Moment noch.
«Ja?«
Der Sachprüfer nahm die Brille ab und putzte sie umständlich.»Zur Geige gehört noch der Geigenbogen, wie Sie wissen. Ich habe Ihnen nur bestätigt, daß die Geige nicht zum Kulturgut unseres Landes gehört. Für den Bogen müssen Sie sich das ebenfalls bestätigen lassen.«
«Na, bitte schön«, Richard nestelte an dem Kasten, wollte den Bogen gleich herausholen.
«Werter Herr«, korrigierte der Sachprüfer,»ich bin zwar staatlich anerkannter Streichinstrumenten- und Bogensachverständiger, laut Vorschrift aber sind Streichinstrumente und deren Bögen getrennt zur Beurteilung einzureichen.«
«Aber ich stehe doch hier, und da könnten Sie, ich meine, das spart doch Zeit, und hinter mir warten noch andere — «
«Laut Vorschrift sind Streichinstrumente und Bögen getrennt zur Beurteilung einzureichen.«
«Also, hören Sie … so ein Unsinn!«brauste Richard auf.»Sie haben doch eben selber auf der Geige gespielt! Dazu haben Sie den Bogen verwendet, sonst hätten Sie ja gar nicht spielen können! Bitte, untersuchen Sie ihn und machen Sie Ihren Stempel auf den Wisch — «
«Wollen Sie meinem Kollegen drohen?«fragte ein zweiter Prüfbeamter und musterte Richard abschätzig von oben bis unten.»In unserem Staat herrscht die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz! Wollen Sie eine Sonderbehandlung? Was glauben Sie, wer Sie sind?«
«Aber so prüfen Sie ihm doch den Bogen, das ist doch albern«, murrte ein Mann hinter Richard.»Nichts gegen die Gleichheit der Bürger undsoweiter, aber ich habe auch eine Geige und einen Bogen zu prüfen, da muß ich ja auch noch mal nach hinten wandern, und wer weiß, wie viele das heute noch betrifft, so ein Unsinn!«
«Ja, Unsinn!«bekräftigte Richard.»Ich werde mich beschweren!«
«Frechheit, gar nichts werden Sie; ich werde gleich den roten Knopf drücken!«schrie der zweite Prüfbeamte. Dann würde in Sekundenschnelle ein Uniformierter auftauchen und eine zermürbende Sachlagenklärung vornehmen, mit Protokollen, umständlich auf einer Schreibmaschine verfaßt, mit Vermerk in der Akte, die es von jedem Bürger in den Archivkellern der Kohleninsel gab.
«Wenn Sie den Bogen zertifiziert bekommen wollen, stellen Sie sich bitte hinten an«, beschied der erste Sachprüfer mit gesetzlicher Höflichkeit. Es hatte keinen Zweck, sich zu widersetzen. Damit hätte Richard Regine geschadet, die an einem anderen Tag hätte wiederkommen müssen. Richard trat beiseite, nahm ein Pausenbrot aus der Tasche, dachte an eine Bombe und stellte sich hinten an.
Nach der Bogenprüfung (»keiner von Tourte, keiner von Pfretzschner, keiner von Schmidt«) ging Richard in den zweiten Stock, Flügel F, um Regine zu suchen. Treppauf, treppab begegnete er Bekannten, grüßte hier Frau Teerwagen, da Frau Stahl aus dem Tausendaugenhaus, hielt einen kurzen Schwatz mit Clarens.»Na, auch dienstfrei, Hans?«Clarens hob in stiller Ohnmacht die Schultern.»Was isses bei dir?«rief er zurück.
«Gasdurchlauferhitzer, Gutachten, Gefallen«, Richard hob die Geige.»Und selber?«
«Kfz-Zulassungsstelle, Kohlenkontingenterhöhung, Beerdigungsstelle!«
«Wer ist denn gestorben?«rief Richard von einer Treppe zur anderen. Der Psychiater winkte ab.»Na, sachmer mal: Die Hoffnung, mein Lieber, die Hoffnung!«und ließ sich grüßend und resigniert lächelnd in den Strom aus Bittstellenden, Antragsuchenden, Behördenboten und Sachbearbeitern zurückgleiten.»Wohin möchten Sie?«Der Beamte vor Flur F verlangte Richards Personalausweis.
«Ich warte auf jemanden.«
«Hier ist nur für Ausreisewillige. Ich darf nur diese Personengruppe einlassen.«
«Aber ich sage Ihnen doch, daß ich nur auf jemanden warte. Das ist doch nicht verboten?«
«Hm. Auf wen warten Sie?«
«Frau Regine Neubert.«
Der Beamte blätterte in seinen Unterlagen.»Ihr Name? — Wir könnten das folgendermaßen lösen. Sie bekommen einen Besuchsbewilligungsschein. Ihren Ausweis lassen Sie hier, den kriegen Sie wieder, wenn Sie zurückkommen. Sie haben eine Stunde, dann müssen Sie sich wieder bei mir melden.«
Richard sah auf, so freundlich wurde hier selten gesprochen.
