Außer Krähen gab es hier keine Vögel. Wenn im Sommer die Dämmerung begann, hatten im Garten der Karavelle die Amseln ihre sehnsüchtig und melodisch klagenden Rufe hören lassen; hier, auf der Karbidinsel, hörte man keine Vogelrufe außer dem häßlich-ruppigen Gequarr riesiger Krähenscharen, die sich an den schaumig bespülten Stränden der Saale, deren Bogen man vom Fenster aus sehen konnte, wohlzufühlen schienen und allabendlich, auf bleichen Baumgerippen, zum Schlaf und zu den Erzählungen des Tages sammelten. Vom Tage, vom heute gewesenen Tage … Sie tratschten und schnarrten, fischten im Spülicht nach Freßbarem, das wohl in genügenden Mengen heranschwappte, und manchmal, wenn auf der Karbidinsel die Lichter in den Zellen gelöscht wurden, schienen sie zu lachen, ein zerkratztes, widerliches Gespött anzustimmen. Die Farbe ihres Gefieders, dies glänzende Kohlenschwarz, verschmolz wie ein Tarnmantel mit der des Flusses, der sich träge und, jetzt im August, fast allabendlich von einer eisenroten Sonne beschienen durch die Chemielandschaft wälzte, über der, angebracht an den Kontrollstegen an der Spitze der Hochofenköpfe, die Fahne von Samarkand wehte: eine gelbe Fahne, das Gelb der Quarantäneflaggen an Schiffen, mit einem schwarzen Destillierkolben. Christian und die anderen waren von Schwedt ins Lager II gekommen, das einen gesonderten Flur in der fünften Etage der Strafvollzugsanstalt belegte. An der Flurwand, neben dem Tisch des Wachhabenden, war ein» Tagesdienstablaufplan «angebracht, abgekürzt TDAP. Er glich dem im Lager I: Um vier Uhr wurde die Frühschicht geweckt (allerdings heulte hier eine auf- und abschwellende Sirene, als ob vor anrollenden Bomberflotten gewarnt würde), dann folgten Frühsport und Morgentoilette. Hier waren die Wasserhähne über den Waschbecken installiert; aber es gab nicht immer Wasser — wenn Samarkand» Hub hatte«, wie es hieß, all die Maschinen, Filteranlagen, Kühlsysteme, Werksleitungen Wasser forderten, dünnte es an den Tüllen der Waschraumhähne zu Rinnsalen aus. Auch war es kein Trinkwasser, was da aus den Leitungen kam, sondern eine manchmal rostige, öfter suppengelbe Brühe, die nach Scheuerlappen und faulen Eiern roch. Es hieß, daß dieser Geruch vom Karbid stamme, von» drüben«, von jenseits der Saale, an deren Ufer, durch eine korallenhaft verkrustete Brücke mit der Strafanstalt verbunden, eine Karbidfabrik stand. Von der Brücke aus, auf der sich die Kompanie» ohne Tritt «näherte, wirkte sie wie eine alte Dampflok, die sich zur Saale niedergebeugt hatte, um zu trinken. Aus einem zyklopischen Schlot quollen Schwaden hellgrauen Dampfs, der sich, unter den Wolken, in die Dämpfe der Kokerei, des Chlorwerks, der Kraftwerke saaleabwärts mischte, wobei eine unbewegte dunkle Spindel entstand, die sich oben blütenkorbartig verbreiterte.
