Richard war erstaunt, Albert Salomon vor dem Büro der Kommunalen Wohnungsverwaltung zu sehen. Er wartete im sechsten Stock, Flur C, Büro H/2, denn das Büro KWV/5 im Flur G des elften Stocks war nur für Heizungsprobleme, Isoliermaterial, Pumpen und Gaszählerwartung zuständig, nicht aber für Gasdurchlauferhitzer, die ein Sanitärproblem darstellten, wie Richard zur Kenntnis nehmen mußte. Albert Salomon blickte immer wieder auf die Uhr über dem Bürofenster und schien zusehends nervös zu werden. Richard kannte ihn, es war einer seiner Patienten. Albert Salomon hatte vor 1933 als Modelleur und Mustermaler in der Meißener Porzellanmanufaktur gearbeitet, war nach einer Denunziation zuerst in ein Gestapo-Gefängnis und dann ins KZ Sachsenhausen gekommen, wo man ihm unter der Folter beide Arme zerquetschte. Der rechte, mit dem er gemalt und geschrieben hatte, mußte im KZ amputiert werden. Nur ein einziges Mal, soweit sich Richard erinnern konnte, hatte Salomon über das KZ gesprochen: anläßlich einer Stelle in einem sowjetischen Roman, in der er ein Detail aus Sachsenhausen falsch wiedergegeben fand: die Schuhprüfstrecke mit verschiedenen Bodenbelägen, über die Häftlinge tagelang im Eilschritt marschieren mußten, um Sohlenbeläge für Wehrmachtsstiefel zu testen; jeder Bodenbelag» eine Stadt, an die ich dachte«.
Eine Klingel schrillte.»Feierabend, geschlossen!«Das Bürofenster rauschte herunter.
Die Zehnminutenuhr schlug zwanzig vor fünf; Meno sah noch einmal nach Manuskript, Schlüssel, dem von Arbogasts Sekretärin geschriebenen Einladungsbrief, nahm die Rose für Arbogasts Frau aus dem Wasser, schlug sie in Papier und verließ das Haus. Er ging die Wolfsleite vor, grüßte Herrn Krausewitz, der sich, einen seiner» Mundlos«-Stumpen paffend, im Garten von Haus Wolfsstein zu schaffen machte:»Oh, guten Abend, Herr Krausewitz, ist es nicht noch ein bißchen zu früh für Blumen?«und wies auf die Schubkarre mit Gartenutensilien, die Krausewitz aufgefahren hatte.
«Für Blumen schon, Herr Rohde, jetzt ist das Kernobst dran, außerdem sind die Kronen der alten Apfelbäume da zu dicht, ich muß sie auslichten, sonst haben wir nur kleine Früchte im Herbst.«—»Ziemlich kalt noch, nicht wahr?«—»Ach«, winkte Krausewitz ab,»fürchte nicht den Schnee im März, drunter schlägt ein warmes Herz, wie die Bauern sagen. Es sind auch die Raupen, wissen Sie. Hier«, er wies auf einige Äste,»habe ich Leimringe angebracht. Unter den Klebstreifen haben sie inzwischen ihre Eier abgelegt, diese Biester. Der Frostspanner besonders, eine wahre Plage letztes Jahr. Die Ringe kleben nicht mehr, ich muß sie erneuern. Sonst kriechen die Raupen in die Krone, und das war’s dann mit Obst und seinen Folgen.«
«In unserem Garten haben die Bäume viele Risse in der Rinde.«»Dürfen Sie nicht offenlassen, Herr Rohde. Kein Wunder bei der Kälte, die wir hatten. Die Rinde platzt wie trockene Haut. Ich empfehle, die Wundränder glatt auszuschneiden und dann mit einem Wundverschlußmittel zu versiegeln. Frau Lange dürfte noch welches haben, im Oktober habe ich sie in der Drogerie reichlich einvorraten gesehen. Sonst kommen Sie einfach noch mal vorbei.«—»Also glatt ausschneiden.«—»Wie die Chirurgen, jaja. Sind auch Lebewesen, diese Bäume. Und Charakter haben sie auch. Aber, wie gesagt, den Wundverschluß nicht vergessen. «Wie es auf dem Flughafen gehe, wollte Meno wissen; Krausewitz arbeitete dort als Dispatcher. Wie immer, Routine halt, man habe ihn aus dem Tower zum Bodendienst versetzen wollen, er sei doch mittlerweile achtundfünfzig, nicht wahr. Aber bei den Tests habe er zwei der jüngeren Kollegen hinter sich gelassen, außerdem halt die Erfahrung, und deshalb sei er immer noch eingetaktet, Vierstundenschicht wie die anderen. Schöne Grüße an die Langes, nicht wahr. Damit tippte Krausewitz an seinen Anglerhut und stach den Spaten, auf den er sich während des Gesprächs gestützt hatte, in die noch schneegefleckte Erde.
