«Klar, du Blödmann, die Alte ist scharf auf dich, das sieht doch ’n Blinder!«röhrte Jens.
«Doch nicht auf diesen Großstadt-Pfau!«hieb sie zurück.
«Woher weißt du das eigentlich?«brauste er auf. Wie hübsch sie jetzt aussah.
«Spielst Cello im Keller, daß es jeder hört, du … Angeber! Unser begnadeter Künstler versinkt immer genau dann in sein Spiel, wenn die 11/1 Schluß hat und er den größten Effekt erzielen kann, besonders bei Kerstin Scholz!«
Es stimmte. An Kerstin Scholz, besonders aber an ihre Figur mußte Christian in der Tat oft denken, wenn er im Keller übte. Es kam dann eine gewisse Intensität in seine Übungsstücke.
«Ach, was muß ich leiden«, spöttelte Verena,»aber nur vor den anderen!«
«Du hörst also zu.«
«Bilde dir bloß nichts ein!«
Ihre Frechheit imponierte ihm …»Ach weißt du, du … Hübsche«, parierte er lahm. Jens machte eine Würgbewegung. Verena war knallrot. Falk grinste. Sie drehte sich wortlos um.
Herr Schnürchel war auf eine Weise sonderbar, die Christian zum Mitläufer Schnürchelscher Spiele werden ließ. Christian dachte, abends: Er hat gelächelt, als du die Moskauer Aussprache des Buchstabens Schtscha endlich richtig hinbekamst. Cremig wie ein Softeis. Einerseits schlich Herr Schnürchel mit wildlederweichen Schritten durch Schulflure und Internat, streifte sich mit genußreicher Akribie die Staubhandschuhe über und förderte mit betrübter Miene Dreck hervor, monierte Christians Schwarzweißkalender und Jens Ansorges Magnettonbänder mit verdächtig unsichtbarer Musik — Christian wußte, daß Jens Neue Deutsche Welle hörte —, andererseits wollte Schnürchel von den Sprach-Schlaffheiten früherer Russischunterrichtstage nichts wissen, kam zu jeder Stunde mit randvoller Vokabelkiepe und schüttete sie den bedrängten Schülern vor die» Heiko«-Füllfederhalter. Christian reizte diese zweite Seite Schnürchels; sein Ehrgeiz war gepackt. Jeden Morgen, Russisch lag in der Regel in der ersten oder zweiten Stunde, ließ er seinen Blick über die brandig rasierten Wangen Schnürchels wandern, die Rennpferdnüstern der schmalen Nase, die an der Spitze in eine rote Kugel auslief; über das schwarze Haar, das Schnürchel mit Zuckerwasser glättete; ein Scheitel, exakt wie eine Aktenkante, teilte es. Herr Schnürchel saß sprungbereit am Pult, die Augen waren weit aufgerissen für einen Blick, dessen Durchbohrungskraft zu hart war für die Siebenuhr-Morgenstunde und sogar Swetlana Lehmann die Augen niederschlagen ließ. Herr Schnürchel trug» Präsent 20«-Anzüge mit Bügelfaltenklingen, Hemden und Krawatten in Zoofarben, an denen stets ein Abzeichen steckte, ein Flammenwimpel mit Hammer und Sichel darauf. Beim Sitzen legte er den rechten Fuß über die Ferse des linken und kippelte ungeduldig mit dem Stuhl, so daß man, über Ringelsöckchen mit Strumpfhaltern, das weiße Fleisch seiner Waden sah.
An einem Märztag schrieb er im Geschichtsunterricht eine Frage an die Tafel, ließ Bücher und Hefter unter die Pulte räumen. Unangekündigte Klassenarbeit. 1983, Karl-Marx-Jahr; Wandzeitungen hatten sich mit Artikeln zum Werk des prophetenbärtigen Philosophen gefüllt und die schwarzumränderten Breshnew-Porträts allmählich verdrängt. Am 1. Mai, dem Internationalen Tag der Arbeit, der ein Feiertag war, sollte es einen» Karl-Marx-Umzug der Schülerinnen und Schüler aus POS und EOS «geben, hatte Gesamtdirektor Fahner bei einem Appell verkündet. Die Frage Schnürchels lautete:»Woran ist die Gesetzmäßigkeit des Siegs des Sozialismus über den Kapitalismus zu erkennen? Stützen Sie Ihre Argumentation auf den Marxschen Geschichtsbegriff!«Umstandslos begannen die Stifte zu kritzeln. Christian ärgerte sich; er war schlecht vorbereitet. Auf jede Zensur kam es an — aus dem Notendurchschnitt wurde die Gesamtnote gebildet, und wer, wie Christian, Medizin studieren wollte, mußte in der 11. Klasse, mit deren Zeugnis man sich um die Studienplätze bewarb, nahe bei 1,0 stehen. Er begann die Frage in ihre Bestandteile zu zerlegen.»Woran «und» Gesetzmäßigkeit «und» Marxscher Geschichtsbegriff «schienen die Kernworte zu sein. Marxscher Geschichtsbegriff … Es wollte ihm dazu nichts einfallen. Er erinnerte sich an den Geschichtsraum in der POS» Louis Fürnberg«, wo an der Wand in wenigen Tableaus, darunter lief ein Zeitpfeil aus dem Dunkel zum Licht, die Geschichte der Menschheit dargestellt war: Urmenschen mit erhobenen Speeren vor einem Mammut, die haarigen Frauen beim Früchtesammeln, die Jungen beim Pfeileglätten oder Faustkeilschlagen; dann römische Köpfe, tief unters Joch gebeugte Sklaven, in deren Augen schon das Feuer der Spartakusaufstände glomm … Im Mittelalter wehte der Bundschuh an den Sensen; dann das