Uwe Tellkamp - Der Turm

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Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der "süßen Krankheit Gestern" der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze — oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.

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Verena eine Informantin … Sein Blick suchte ihren, er mußte sie entsetzt angesehen haben, ihre Augen glitten ab.

«Vielleicht wollen Sie es mir nachher sagen. «Schnürchel sprach nun bestimmt und abschließend. Seine Ringelsocken, dachte Christian, die übereinandergelegten Füße — gar nicht komisch.»Ich habe mich nicht unwohl gefühlt. «Verenas Stimme war schartig, sie mußte sich räuspern.

«Verena. «Diesmal antwortete Schnürchel schnell, Christian spürte die Überraschung in der Klasse bei diesem Ton verhaltener Wärme.»Dann muß ich eine FDJ-Leitungssitzung einberufen und den Klassenlehrer informieren. «Verena schwieg, und Christian verstand sie nicht, wandte den Kopf zur Tür und flüsterte» Warum, warum?«mit einer nutzlosen Intensität. Das Mißtrauen stach wieder auf, und er glaubte es auch auf Jens Ansorges Zügen lesen zu können, auf Siegbert Fügers dünnem Lächeln, Reina Kossmanns jetzt kalkweißem Gesicht.

Die FDJ-Leitungssitzung wurde für fünfzehn Uhr, nach der letzten Unterrichtsstunde, anberaumt, im Russischzimmer unter Sputnik- und Pionierlager Artek-Wandtafeln, Patenbriefen der befreundeten Komsomol-Organisation und einer Maxim-Gorki-Büste aus Gips. Der Rest der Klasse wartete draußen.

Tagesordnung, Schriftführung — Falk Truschler nahm Stift und Papier —, Dr. Franks sommersprossige Hand, die sich öffnete und schloß.»Bitte. «Er nickte Verena zu, die zur Seite starrte, vor sich das weiße Blatt mit ihrem Namen und der Aufgabe darunter.»Ich wußte nicht, was ich schreiben sollte. «Ihre Stimme war klar, der Ton kurz angebunden, mit ein wenig Verächtlichkeit; Christian sah auf, traf aber nur Franks Blick, dessen helles Braun ihm jetzt unerklärlich unangenehm war, ebenso die sich hilflos öffnende und schließende Hand.»Dann hatten Sie einen Blackout. «Frank stellte es nuschelnd fest, es war keine Frage.»Das kann vorkommen.«

«Wir müssen in diesem Fall die Arbeit mit Ungenügend bewerten. «Schnürchel hatte zögernd gesprochen, aber noch in Franks Satz hinein. Wieder blieb das Schweigen, wie etwas, das nicht zu löschen war. Christian trug das FDJ-Hemd, wie auch Falk Truschler und Siegbert Füger und Swetlana Lehmann: Herr Schnürchel hatte alle Schüler der Klasse, die im Internat wohnten, gebeten, es anzuziehen.

«Ich bin nicht damit einverstanden, wie wir hier diskutieren. Ich bin der Meinung, daß Verena eine ablehnende Haltung zur gestellten Frage einnimmt und sie deshalb nicht beantwortet hat. Das wäre nicht das erste Mal.«

Verena hob den Kopf und musterte Swetlana mit erschrockener Faszination.

«Ja, du hast dir solche Sachen schon auf der POS geleistet. Genau wie deine Schwester.«

«Swetlana — «

«Nach meiner Meinung handelt es sich um eine vorsätzliche Provokation, Herr Dr. Frank.«

«Das glaube ich nicht. «Reina Kossmann, die Kassiererin im FDJ-Rat war, schüttelte den Kopf.»Mir hat sie nämlich vorher etwas gesagt. «Verena sei es schlecht gewesen, einer Sache wegen, die einmal im Monat —.

