch zu sein. Komm, wir teilen uns den letzten Schluck.«

«Mein Gott, violettes Haar. Roland, weißt du, was sie mich gefragt hat? Warum ich mir meines nicht färben lasse. Ob es eine Krankheit sei. Natürlich, habe ich geantwortet, es liegt zuviel Asche in der Luft.«

Drinnen sprach Zahnärztin Knabe, eine große Frau mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar, sauerkirschrot geschminktem Mund und einer vielfach geschlungenen Halskette aus blauen Holztrauben, über die Vorzüge des Matriarchats und die Feldenkrais-Methode. Ihr Mann stand mit gesenktem Kopf und ineinandergeflochtenen Händen neben ihr und starrte auf eine Ananas, der sich Professor Teerwagen und Dr. Kühnast in angeregtem Gespräch bis auf wenige Dezimeter genähert hatten.»… es läuft ja doch auf die Unterdrückung der Frau hinaus, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden, ach, seit Anbeginn der Zeiten. Natürlich verdanken wir einer Frau die Vertreibung aus dem Paradies, und ich habe folgendes noch gelernt: mulier tacet in ecclesia! Die Frau schweige in der Kirche, so steht es in der Bibel. Eine Frechheit.«

«Vielleicht werden die Propheten ihre Gründe dazu gehabt haben?«

«Ihr Lächeln macht Ihren Scherz nicht besser, Herr Däne. Was sagen Sie denn dazu, Frau Schevola? Wäre es nicht an der Zeit, die Herrschaft der Männer zu beenden? Besonders die der alten!«

Judith Schevola hob ihr Glas.

«Ah, und da ist ja Herr Rohde! Wir waren eben bei Zusammenhängen und Ich-Du-Grenzdurchbrüchen. Wie Sie vorhin sagten, bei diesen Nervenspinnen oder so ähnlich: Es wird etwas injiziert. Ich denke an die Anästhesie des Nervus mandibularis — Klappe auf, kurzer Pieks, fünf Minuten warten, und Ruhe im Karton! Aber dieses In-ji-zieren«, Frau Knabe dehnte das Wort mit geweiteten Augen,»dieser Stich, schöner Druck, und dann träufelt das Fremde in uns hinein, das bittere oder das süße Gift … Toxisch! Ich mußte bei Ihren Worten auch an Sex denken!«Die Umstehenden grinsten.

«Nicht mit Ihnen, Herr Rohde, Sie sind mir zu mager und haben zuviel klassische Bildung. Wissen Sie, daß manche Patienten den scharfen Schmerz, wenn man den Dreifingergriff macht und die Injektionsnadel weich in die Schleimhaut schiebt, als energetisierend empfinden?«

«Aber ich muß sagen, ich habe da neulich etwas von einem Arzt gelesen, Georg Groddeck — «

«Tatsächlich, Herr Däne, ich auch!«

«Buch vom Es, Herr Dietzsch?«

«Ja! Und da fand ich doch interessant, was er über Heilerfolge schreibt, jede Behandlung des Kranken ist die richtige, stets und unter allen Umständen wird er richtig behandelt, ob nun nach Art der Wissenschaft oder nach der des heilkundigen Schäfers — der Erfolg wird nicht von den Verordnungen gemacht, sondern von dem, was unser Es damit anstellt — «

«Sie wären der ideale Arzt für das hiesige Gesundheitswesen«, nahm Frau Knabe wieder das Wort,»aber wissen Sie, neulich zwickte mich ganz scheußlich mein Musculus latissimus dorsi, und mein Es machte leider gar nichts daraus! Es verlangte nach Schmerztabletten und Korrektur des zugrundeliegenden falschen Bewegungsrasters … Raster ist übrigens ein interessantes Wort. Ein treffendes Wort. Denkraster, Erfahrungsraster, und eben Bewegungsraster. Da sind wir wieder bei Feldenkrais, Sie hatten mich unterbrochen!«

«Aber es gibt doch dieses unwägbar Menschliche, Frau Doktor Knabe. Die Wissenschaft kann nicht alles zählen, messen und, von mir aus: rastern.«

«Wer behauptet das denn, Herr Däne? Aber Feldenkrais stellt nicht einfach unbewiesene Behauptungen auf. Zum Schluß läuft es doch darauf hinaus, daß sie sagen, Es — ist ein Mann!«

Meno ging ans Büfett. Judith Schevola stand lachend in einer Gruppe weißbekittelter Institutsmitarbeiter, Rechtsanwalt Sperber in der Nähe, der sich mit der Baronin und Teerwagen unterhielt. Aufschnitt von kaltem Braten, Schinken, ungarische Salami, in hauchdünne Scheiben geschnitten, mehrere Sorten Käse, appetitlich auf Platten mit Salatblättern, halbierten gekochten Eiern, Kaviar und Tomaten garniert, knusprig gebratene Hähnchen, Margonwasser, Bier, Wein, Krimsekt und duftendes Brot. Dazu in großen Schüsseln Obst- und Waldorf-Salat, Weintrauben, Bananen, Früchte, die Meno nicht kannte.