Bild aus den Tagen der Französischen Revolution mit der über die Barrikade stürmenden barbusigen Freiheit (die Brust war von Schülern, die Geschichte zum Anfassen suchten, bis zur Konturlosigkeit abgegriffen); dann kam das Zeitalter der Bartköpfe: Marx, Engels, Lenin, und dann kam nichts mehr, denn die Zimmerwand war zu Ende, der Zeitpfeil stoppte an der Ecke. Dort klebten stets besonders viele Kaugummis … Wenn man die Frage Und weiter? stellte, glitten Frau Dreiecks Augen, Lehrerin für Geschichte, Direktorin der POS, in träumerische Fernen, und sie gab eine Antwort, in der viel Licht und Luft vorkam, Christian mußte an Pionierlager denken … Übergang des Imperialismus, Orchideenstadium (Sumpfblüten auf faulendem Grund) des Kapitalismus, zum Sozialismus, und dann wich der irgendwie dem oder zerweichte irgendwie zum Kommunismus … Dieses» irgendwie «beschäftigte ihn regelmäßig. Bei dem Wort» weichen «fiel Christian die» Weichenstellung «ein, ein vielgebrauchter Begriff im Staatsbürgerkundeunterricht; und auch er mußte nun Weichen stellen, in Richtung auf eine Niederschrift seiner Gedanken nämlich … Irgendwie. Aber was für Gedanken? Sollte er sein Staunen über den in der Zimmerecke endenden Geschichtspfeil schildern? Oder die zweite Assoziation zum Wort» weichen«, nämlich eine überreife Birne aus Großvaters Garten in Glashütte? Glich die Geschichte dem Obst, hing sie als stolze, schwersaftige Birnenfrucht vor den Augen der nach Wasser und Süßigkeit lechzenden Menschheit? Man konnte feinen Obstschnaps aus solchen Birnen brauen … War der Sozialismus also die Birne und der Kommunismus der daraus gekelterte Obstbrand? Obstbrand für alle. Und am nächsten Morgen der Kater …? War das die Gesetzmäßigkeit? Die Birne reift, Schädlinge benagen und höhlen sie, Würmer hinterlassen eine kapitalistisch-parasitäre Afterspur, dann jedoch … Wer aß, mußte aufs Klo, das war auch eine Gesetzmäßigkeit. Marxscher Geschichtsbegriff. Christian blickte hilfesuchend auf, aber er saß allein und konnte bei niemandem spicken. Herr Schnürchel hockte mit übereinandergelegten Füßen am Lehrerpult, hielt die Arme unters Kinn gestützt und kippelte, sein Basiliskenblick fixierte Verena. Verena schrieb nicht. Sie schien keine Pause zu machen oder einem Gedanken nachzuhängen, den ein Füllfederhalter in einigen Sekunden festhalten würde. Verena starrte aus dem Fenster. Soweit Christian erkennen konnte, war das Blatt vor Verena weiß. Reina Kossmann, ihre Nachbarin, schielte irritiert zu ihr hinüber. Verena schrieb nicht. Als es zur Pause klingelte, hatte Christian vier Seiten aus der Schatzkammer der Phrasen geschöpft. Verena hatte ein leeres Blatt abgegeben.
Der Frühling war still gekommen, hatte mit bleichen Sonnenfingern den Schnee entlang der F 170 fortgewischt, so daß die Felder bei Possendorf und Karsdorf mit schmutzigen Laken bedeckt zu sein schienen. Noch gab es Kältetage, aber sie froren die Niederlagen des Winters ein; der Schnee war krank, unter dem Harsch tropfte, sinterte, sickerte es, bildeten sich Wasserdrusen, quecksilberten, leckten Stege dünn zwischen Firnhöhlen, suchten einander, fanden einander, flochten Rinnsale. Eiszapfen hingen vom Dach des Schulgebäudes wie zum Trocknen aufgereihte gläserne Aale, Tropfen tockten, plingten und klockten in melodischem Wechsel; Jens Ansorge hätte das gern aufgenommen und zu einem» Tauwettersong «verarbeitet. Er dachte an etwas Ähnliches wie Tomitas Musik zu Modest Mussorgskis» Bilder einer Ausstellung«, die der japanische Klangkünstler in der Hexenküche seines Synthesizer-Labors bearbeitet und bei» Amiga «veröffentlicht hatte. Wie wurde Jens um den Besitz dieser Schallplatte beneidet! Sie war frisch erschienen, und in keinem Plattengeschäft weit und breit gab es sie zu kaufen, nicht einmal im» Philharmonia«. Der Inhaber, Herr Trüpel, hatte Christians Frage vorweggenommen und schon beim» Klong «seiner Ladenglocke geantwortet, daß»die Scheibe von Herrn To-mitta «nicht mehr vorrätig sei, nicht einmal» für die Frieks«. Und dabei hatte er Christian leer aus seinen blauen Augen angesehen, die von einer Brille mit runden Gläsern und Goldrand stark vergrößert wurden. Auch nicht unter dem Ladentisch? Das war eher eine Anwandlung von Naivität als Frechheit; Herr Trüpel hob nur die linke Braue, zögerte einen Moment, bevor er unter dem Ladentisch nachschaute, sich wieder kerzengerade aufrichtete und» Nein «antwortete. Man mußte sich mit Kassetten behelfen, Herr Trüpel legte wortlos eine vor Christian hin.»Die genügt. «Und kassierte EVP M 20, für eine Magnettonbandkassette aus dem Hause ORWO.
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