«Beinverkürzung links zwölf Zentimeter«, trug Dr. Pahl ein und klappte das Handbuch zu Untersuchungen der Wehrdiensttauglichkeit zu.»Der Mann ist völlig dienstuntauglich. Bei zehn Zentimetern hätte er noch als Marinefunker oder Stabsschreiber ohne Grundausbildung einberufen werden können. Bleibt natürlich die Frage, Herr Kollege, was wir im Fall einer Revision machen oder wenn die Akte der Orthopäde vom Wehrbezirkskommando liest. Der will doch sofort wissen, was für Rehabilitationsmaßnahmen wir eingeleitet haben. Gibt es orthopädische Schuhe mit zwölf Zentimeter hohen Sohlen?«
«Ich glaube nicht«, sagte Richard.»Man müßte also einfügen, daß eine Verkürzungs-OP am anderen Bein geplant ist.«
«Hm. «Pahl überlegte.»Fadenscheinig. Das wäre ja Sache der Orthopädie. Immerhin, ich kenne dort vertrauenswürdige Kollegen. Was aber, wenn irgendein Übereifriger diesen Vulkanisateur einfach mal einbestellt, um sich das Bein anzusehen?«
«Und würde er nicht wissen wollen, wie der Mann bisher gelaufen ist? Zwölf Zentimeter, Herr Pahl!«
«Jaja, der hinkt nicht bloß. Ach, wir sagen einfach, daß er sich Schuhsohlen aus alten Reifen gebastelt hat, die hat er unterm Schuh getragen. Ein Wahnsinn, diesen Mann einzuberufen! Das müssen wir verhindern. Kennen Sie den Orthopäden vom Wehrbezirkskommando, Herr Hoffmann?«
«Leider nicht.«
«Ich leider auch nicht. — Riskieren wir’s?«
«Riskieren wir’s.«
Beinahe hätte Meno» Sie?!«gerufen, als er den Alten vom Berge aus der Tür treten sah. Der Alte bat ihn in sein Zimmer.»Was trinken Sie? Tee, Mineralwasser, Limonade? Nein, ich weiß, was Sie trinken. «Altberg griff unter den Schreibtisch und fischte mit verschmitzter Miene eine Flasche mit bernsteingelber, öliger Flüssigkeit hervor.»Selbstgebrannter, das Rezept stammt von meiner Haushälterin! Ein köstliches Schlückchen, und bitte«, drängte Altberg den protestierenden Meno, goß vom Schlückchen in zwei Gläschen.»Prosit!«
Meno kostete: Glutbröckchen kollerten den Schlund hinab, verschmolzen zu einem Feueraal, der langsam und stecknadelgespickt die Speiseröhre füllte; Meno hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen, und als ob seine Augen von innen aus ihren Fassungen gedrückt würden. Dann schwappte die Lohe zurück, brandete bis in die Haarwurzeln und Fingerspitzen, elektrisierte die Nasenlöcher und brachte Frieden. Der Alte vom Berge schenkte sich ein zweites Glas ein, kippte, kaute das Getränk wie Brot. Dann zog er die Gutachten aus der Schublade, und plötzlich war seine Freundlichkeit wie weggeblasen.
Der Alte zerriß, zerfetzte, zerwütete fast den gesamten Plan. Einen Roman des Autors Paul Schade durchlöcherte er wie einen Schweizer Käse, den zwischen den Löchern stehengebliebenen Käsebrückchen verlieh er den Geschmack von Radiergummi und die Bezeichnung Ideologenpüree, die Löcher strich er durch, zerschnetzelte sie längs, zerhäckselte sie quer, malte, nachdem er das dritte Gläschen vom Schlückchen getrunken hatte, eine Jalousie in die Luft und machte sie zu.
«Wissen Sie, was mit Ihnen früher passiert wäre, nach dem elften Plenum, wenn Sie einen solchen Plan, solche ideologischen Abweichungen der Zensurbehörde vorzulegen gewagt hätten? Fragen Sie mal Ihre Kollegin Lilly Platané aus dem Lektorat Eins … Finanzielle Abstrafung in Form von Gehaltsminderung, schwere Anschuldigungen wegen Gefährdung der Planvorgabe, Selbstkritik vor dem Lektoratsgremium, wahrscheinlich sogar Entlassung! Glauben Sie, daß in unserer Republik nicht entlassen wird … Seien Sie froh, daß ich Sie nicht persönlich angreife. Die von mir verordneten Striche können Sie zu Hause studieren. Hier«, er legte die Gutachten in eine Mappe und schnippte sie zu Meno.»Aber da wäre noch etwas. Das Manuskript vom Herrn Eschschloraque. Das, lieber Rohde«, sagte der Alte vom Berge,»schieße ich Ihnen ab. Mein Band Erzählungen wird geschaßt, nur gut, daß ich noch ein paar Aufsätze hatte; und dafür wollen Sie diesen Dreck veröffentlichen, diesen gestelzten Sellerie, diesen …«, er rang nach Worten, um seine Verachtung für Eschschloraque, der eine flugunfähige, auf Klassikergips krabbelnde Schmeißfliege sei, dem blaß gewordenen, mit den Folgen des Schlückchens kämpfenden Meno mit Wucht in die Ohren zu keilen. Meno überlegte, ob er den Alten vom Berge auf Eschschloraques Verhalten aufmerksam machen sollte, unterließ es aber, wie vor den Kopf geschlagen.