«Nicht schlecht, oder?«Das war Malthakus, mit feinem Lächeln.»Heißt Kiwi, was Sie da in der Hand halten. Kommt aus Neuseeland.«

«Hab’ ich noch nie gesehen, Herr Malthakus.«

«Ich auch nicht bis heute abend. Das heißt — Moment. Auf einer neuseeländischen Briefmarke … Oder war da ein Vogel drauf? Man muß sie schälen oder auslöffeln. Haben Sie die Kartoffelsuppe schon probiert? Ein Genuß, so würzig. Ich mag ja solche Speisen am liebsten. Die einfachen. Die es auch im Krieg noch gibt. Brot, Pellkartoffeln, Quark, Eintopf, Kartoffelsuppe. Naja, Bananen sind auch nicht zu verachten. «Er hob die Hand und lachte ein stilles, schuckelndes Lachen hinein.»Habe schon fünf verdrückt und ein paar auch um die Ecke geschafft. «Malthakus blickte Meno verschmitzt an.»Für die Kinder. Im Saftladen vorne gibt’s ja nischt. «Der» Saftladen «war die Verkaufsstelle für Obst, Gemüse und Speisekartoffeln an der Kreuzung Rißleite/Bautzner Straße, gegenüber der Konditorei Binneberg, und» nischt «waren Gelbe Köstliche, Schwarzwurzeln, Zuckerrüben, Bohnen, Möhren, Kohl und ein großes Schaff mit schmutzigen Kartoffeln. Dazu» Saft«: rote Brause, allgemein» Leninschweiß«genannt.

«Übrigens echter Molossol, der Kaviar. Möchten Sie eine Tüte haben? Ich nehme immer welche mit, wenn es zu Arbogast geht. Er ist im Versorgungsprogramm von denen drüben. Mitschurin-Küchenkomplex. Das geht völlig an den normalen Läden vorbei.«

«Ich weiß.«

Malthakus sah überrascht auf, Mißtrauen huschte über sein Gesicht.»Ahja. Verstehe … Meine Mädchen waren mit Hanna befreundet, als sie kleiner waren. Später durften sie nicht mehr mit ihr zusammensein. Habe sie lange nicht mehr gesehen.«

«Sie lebt in Prag, arbeitet als Ärztin an der Botschaft.«

«In Prag ist sie, und Ärztin an der Botschaft … Jaja, aus Kindern werden Leute. Ich kann mich auch noch an Sie erinnern, wie Sie mit Hanna zu mir ins Geschäft kamen und Ansichtskarten kauften. Sie von Prag und London, Hanna immer von Paris. Immer von Paris, jaja. «Malthakus rückte an der Brille, musterte Meno nachdenklich.»Sie haben vorhin ein Gedicht zitiert, Herr Rohde. Ich kann sonst wenig mit so etwas anfangen, das meiste ist zu hoch für mich. Die Damen und Herren moderne Lyriker sind sicher alle sehr gebildet und avanciert, aber ich verstehe sie nicht, tut mir leid. Ein schlichter Vers von Eichendorff oder Mörike, das ist so mein Horizont. Aber dieses, das Sie da zitierten — «

«Ein japanisches Haiku. Oh diese Schwüle! / Auf den sommerlichen Bäumen / hängen heiß die Spinnennetze . Der Dichter heißt Onitsura, er hat im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert gelebt.«

«Ahja. Finden Sie nicht auch, daß es hier furchtbar heiß ist? Aber sehen Sie, das ist es, was mir nachgeht: die heißen Spinnennetze. Sie müssen verzeihen, wenn ich für den Rest Ihres Vortrages weniger Aufmerksamkeit aufbringen konnte, die ganze Zeit ist mir das im Kopf herumgegangen! Man geht dem Herrn, wie sagten Sie? — Onitsura nämlich auf den Leim. Man glaubt ihm die heißen Spinnennetze! Bis man entdeckt, daß Hitze Körper benötigt, nur ein Körper kann heiß werden! Den doch ein Spinnennetz aber gar nicht hat — also kann es auch nicht heiß werden … Und doch traut man diesem Burschen, irgendwie stimmt der Vers, das irritiert mich! Oh, ich glaube, der Baron möchte Sie sprechen. Soll ich derweil … für Sie tätig werden?«Malthakus blickte sich rasch um und zog den Zipfel eines Plastbeutels aus der Hosentasche.»Wir haben doch bis zur Wolfsleite den gleichen Heimweg — dann Übergabe der betreffenden Ware!«Meno mußte lächeln über den blauen Unschuldsblick des Briefmarkenhändlers, die geraunten Worte hinter erhobener Hand.

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