Christian und seine Gefährten rückten mit der Frühschicht ein, durch einen von Neonröhren notdürftig erhellten Gang, an einem mit Blümchentapete ausgekleideten Pförtnerhäuschen vorbei, durch eine Schranke, über der ein» Rauchen verboten«-Schild hing. Die Gespräche verstummten, schweigend und geduckt, angetrieben vom» Zügig!«Stabsfeldwebel Gottschlichs, eilten die Strafgefangenen in die Fabrik. Es war schon hell, die Luft schon drückend, es würde ein heißer Tag werden. Die Kompanie wartete auf einem Hof, den hohe, völlig graugestaubte Gebäude links und rechts zu einem Schacht machten. Walzentrommeln teilten den Hof quer, drehten sich langsam, Arbeiter in graublauer Kleidung, mit Schutzhelmen, liefen auf Gitterrosten über den Walzen hin und her. Über die Trommeln spülte Wasser, es schien direkt aus der Saale zu kommen. Die Trommeln rumpelten und dröhnten, als würden Wackersteine darin gedreht. Aus den Gebäuden waren seltsame Geräusche zu hören — ein scharfes, gefährlich klingendes Summen, als hielte man eine besondere Art von stechenden Insekten gefangen; als befände sich hinter den Hallentoren eine Neuzucht längst ausgestorbener Meganeura-Libellen oder karbonischer Hornissen. Die Gebäude waren grau: schlammgrau und bleistaubfarben, Karbidstaub, der sich in dicken Schichten auf Rohren, Wänden, Treppen abgesetzt hatte, selbst auf den Fenstern — einfache, ins Mauerwerk gebrochene Öffnungen mit Flatterlappen. Was Christian sah, war ein Korallenriff aus Dreck, und in jeder Sekunde, in der die rostbraunen Walzentrommeln mahlten, aus den Schornsteinen Rauch unter die Wolken am Himmel kroch und ihn verdüsterte, rieselte, sank, knisterte Staub in frischen Schichten auf die von Feuchtigkeit und Wind hartgebackenen alten. Christian blickte zu einer Arbeiterin, die ein rotes» Simson«-Moped vor einem Ofenhaus abstellte und nach hinten, auf einen viereckigen Backsteinturm zu, verschwand — er sah das Spurprofil ihrer Schuhe im Staub, für einen Augenblick scharf in die nachgiebige Schicht geschnitten, bald aber überpudert von Sinkstaub, die scharfen Kanten wurden unscharf, allmählich füllte sich die Spur, begann unsichtbar zu werden. Auf Pfannkuchens Schultern lagen nach etwa zehnminütigem Warten Epauletten aus grauem Pulver, die Käppis schneiten ein, die Stiefel; Stabsfeldwebel Gottschlich wischte seine Armbanduhr sauber. Die ersten Wartenden begannen zu husten. Der Staub drang zwischen die Zähne, in die Augen, was sie entzündete, er scheuerte die Leisten wund. Und dann kam der Wind. Wind, der Stöberer, Unruhebringer, Blindmarschall des Wetters. Wie ein wachsender, dunkelgrauer Dschinn aus einer entsiegelten Flasche schwoll eine Staubspirale über der Karbidfabrik; am Erdboden, wo einzelne Grasbüschel wie Haarschöpfe von Begrabenen im Karbidpulver steckten, war die Spirale schlank wie eine Boa, gegen die Waggons auf der Materialtransportstrecke, hinter der Fabrik, aufschwellend wie eine Posaune, die sich bog und wand und über dem Lokomotiven-Rist der Ofenhäuser ihre Schalloch-Mündung entwickelte.
Pfannkuchen nahm es achselzuckend. Er hatte gehört, daß die Arbeit in der Karbidfabrik gut bezahlt wurde, und als ein Brigadier kam, um sie zur Arbeit einzuweisen, begann er» Kopf zu heben «und zu feilschen. Gottschlich hatte anderswo zu tun und schien die Strafgefangenen jetzt sich selbst und den Karbidleuten zu überlassen. Christian sah die Gitter vor den Fenstern der Ofenhalle, in die sie der Brigadier führte. Hier, wenig übererdig, waren die Fenster aus Glas, hatten helle ausgewischte Schlieren, wie Butzenscheiben, in den Ecken waren Staubzipfel emporgewachsen.
«Sie können mir doch was extra zahlen. «Pfannkuchen lächelte. Aha, der hatte seine Selbstsicherheit also nur versteckt. War ja schlau, der Bursche, wußte, wann es besser war, zu ducken und zu schweigen. Den Reumütigen zu mimen: denn den» gebrochenen Charakter «hatte ihm Christian nicht geglaubt. Abends erzählte er manchmal von Haftanstalten, die er durchlaufen hatte. Es gab Menschen, und so junge wie Pfannkuchen, die sahen das Land aus der» Siebluft«-Perspektive,»mit vergitterten Augen«. Waren durch die Knasts der Republik gewandert, kannten die Aufseher, ihre Vorlieben und Schwächen, wußten, ob und womit man sie schmieren konnte. Schwedt und die Karbidinsel hatte Pfannkuchen noch nicht gekannt — sie kannten ihn, wie Christian erfuhr. Mit Gottschlich hatte Pfannkuchen sich gleich verstanden, da witterte ein» Bruder «den anderen. Zufall, manchmal nur die Seite der Geburt, wohin es einen kleidete: dunkelblau oder gestreift. Die Ausdrucksweise unterschied sich nur darin, ob man per Gesetz prügelte oder nicht. Das hatte Christian zu lernen gehabt: Daß nicht lange geredet wurde. Schneller als ein Wort war ein Fausthieb, und wer recht hatte, wurde nicht in Diskussionen geklärt, jedenfalls nicht in mündlichen. Willst du’s schriftlich. Etwas schriftlich kriegen . Das bedeutete hier etwas anderes als draußen , auch das war zu lernen.
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