Niklas erzählte von den Sängern der Dresdner Oper, von den großen Dirigenten der Vergangenheit. An die Fenster klatschte der Regen, wirbelte der Schnee, die Flocken klebten hundertäugig an den Scheiben und tauten langsam. Im Sommer saßen Christian und Niklas auf der Veranda neben dem Musikzimmer. Sie roch nach den weißgelackten Holzmöbeln, die aus Gudruns Elternhaus stammten, nach dem Tabak aus Niklas’ Shagpfeife, die er an den lauen Abenden, bei offenen Fenstern, inmitten von Bienengesumm, orange-blauen Dämmerstreifen und Amselrufen genüßlich zu rauchen pflegte. Im Winter hörte Christian Niklas’ weit ausholenden, Schleppnetze aus Erinnerungen auffischenden Beschwörungen im Wohn- und im Musikzimmer zu, wo Niklas sich erst auf einen Stuhl am Ausziehtisch, dann, wenn es ans Musikhören ging, auf die Récamiere vor dem wassergrau gewordenen Spiegel setzte. Die Schallplatte auf dem Teller des» HiFi«-Apparats mit der Buchenimitat-Furnierleiste begann sich zu drehen, und sie lauschten den Sängern, von denen Niklas gesprochen hatte. Dann, so empfand Christian, geschah etwas mit dem Zimmer: die grüne Tapete mit den Urnensternen und Strahlentieren schien sich zu öffnen; die Wiener Uhr bekam ein Gesicht, die gelbe Kunst-Rose unter dem Glassturz auf dem Sekretär in der Ecke, an dem Niklas seine Korrespondenz mit Tinte auf Spechthausener Bütten schrieb, schien zu wuchern und sich zu verzweigen, wie es in Silhouettenfilmen in den Tannhäuser-Lichtspielen geschah, wo Schattenpflanzen (Rosen? Disteln? weder Muriel noch Christian, noch Fabian wußten es) ein Schloß umrankten; die Fotografien der Sänger an den Wänden waren nicht mehr nah, wirkten wie heraufgetrieben aus den Kajüten versunkener Schiffe; das Wetzgeräusch der Abtastnadel klang wie Meeresdünung. Niklas saß vorgebeugt, angespannt, und ging die Melodiebögen und Einsätze mit. Christian beobachtete seinen Onkel verstohlen, auch er schien der Gezeitenwelt, dem Meeresrauschen aus lang vergangenen Tagen, anzugehören, nicht der Gegenwart; und manchmal erschrak Christian sogar ein wenig, wenn Niklas über Alltagsangelegenheiten wie Schneeketten für den Shiguli oder das letzte Spiel von Dynamo Dresden sprach; er schien in dieser Welt, wo es die»1000 Kleinen Dinge «und den Fluch des Treppensteigens in Behörden gab, nur zu Besuch zu sein, umhüllt vom Mantel einer gütigen Fee. Christian mußte sich in seine Alltagswelt zurücktasten, wenn er sich von Niklas verabschiedete, mußte auf dem Heimweg (schräg gegenüber lag die Karavelle), den er oft auf Umwegen verlängerte, wieder zurückfinden, den Kopf voller Sänger- und Komponistennamen, Anekdoten aus dem Staatskapellenmilieu vergangener Jahrzehnte, voller Bilder deutscher Dome und Details aus dem Dresden der Vorkriegszeit.
Und bei Malthakus waren es die Briefmarken, die historischen Postkarten mit ihren Szenerien, die unter den kommentierenden Erzählungen des Händlers zu kleinlebendigen Tableaus wurden; die Alben mit den Marken aus fernen Ländern:»papillons, 100 différents«,»bateaux, 100 différents«; Schmetterlinge aus Guyana und Réunion, Gabun und dem Senegal; Schiffsmotive:»République du Benin«, Indochina, São Tomé e Príncipe; dreieckige, an den Hypotenusen über eine Perforationslinie verbundene Marken aus Afghanistan, die der Händler geduldig analysierte:»Hier, das Schiff mit den rotweiß gestreiften Segeln, das ist eine Hanse-Kogge«(Christian kannte sie von einem Glastüren-Schliff im Treppenhaus der Karavelle);»auf der anderen Seite, das mit den blutroten Segeln, ein venezianisches Kauffahrtei-Schiff«; dann ließ er einen Globus kreisen und tippte mit dem Finger auf die Orte, die den Heinrichstraßen- und Wolfsleitenkindern sagenhaft in den Ohren klangen — Benin, vormals das Königreich Dahomey, ein schmales Land an der Westküste Afrikas, Hauptstadt — Hauptstadt? Das mußte man wissen! Schnell den Atlas aufgeschlagen! Wie heißt die Hauptstadt von Benin? Aber man blieb an Togo hängen, ehemalige deutsche Kolonie, das an Benin grenzte; und auch Togo war interessant, und dann entdeckte man Länder wie die Elfenbeinküste und Obervolta mit der Hauptstadt (diesen Namen liebten sie alle, und alle wußten ihn später bei» Name Stadt Land«: Ouagadougou; in Ouagadougou waren Sindbad und seine Mannschaft sicherlich schon einmal gewesen; in Ouagadougou war alles anders).