Meno war heute etwas eher nach Hause gegangen, was an Freitagen einfacher war als sonst, da ab dreizehn Uhr die Hauptverwaltung Verlage nicht mehr anrief und auch Schiffner, wenn er aus Berlin gekommen war, sich um diese Zeit verabschiedete: nicht ins Wochenende, sondern zu den von ihm sehr geliebten Besuchen in Künstlerateliers, wo er fähigen Nachwuchs zu finden hoffte.»Bis heute abend, Herr Rohde, wir sehen uns bei Arbogast, ich bin auf Ihren Vortrag sehr gespannt! Sie hätten es mir aber auch sagen können, was für ein Hobby Sie haben, das kann man doch fördern — sitzt hier still für sich und brütet über Literatur, dieser Geheimniskrämer!«
Eigentlich hätte Meno noch an einem Manuskript des Autors Lührer arbeiten müssen, eine dringliche Angelegenheit, aber er wollte den Vortrag noch einmal durchsprechen und hatte bei seiner Kollegin Stefanie Wrobel, genannt Madame Eglantine, geklopft.»Verschwinde schon«, sagte sie mit resigniertem Lächeln,»viel Glück für heute abend.«
«Danke. Du hast was gut bei mir. Wenn ich was für dich tun kann — «
«Du könntest mir noch einen Topf Kaffeewasser aufsetzen, bevor du verschwindest. Einen Abzug deines Vortrags möchte ich auch haben, einen genauen Bericht natürlich und — eine ehrliche Meinung.«
«Worüber?«
«Wie du es geschafft hast, das neueste Opus unseres Klassikers mir aufzuhalsen. «Sie wies auf Eschschloraques Manuskript.
«Er droht mir.«
«Wem nicht. «Madame Eglantine zuckte die Achseln und trank hastig ihre Kaffeetasse leer.
Es dunkelte noch immer schnell, die Laternen über der Wolfsleite und der Kreuzung zur Turmstraße schwammen auf wie Monde. Ein weißer Citroën bog in die Wolfsleite und hielt vor dem ersten Haus nach der Turmstraße. Das mußte der Wagen von Rechtsanwalt Sperber sein. Meno hielt sich in den Baumschatten auf seiner Straßenseite. Der Rechtsanwalt stieg aus, klapperte mit Schlüsseln, das Garagentor am Ende des schmiedeeisernen Zauns öffnete sich, und Meno beobachtete Sperber, über den im Turm viele Gerüchte kreisten: Er arbeite die Woche über in einem Rechtsanwaltskollegium auf der Askanischen Insel, habe auch eine Dienstwohnung da und eine Geliebte, von der seine Frau nicht nur wisse, sondern die sie ihm aus der Studentinnenschar des Juristischen Kollegs, an dem er Vorlesungen hielt, selbst ausgesucht habe; daß er ein fanatischer Anhänger des Fußballclubs» Dynamo Dresden «sei — Meno wußte es von Ulrich, der Sperber schon öfter im Stadion begegnet war —, und daß er ein Ohr für alle habe, die in politischen Schwierigkeiten steckten. Sperber wandte sich um, fixierte Meno, winkte:»Guten Abend, Herr Rohde, es beginnt doch erst neunzehn Uhr c. t., wenn ich nicht irre?«Also gehörte auch Sperber zur Urania? Meno verbarg seine Überraschung und ging auf Sperber zu, versuchte unbefangen zu wirken, denn sein Versteckspiel und mehr noch seine Entdeckung waren ihm peinlich. Aber das wird er kennen, sagte er sich mit belustigtem Ärger, das wird das Verhaltensmuster seiner Mandanten sein. Sperber sagte, daß es schön sei, sich einmal kennenzulernen, er sei ja ein Liebhaber der Dresdner Edition, geradezu ein Abonnent, und da der Name des Lektors im Impressum genannt werde, habe er mit ihm, wenn es gestattet sei, die Arbeitsweise für den Menschen zu nehmen, gewissermaßen schon Bekanntschaft gemacht, wie übrigens auch mit Frau —»oder Fräulein?«Sperber lächelte charmant, Wrobel, die allerdings strenger mit manchen Autoren umgehen müsse, da gebe es Unregelmäßigkeiten, er wolle natürlich keine Namen nennen. — Natürlich. — Manche unserer lebenden Klassiker seien doch recht unsicher bei der Zeichensetzung. Bei Preisangaben müsse ein Geviertstrich stehen, kein Gedanken- und auch kein Bindestrich. Auch habe er neulich eine Trennung entdecken müssen, die er sofort zum Gegenstand seines Kollegs gemacht und auch in der Kanzlei verbreitet habe: Chi-rurg, statt, korrekt, Chir-urg! Sperber ließ die Handkante sausen und kniff das rechte Auge zusammen. Schiffner sei doch vom alten Schlag, ob er nicht … Aber davon später mehr! Sperber lachte und gab Meno die Hand zu einem schlafffleischigen Gruß.
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