«Sie hat gesagt, sie hat sich nicht krank gefühlt«, beharrte Swetlana.»Ich möchte eure Standpunkte wissen. Ich bin dafür, daß der FDJ-Rat einen Beschluß faßt und ihn dem Direktor vorlegt. «Swetlana überlegte kurz, tippte mit dem Finger auf die Lippen.»Beiden Direktoren. Und der Grundorganisationsleitung.«

Hier mischte sich Siegbert Füger ein: Swetlana könne nicht einfach» Ich glaube ihr nicht «sagen, nicht nur Verena, sondern auch Reina stünden dann unter dem Verdacht der Schwindelei, er persönlich kenne Verena nicht von der POS, aber vom Sportunterricht bei Herrn Schanzler hier, beim Völkerball sei man zusammengestoßen, ihre Lippe habe geblutet, doch sei das ohne Ohnmacht, wie sonst üblich, abgegangen, Verena sei seiner Meinung nach eine, die die Zähne zusammenbeiße, und also auch vor der Geschichtsarbeit.

Was er unter» wie sonst üblich «verstehe, fragte Reina, den Rücken aufrichtend, es seien eher die Jungen, die am schnellsten herumjammerten, zum Beispiel bei der Kartoffellese. Christian schwieg, weil er das schmerzverzerrte Gesicht Verenas nach dem fehlgegangenen Hammerschlag vor sich sah, aber da auch Falk Truschler schwieg, er mußte Protokoll führen, hefteten sich Swetlanas Augen auf ihn, während Dr. Frank einen Zettel kleinkniffte und Schnürchel eine Cremetube aus seiner Aktentasche zog, eine durchsichtige zollbreite Walze ausdrückte und seine Hände einrieb. Es roch angenehm nach Kräutern.

«Deine Position, Christian?«Er mußte in diesem Moment an Swetlanas lockiges Haar denken. Es war schön und von einem Braun, das er nicht genau bezeichnen konnte.»Sie ist nicht in der Lage, eine Arbeit zu schreiben, wenn ihr schlecht ist.«

«Sie hätte es natürlich vorher sagen müssen. — Das war Ihr Fehler, Verena«, sagte Schnürchel nachdenklich.»Das Ungenügend können wir nun nicht mehr zurücknehmen. Kein guter Start, aber ich denke, das wird bei Ihnen ein Ausrutscher gewesen sein. Es gibt ja mündliche Vorträge, und sonst stehen Sie doch gut bis sehr gut.«

«Mehr hast du nicht zu sagen?«An Swetlana schien Schnürchels Einwurf vorbeigeflogen zu sein wie ein Insekt, dem man keine Beachtung schenkt, da man sich auf etwas konzentriert. Sie fixierte Christian, es schien ihm, als ob es sie Kraft kostete, die Lider zitterten kaum merklich, der Blick war nicht stet.»Schade, daß die schönen Posten schon weg waren, hm? Der stellvertretende FDJ-Sekretär, der Schriftführer und der Kassierer. Das hätte ja fürs Medizinstudium gereicht? Aber so … Als Agitator — da muß man ja wirklich Engagement zeigen, stimmt’s? Farbe bekennen!«

«Swetlana, Sie werden unsachlich. So kann man nicht miteinander arbeiten. «Das sagte Dr. Frank, mit grauem Mund, und Reina Kossmann fauchte:»Mir zu unterstellen, ich hätte nur einen Duckposten angenommen, für ein paar Pluspunkte in der Kaderakte — «

«Ist doch die Wahrheit! Das wichtigste für euch ist das Studium, die Karriere, und dafür geht man auch in die FDJ-Leitung! Freilich nicht als Sekretär oder Agitator, also worauf ’s ankommt … Wärt ihr denn auch dabei, wenn es dafür keine Pluspunkte gäbe? Was in diesem Land verwirklicht werden soll, ist euch doch völlig egal!«

«Swetlana! So kommen wir nicht weiter. Dr. Frank hat recht, das ist unsachlich. Es ist nicht korrekt. Nicht korrekt. Wir sollten abschließend auch hören, was Verena zu sagen hat. Beruhigen Sie sich. «Merkwürdig, wie behutsam Schnürchel sein konnte, väterlich, als müßte er seine ungebärdige Lieblingstochter vor sich selbst schützen; seine linke Hand, die vorgeschnellt war: als ob er etwas einfangen wollte, dachte Christian. Vielleicht kannte er die Situation, erkannte sie wieder.

