«Militärstrafgefangener Unteroffizier Hoffmann meldet sich zur Belehrung, Genosse Oberst.«
Der Oberst, ein untersetzter, väterlich wirkender Mann, blieb sitzen, blätterte in Christians Akten, sah ihn nicht an, während er sprach. Er sprach von Reue, von notwendiger Strafe, von Vertrauen und von Erziehung. Dieses Wort kam am häufigsten vor in seiner Rede. Erziehung: denn mit Zwo-zwanzig sei er, Hoffmann, ein ganz Schlimmer. Das werde ihm hier vergehen, das könne er, der Leiter, ihm versprechen. Er, der Leiter, werde aus ihm, Hoffmann, einen reuigen Armeeangehörigen und gut erzogenen Bürger unserer Republik machen. Auch das verspreche er ihm.
Der Vortrakt, in dem die Ankömmlinge sich noch befanden, war vom eigentlichen Lager durch eine stacheldrahtbewehrte Mauer abgetrennt. In der Mauer gab es ein Gittertor, durch das der Posten die Ankömmlinge geleitete. An den Ecken der Mauer gab es Wachttürme, auf denen Posten sichtlich gelangweilt Leichte Maschinengewehre ins Lager hielten. Die Betonmauer grenzte nur nach außen, zum Vortrakt, ab, innen war ihr ein Stacheldrahtzaun vorgesetzt. Zwischen Mauer und Stacheldrahtzaun verlief ein Kiesstreifen, auf dem Hunde schliefen.
Christian wurde in eine Baracke geführt. Muffiger Geruch lag im Flur und in der Stube. Die Stube hatte achtzehn Betten, je drei übereinander. Der Posten zeigte Christian seinen Spind und befahl ihm, stehenzubleiben. Der Posten ging hinaus, Christian starrte aus dem Fenster, von dem staubiges Licht einfiel. Das Fenster war vergittert, man sah einen der Wachttürme und ein Stück Kiesstreifen mit den Hunden, von denen zwei inzwischen erwacht waren. Jetzt erst begriff Christian, was geschehen war, und daß dies für ihn die absehbare Zukunft war: Schwedt an der Oder, Militärstrafvollzugsanstalt, ein Jahr, ein unwiederbringliches Jahr des Lebens. Und dieses Hier, Hier stehst du, wühlte sich wie eine Schraube in ihm fest, er mußte sich ablenken, begann zu rechnen: Mit dem Nachdienen würde er im Herbst 1989 entlassen werden, fünf Jahre Nationale Volksarmee, und was danach kommen würde, wußte er nicht, vielleicht würde ihm Meno helfen. Er konnte nicht mehr stehen, aber schon war der Posten wieder da und befahl es ihm.
«Wir werden Sie schon noch erziehen.«
Der Alltag begann mit dem Wecken früh um vier Uhr. Die Strafgefangenen sprangen aus den Betten, in denen sie in langen Baumwollunterhemden, das Genitale nackt, geschlafen hatten. Frühsport und Waschen. In Christians Kompanie gab es 47 Militärstrafgefangene, für sie gab es einen Waschraum mit zehn Wasseranschlüssen. Die Wasseranschlüsse besaßen keine Wasserhähne; die Wasserhähne waren bei Stabsfeldwebel Gottschlich in Verwahrung und mußten auf die Wasseranschlüsse geschraubt werden. Meist wurden sie herausgegeben.
Nach dem Frühstück begann entweder die Ausbildung im Objekt (Exerziertraining, An- und Ablegen der Schutzkleidung, Einweisung in den Brandschutz, Marsch mit erschwertem Marschgepäck, Sturmbahnlauf) oder die Arbeit. Die Arbeit fand für die Disziplinareinheiten, in denen Delinquenten ohne Militärgerichtsprozeß dienten, meist in den Barackenkellern statt. Christian und Pfannkuchen gehörten zu den Strafarrestanten, sie wurden jeden Tag zur Arbeit ins Kombinat gefahren. Dort schliffen sie Türen, reparierten oder bauten Stapelpaletten, entgrateten Plastmöbel oder schraubten Schrauben in Schraubenlöcher. Die Arbeit dauerte acht Stunden, danach ging es zur Ausbildung zurück ins Objekt. Nach dem Stuben- und Revierreinigen, 20 Uhr, Nachtruhe. Die Toiletten hatten keine Türen; seine Geschäfte machte man vor aller Augen.