«Tja, Herr Doktor. «Der Beamte ließ die Namenslisten über den Daumen reisen, nachdenklich ein Blatt nach dem anderen.
In Flur F sirrten die Nähmaschinen hinter den Türen. Die Menschenschlange reichte hier bis in den Rotundenflur. Richard konnte Regine nicht entdecken, stellte sich an ein Fenster und wartete, nicht ohne mißtrauisch, sogar feindselig beobachtet zu werden — ein Mann mit Geige, der sich nicht einreihte, was wollte der hier?
«He, Sie da«, blaffte eine Frau,»vordrängeln gibt’s nicht! Wir wollen alle raus!«Richard wollte erwidern, daß er gar nicht die Absicht habe, sich vorzudrängeln, als eine Tür aufflog und eine Frau laut zeternd herausstürzte.»Ich bin Alexandra Barsano, der Name dürfte Ihnen bekannt sein, das wird Sie teuer zu stehen kommen!«schrie sie in die offenstehende Tür hinein. Von innen waren beschwichtigende Worte zu hören. Die Wartenden beobachteten schweigend, was sich vor ihren Augen abspielte. Richard erinnerte sich: Früher hatte es Fotos in der Presse gegeben, die den mächtigen Bezirkssekretär Barsano präsentierten, einen Arm stolz um die Schulter seiner Tochter gelegt; aber die junge Frau, die sich in ihre Wut steigerte, wie betrunken schwankte und flatternd ihre Arme hin- und herwarf, hatte mit dem Mädchen auf den Fotos von damals offensichtlich nichts mehr zu tun. Seitlich eines Irokesenschnitts, dessen Stachel grellgelb gefärbt waren, hingen zottelige schwarze Strähnen vom sonst kahlrasierten Kopf. Die Augen schwarzumrandet, Totenkopfringe an den Fingern, zerschlitzte Lederjacke mit aufgenähtem» Schwerter zu Pflugscharen«-Symbol auf dem Rücken, Lederhose mit Nietengürtel; über den Schultern trug Alexandra Barsano, befestigt an klirrenden Silberketten, eine Schornsteinfegerkugel. Als sie sich umwandte, sah Richard das Parteiabzeichen am Revers ihrer Jacke. Ein Mann im grauen Anzug näherte sich.
«Sie werden von mir hören!«drohte Alexandra Barsano. Der Mann im Anzug zog sie beiseite, redete leise auf sie ein. Die Tür des Büros schlug zu, öffnete sich kurz, jemand hängte ein Schild an,»geschlossen«. Die Leute wurden unruhig, murrten. Alexandra Barsano lief auf die Tür zu und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Zwei Uniformierte erschienen und führten sie weg, sie sträubte sich nicht, die Schornsteinfegerkugel schlug gegen ihren Rücken. Der Mann ordnete seinen Anzug, fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar, ruckte energisch das Kinn gegen die Wartenden:»Das Büro ist geschlossen!«
Die Leute murrten noch lauter.
«Provokateure lasse ich wegen Randalierens gegen die Staatsgewalt verhaften! Damit das klar ist! Das Büro ist geschlossen, aus, Feierabend!«Der Mann im Anzug stapfte davon. Die Wartenden standen noch eine Weile ungläubig, zerstreuten sich dann, fluchend und schimpfend. Die Tochter unseres Bezirkssekretärs auf der Ausreisestelle, dachte Richard, noch benommen von der Szene, als die Bürotür sich wieder öffnete und Regine heraustrat, blaß, mit verweintem Gesicht. Neben ihr stand Philipp, eine Packung» Ata«-Scheuermittel in der Hand, aus der das weiße Pulver rieselte.»Das nächste Mal kommen Sie allein, Bürgerin Neubert!«Während eines langen Gesprächs, in dem Regine nahegelegt worden war, sich von ihrem Mann zu trennen, da er ein Staatsverräter sei und man» Beweise «habe, daß er Münchner Bordelle aufsuche, war Philipp zum Waschbecken des schalldichten Gesprächsabteils getappt und hatte mit Putzlappen und Bürste ein» Ata«-Schneefest im ganzen Raum veranstaltet. Die Tür schlug zu, noch im Gehen hörte Richard es drinnen husten.
Der erste Zensor, dachte Meno, indem er den Knoten seiner Krawatte vor dem Spiegel über einem der in regelmäßigen Abständen angebrachten Flurwaschbecken zurechtrückte. Er befand sich tief im östlichen Flügel der Kohleninsel. Hier oben, unter dem Dach, war es still; in diesen Bezirk gelangte man nur mit einer Sondergenehmigung. Schiffner hatte sie für Meno ausgestellt und unterschrieben.
Читать дальше