Fünfzehn Uhr. Richard verglich mit seiner Armbanduhr, während der Gong verhallte. Regine hatte sich von ihm verabschiedet, in vierzehn Tagen wollte sie wieder hier sein, hatte sie tapfer und trotzig beschlossen: keine Hysterie wie bei Alexandra Barsano, davon bekam man nur Unannehmlichkeiten, das führte zu nichts. Hartnäckiges Insistieren, unbeirrbares Brettbohren —»und wenn ich hier übernachten muß«. Richard lehnte sich an eine Wand, sah aus dem Fenster, überlegte, ein Kupfergießkännchen oder wenigstens von einer der dickfleischigen Pflanzen einen Ableger zu stehlen, aß die letzte Schnitte. Geige begutachten lassen, Gutachten bei Pahl erledigt — glücklicherweise ein verständiger und lebenskluger Mann, man konnte ja nie wissen, an welche Gegengutachter man geriet … Blieb der Gasdurchlauferhitzer. Das seltsame Ticken von heute morgen war verstummt. Meno war um zwölf nicht aufgetaucht, und der Pförtner hatte sich geweigert,»einen x-beliebigen Bürger auszurufen, wir sind doch nicht im Fußballstadion«.
Oder auf der Pferderennbahn, dachte Richard. Schneetreiben setzte ein. Die Fördertürme im Sperrbezirk der Kohleninsel waren nur noch wie mit schwachem Bleistiftstrich skizziert sichtbar. Krähen flügelten vom Marx-Engels-Denkmal; der Posten davor, den Richard von schräg hinten sah, stand reglos, schneebedeckt, das Gewehr in Habachtstellung. Ein Knacken schlingerte durch die Heizungsrohre, die frei an der Flurwand liefen. Richard faltete das Butterbrotpapier zusammen, wusch sich an einem der Waschbecken die Hände und machte sich auf den Weg in den 11. Stock, Flur G, Büro KWV/5.
Meno blickte auf die Uhr: Der nächste Termin war auf 15.30 Uhr angesetzt. Heißhungrig aß er den Apfel und die zwei Stücke Bienenstich, die er sich am Morgen eingepackt hatte. Slalomon . Er war der einzige Gutachter, der seine Gutachten — ausführliche Eiskunstlaufküren mit einem gewissen Anteil eingestreuter Schnittblumen — noch mit der Hand schrieb. Die Handschrift war schwungvoll und gestochen wie in Kanzleibriefen aus dem 19. Jahrhundert. In den Verlagsakten nahmen sie sich seltsam aus, wie Treibgut aus einer verschollenen Zeit, und Meno hatte, wenn er Albert Salomons Gutachten las, den gewundenen, vor Direktheiten zurückschreckenden Stil, das gleiche Empfinden wie bei Vorkriegstelegrammen, die er bei Malthakus sah, mühsam beschaffte und gegen erhebliche Widerstände zusammengefügt wirkende Zeilen, die das Bedürfnis weckten, einen Essay über den Reiz des Gerade-noch zu schreiben; es mußte etwas mit Rettung zu tun haben, einem angeborenen Schutztrieb, der ein solches, aus einer Zeitgruft gerettetes Schriftstück wertvoller erscheinen ließ als die modernen, glatten Nachrichten, die den Eindruck vermittelten, daß weder ihre Herstellung noch ihre Verbreitung Mühe kostete.
Ein langer Anteil von Salomons Gutachten bestand aus Entschuldigungen: dafür, daß er zu einer Wertung kommen mußte; dafür, daß er hier und da eine Kürzung empfahl; dafür, daß er dem Autor und dem Lektor Ungelegenheiten bereitete; dafür, daß es ihn, Albert Salomon, gab.
Die Geheimrätin . Eschschloraque, in seiner Eigenschaft als Dramatiker, hatte sich einmal einen Spaß erlaubt und in einem seiner Stücke sprechen lassen:»Zensoren! Wer wird denn Zensor, wenn nicht der / in dessen Kopf es überwiegend leer / und hat der Kerl die Zeile hier gelesen«— so ist das Stück auch schon gewesen, hatte Karlfriede Sinner-Priests einziger Kommentar über dem sozialistischen Gruß gelautet. Meno fürchtete sich vor ihr. Sie war unberechenbar, ihre Meinung wog am schwersten in der Hauptverwaltung, sie saß seit unvordenklichen Zeiten auf der Kohleninsel, ihre Gutachten galten als ideologischer Lackmus-Test. Noch nie war es einem Lektor im Hermes-Verlag gelungen, ein Buch, das sie am» Eintritt in die Literatur «hindern wollte, durchzubekommen. Sie war hager und sah aus wie aus Holz gedrechselt, eine niemals lachende Puppe, die je nach Laune glasscherbenscharf, mit einem einzigen Satz, schlachtete oder sprühende, begeistert sich verkletternde, auch selbstironische Kabinettstücke verfaßte. Ihr Gewährsmann war Lenin, ihr Interesse vorurteilsfrei. Bleistifte trug sie wie japanische Haarnadeln in ihrer schlechtsitzenden Perücke, die ihr Gesicht unnatürlich längte, was ihr etwas Ausgestorbenes gab; Meno stellte sie sich manchmal auf einem Schloßball vor, zeremoniös zu Spinettklängen tanzend. Sie hatte ein Förderstipendium der SS bekommen. Sie hatte Buchenwald überlebt.
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