«Damit Sie nicht so was Blödes wie Selbstmord begehen«, sagte Stabsfeldwebel Gottschlich. An der Decke des Kompanieflurs hing ein skurriles Element: eine Spielzeug-Eisenbahn aus Plast, gefertigt von früheren Strafgefangenen aus Materialresten des Petrolchemischen Kombinats, für den Kompaniechef zum 40. Geburtstag. Die Eisenbahn hatte Waggons, verschiedenfarbig, sechsunddreißig Stück. Weil die Waggons so bunt waren, hieß die Eisenbahn der Orient-Expreß. In den Waggons steckten farbige Kärtchen, auf den farbigen Kärtchen standen Namen. Die Position der Namen bezeichnete den Grad der Normerfüllung bei der Arbeit. Günstig war es, seinen Namen in einem der ersten zehn Waggons zu finden. Fand man sich in der Mitte, gab es Schulungen . Eine davon war, um Mitternacht geweckt zu werden und zwei Stunden lang in voller Montur frei stehend zu verbringen. Fand man seinen Namen länger als eine Woche im letzten oder vorletzten Waggon (Stabsfeldwebel Gottschlich hielt das nicht ganz konsequent), rückte man für eine bestimmte Zeit ins U-Boot ein, wohin man auch bei Aufmüpfigkeit, Widersetzlichkeit, mangelnder Einsicht, Unkooperativität oder Dummheit kam. Eine Dummheit konnte es sein, im Politunterricht oder dienstags, wenn die Wiederholungen von Karl-Eduard von Schnitzlers» Schwarzem Kanal «im 2. Fernsehprogramm gemeinschaftlich empfangen wurden, nicht völlig reglos, doch erziehungsbereit dazusitzen.
Das U-Boot hieß offiziell Arrest. Arrest wurde bei einem Appell ausgesprochen. Bevor Christian ins U-Boot kam, hatte er sich beim Arzt» zwecks Feststellung der Arrestfähigkeit «vorzustellen. Der Arzt war ein junger, doch schon müder Mann in makellos weißem Kittel, ohne Stethoskop. Er fragte Christian, ob er Medikamente nehme oder Krankheiten habe.
«Akne vulgaris«, sagte Christian.
«Die blüht auch im Dunkeln. «Der Arzt machte einen müden Krakel auf einem Arrestfähigkeitsfeststellungsformular.
Das U-Boot war dunkel, weil fensterlos, und Christian blieb lange, er schätzte, eine Woche. In dieser Zeit hatte er die Zelle vollständig ausgetastet. Der Eimer für die Notdurft, neben dem Tisch, hatte einen emaillierten Deckel an zwei Drahtführungsbügeln; Christian lernte, wie ein Blinder den Tastsinn zu gebrauchen, die Aufschrift auf dem Deckel war leicht erhaben und lautete Servus . Die Decke auf der Pritsche roch nach Spee und, dafür brauchte er einige Zeit, nach den Lamas im Dresdner Zoo, genauer: nach Lamas bei Regen. Die Idee, daß er nun im Innersten des Systems angekommen sein mußte, ließ Christian eine lange Zeit in der noch längeren Dunkelheit der Zelle nicht los. Er war in der DDR, die hatte befestigte Grenzen und eine Mauer. Er war bei der Nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und Kontrolldurchlässe. Er war Insasse der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und Stacheldraht. Und in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt hockte er im U-Boot, hinter Mauern ohne Fenster. Jetzt also war er ganz da, jetzt mußte er angekommen sein. Er mußte noch mehr sein als nur angekommen: Er mußte, dachte Christian, er selbst sein. Er mußte nackt sein, das bare, blanke Ich, und er dachte, daß nun die großen Erkenntnisse und Einsichten kommen müßten, von denen er in der Schule und zu Hause geträumt hatte. Er hockte nackt auf dem Fußboden, aber die einzige Erkenntnis, die kam, war, daß man fror, wenn man einige Zeit nackt auf Steinen hockte. Daß man Hunger und Durst hatte, daß man den Puls zählen kann, daß man auch in der Dunkelheit müde wird, daß man eine Weile nichts hören kann außer dumpfer Stille, und daß dann das Ohr beginnt, sich selbst Geräusche herzustellen, daß das Auge versucht, ständig Feuerzeugflämmchen zu entzünden, hier und dort und dort, und daß man in der Dunkelheit verrückt wird, auch wenn man noch so viele Gedichte kennt, Romane gelesen, Filme gesehen und Erinnerungen hat.
Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand .
Im Juli, an einem heißen Tag, wurden Christian, Pfannkuchen und 28 weitere Strafgefangene auf Effekten bestellt. Sie wurden verlegt, es hieß, in den Orient . So wurde hier, der vielfarbigen Dämpfe wegen, die aus den Fabriken traten, der Chemiebezirk um Leuna, Schkopau und Bitterfeld genannt. Chemie brachte Brot, Wohlstand und Schönheit, und dafür brauchte sie Arbeitskräfte. Sie folgten, in Handschellen, der Erdölleitung» Freundschaft«, die vom Oderstädtchen, dessen Plattenbauten an diesem Morgen hell aus der Ferne grüßten, zum Orient der Chemie, im Südwesten der Republik, und seiner Hauptzone Samarkand führte.
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