«Es stimmt, was Reina gesagt hat. Ich … hatte Probleme. «Verena war blaß jetzt, sie hatte leise gesprochen, mit abgewandtem Gesicht.

Abends rief Christian zu Hause an. Er war weit gegangen, am Stadtschloß, wo noch Lichter brannten, und am Kino vorbei, die Uferstraße an der Wilden Bergfrau entlang bis zur Lohgerberei. Das Schäumen und Donnern des Flusses beruhigte ihn nicht, immer wieder sah er Szenen des Nachmittags vor sich und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Auf der Brücke lehnte er sich ans Geländer, betrachtete die dunklen, unregelmäßig von metallischen Spindeln durchglittenen Strudel, aber nach einer Weile fror er, und die Dunkelheit machte ihm zu schaffen: eine einzige Laterne hing wie ein weißer Topf über der Kreuzung zwischen Ufer- und Ausfallstraße, die an der Brücke begann. Er ging stadteinwärts, in Richtung Markt, nahm aber den falschen Weg und stand nach leerer Zeit wieder vor dem Kino, was ihn verwirrte; aber dann sah er die Telefonzelle auf dem Wegstück vor dem Pförtnerhäuschen des Schlosses. Der Pförtner musterte ihn über den Rand einer» Wochenpost«. Christian schlenderte zur Telefonzelle. Das schien dem Pförtner zu genügen, er wandte sich wieder der Zeitung zu. Das Telefon dieser Zelle wurde wahrscheinlich überwacht. Nichts Verfängliches über das Telefon, hatte Anne ihnen eingebleut. Doch vielleicht verhielt es sich gerade bei diesem Telefon anders … Es stand vor der Kreisparteizentrale. Einerseits. Andererseits mußte es in den Räumen des schäbigen Schloßbaus so viele Telefone wie nirgendwo sonst in Waldbrunn geben, wozu brauchte man also hier noch eine Telefonzelle … War nicht gerade das die Falle? Man dachte mit, man dachte mit den Leuten: Die Telefonzelle am Markt benutzte kaum jemand, tatsächlich hatte Christian noch nie jemanden dort telefonieren gesehen: jedermann dachte, daß diese Zelle überwacht sei, und da die Sicherheit wußte, daß die Leute so dachten und selbst dann, wenn sie von dort anriefen, im Bewußtsein des Überwachtwerdens nur Harmlosigkeiten von sich geben würden, betrachtete sie womöglich gerade diese Zelle als nutzlos und ließ sie unbelauscht, während man hier, noch lächelnd darüber, wie besonders schlau man war, in die Schlinge tappte. Oder war die Zelle vor dem Schloß womöglich doch ein Freiraum, den sich die Parteileitung bewahren konnte? Christian überlegte. Was würde er tun, wenn er bei Jenen wäre … Er würde einfach jede Leitung anzapfen, umstandslos. Das Spiel» Denk wie dein Feind «hatte Richard mit Robert und ihm öfter gespielt; und Richard hatte geantwortet:»Das ist unwahrscheinlich, so viele Leute dürften sie nicht haben zum Abhören, das müßte ja im Dreischichtsystem sein, und hinter jeder Leitung, und haben sie die Leute, so doch kaum die Technik und die Tonbänder. Ein paar freie Leitungen muß es geben in diesem Land. Bestimmt ist es nicht die des Genossen Staatsratsvorsitzenden, und die des Chefs der Sicherheit ebensowenig.«—»Auch nicht die Leitungen der Telefonzellen«, hatte Christian erwidert. — »Warum nicht? Gerade da ist die Überwachung wenig erfolgversprechend, denn niemand sagt etwas über eine öffentliche Telefonleitung. Das würden nur Deppen und ahnungslose Ausländer tun, und die werden sowieso rund um die Uhr überwacht.«

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