Wissen, Wissen. Namen, Namen. Gehirne wie Schwämme saugten alles auf, bis sie trieften von Kenntnissen, die sie nicht wieder hergaben, denn diese Schwämme konnte man nicht quetschen. Wissen war, was zählte; Wissen hieß der gehütete Schatz derer hier oben.
Wer nichts wußte, schien nichts zu gelten. Kaum ein schlimmeres Schimpfwort als» Banause«. An den Wochenenden gab es Anatomiestunden bei Richard (er fragte gern die Handwurzelknochen ab, Merkvers:»Ein Schifflein fuhr im Mondenschein — Os lunatum — dreieckig um das Erbsenbein, vieleckig groß — multangulum majus —, vieleckig klein — multangulum minus —, am Köpfchen — Os capitatum — muß der Haken sein«) und Vorträge über berühmte Ärzte: Fabian, Muriel, Robert und Christian, die Medizin studieren wollten, saßen in Richards Arbeitszimmer und wiederholten Merkstoff:»Wann begann Sauerbruch in München zu arbeiten? — Im Spätsommer 1918. — Nenne drei Wegbereiter der Brustkorbchirurgie und eine ihrer Leistungen. — Bülau. Bülaudrainage. Rehn. Erste OP am offenen Herzen. Mikulicz. Mikuliczsche Linie, Klemme; OP am Brustteil der Speiseröhre, möglich durch Sauerbruchs Unterdruckkammer. Sauerbruchs Lehrer in Breslau. «Muriel und Fabian schienen eher aus Gewohnheit mitzutun (außerdem gab es bei Anne schmackhaftes Essen); Christian bewunderte Sauerbruch, war fasziniert von den Geschichten über Robert Kochs heroischen Aufstieg, grub sich durch das in Schreck-Rotorange gehüllte»Ärzte im Selbstversuch «Bernt Karger-Deckers, durch die vielbändige Reihe» Humanisten der Tat«, die ein Fach im Bücherschrank seines Vaters füllte, schlug beklommen die Anatomie-Atlanten auf, wo tausende lateinische Bezeichnungen auf akribisch gezeichnete Körperteile wiesen:»Das muß man alles lernen im Studium?«—»Das ist Stoff in den ersten beiden Jahren, dazu kommt Biochemie und Physiologie, Chemie, Biologie, Biophysik, Mathematik für Mediziner, und leider immer noch Marxismus-Leninismus«, antwortete Richard. Christian ließ sich auch nicht durch besorgte Einsprüche Annes beirren (»Laß sie doch spielen gehen, Richard, ihr stopft sie alle mit Büchern voll; ihr übertreibt das, und ich glaube nicht, daß es gut ist«) und schlang Wissen in sich hinein, soviel er konnte. Denn auch er wollte berühmt werden und anerkannt sein von Richard und Niklas, Malthakus und Meno, den Türmern. Auch sein Name sollte einmal leuchten. Christian Hoffmann — der große Chirurg und Forscher, der Bezwinger der Krebskrankheit. Der erste Nobelpreisträger der DDR, beklatscht in Stockholm. Danach würde er wahrscheinlich abhauen, das Angebot einer englischen oder amerikanischen Elite-Universität annehmen. Oder doch ein Ökonom und Betriebsdirektor wie Ulrich werden? Jeden Morgen ein aufgeräumter Schreibtisch, die Sekretärin bringt Schriftstücke, die über das Wohl und Wehe eines ganzen Landes befinden, bitte um Ihre Unterschrift, Genosse Direktor. Genosse: Das war dann freilich nicht zu umgehen. Christian horchte in sich hinein: Nein, keine Skrupel. Wenn man dafür Direktor wurde. Oder ein Naturwissenschaftler wie Meno. Insektenforscher, und zig Bienenarten enden auf H wie Hoffmann. Physiker — und an den Grundlagen der Welt tüfteln! Die Energien der Zukunft finden! Ezzo sah sich als Kosmonaut. Sindbad und Tecumseh waren gut. Chingachgook die Große Schlange. Trapper sein wie Lederstrumpf. Cellist sein auf den Bühnen der Welt, beifallumrauscht — aber dafür, Christian spürte es und sein Lehrer deutete es an, reichte es nicht; es reichte für den Hausgebrauch, immerhin, geschenkt; konnte man eben Staatspräsidenten überraschen, wenn man als Nobelpreisträger für … (egal) zum Cello griff und eine von Bachs Suiten spielte. Fabian, angetan von Langes Erzählungen, strebte in die Tropen, wollte Schiffsarzt und ein neuer Albert Schweitzer werden. Robert sagte:»Ihr habt alle einen an der Waffel«, und ging angeln oder mit Ulrich zum Fußball. Muriel wurde schwierig, sprach mehr von Liebe als von den Wissenschaften und den Künsten. Christian las.
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