«Quasimodo«, sagte einer aus einer entfernteren Ecke des Raums.
«Ja. Der macht wieder seine Runde.«
«Könnte in der dritten über uns sein, dem Hall nach.«
«Der hat ’n Punktroller.«
«Woher willst ’n das wissen.«
«Mein Arsch weiß es.«
«Du Angeber! Spielst dich auf!«
«Italienisches Modell, er hat’s mir vorher noch ganz stolz gezeigt. Mit kleinen Noppen drauf — und hinterläßt keine blauen Flecken.«
«’n Gummiknüppel, der keine Striemen macht, wo gibt’s denn so was!«
«Neue Lieferung.«
«Und dafür Devisen …«
«Habt ihr mal seine Tochter geseh’n?«
«Die soll im Rollstuhl sitzen. Unser SVer hat mir verklickert, er soll ’n guter Vater sein. Sich kümmern und so.«
«Der Frau schenkt er Blumen zum achten März und zum Geburtstag.«
«He, Kleiner!«Damit war Christian gemeint.»Wenn er dir auch mal Blumen schenkt — halt dicht.«
«Sonst wird aus Alpenveilchen — ’n Lilienkranz, hehe!«
«Und deine Mutter kriegt ’n Telegramm …«
«Korrekt!«
«Aber du kannst ’n schmieren.«
«Nee, kannste nich. Hab’ ich schon probiert. Dachte mir, auch ’n SVer braucht Winterreifen. ’s war wider seine Ehre … Er wollte nich.«
«Und?«
«Nu ja. Alpenveilchen.«
«Man müßte’n kaltmachen. Bloß ’n bissel.«
«Und wie? Hier haste bloß ’n Toilettenstrick, und das Plastezeug hält nich. Und stumpfe Messer.«
«Wenn ich ihn mal draußen treffe.«
«Da kannste lange warten! Guter Witz! Die sind wie Kakerlaken — lichtscheu!«
«Schnauze jetzt! Klüsen dicht!«
Unteroffizier Christian Hoffmann
8051 Dresden, Heinrichstraße 11
LADUNG
In Ihrer Strafsache wegen Straftaten werden Sie auf Anordnung des Gerichts zur Hauptverhandlung auf
Freitag, den 6. Juni 1986, 8.00 Uhr
vor dem Militärgericht Dresden geladen.
Zu der Hauptverhandlung ist geladen
Rechtsanwalt Dr. Sperber, Dresden und Berlin.
Vertreter des Kollektivs … Zeugen …
Askanische Insel . Christian und Pfannkuchen wurden in Handschellen in einen Rotunden-Saal geführt. Entfernt glich er einem Hörsaal, sogar eine Tafel gab es. Christian sah seine Eltern und Meno; seine Eltern waren blaß; er mied ihren Blick. Der Posten schob Pfannkuchen und ihn in die vorderste der Holzbänke, die vor dem mit rotem Tuch bespannten Tisch des Gerichts aufgestellt worden waren. Links und rechts einer kannelierten Säule, von der die Goldbronze abgeblättert war, gab es Fenster, auf den Fensterbrettern standen Topfpflanzen. Hoch an der kannelierten Säule hing das Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik; es war aus Plast gegossen. Rechtsanwalt Sperber lächelte Christians Eltern aufmunternd zu.
Das Gericht betrat den Saal. Christian und Pfannkuchen bekamen einen Stoß in den Rücken: Auf. Sie erhoben sich, Christian blieb stehen, obwohl sein rechtes Bein unabstellbar und für das Gericht (ein Oberst, ein Beisitzer im Hauptmannsrang, eine Protokollantin) wohl gut sichtbar hin- und herschwankte. Der Oberst begrüßte die Anwesenden mit einem Nicken. Der Kollektivvertreter, es war der schweigsame Goldschmied, der, wie Christian erst jetzt bemerkte, Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei war, verlas eine Beurteilung der Delinquenten. Unteroffizier Hoffmann sei ein verdächtig schweigsamer, dabei, wenn einmal aus der Reserve gelockt, redegewandt argumentierender Armeeangehöriger, der in seiner Freizeit gern lese, einmal Gedichte von Wolf Biermann. Mehrmals habe er das Petschieren der Kassettenfächer an den Radiogeräten als» schwachsinnig «bezeichnet; mehrmals die Stubenexemplare der» Jungen Welt «auf Mißachtung verratende Art und Weise vom Tisch geschoben. Im Dienst sei er bis auf die beiden Besonderen Vorkommnisse bei der letzten militärischen Übung unauffällig gewesen. Der Richter winkte ungeduldig ab: Diese stünden nicht zur Verhandlung, der Genosse Unteroffizier solle bei der Sache bleiben! Schlückchen wurde aufgerufen, zog Inas kubanischen Brief aus der Aktentasche. Hoffmann sei widerspenstig gewesen, man habe des öfteren zu erzieherischen Maßnahmen greifen müssen. Es folgte die Beweisaufnahme. Die Zeugen traten vor: Muska, Wanda, der Lehrgefechtsfahrer, der Christian den Befehl des Kompaniechefs übermittelt hatte. Sie wurden zum Wortlaut der Sätze befragt, die Christian und Pfannkuchen gesagt haben sollten. Jeder erinnerte etwas anderes. Der Richter wurde ungehalten. Er wies an, aus den Vernehmungsprotokollen zu lesen, ließ die Zeugen bestätigen.
Dann sollten die Angeklagten Stellung nehmen . Erst Christian, dann Pfannkuchen. Christian bat um Entschuldigung, er sei verwirrt gewesen, in einer besonderen Situation. Am liebsten hätte er geschrien, mit einem Maschinengewehr, wenn er eins zur Verfügung gehabt hätte, die ganze Schweinebande (er mußte aufpassen, daß dies Wort ihm nicht aus Versehen über die Lippen schlüpfte) niedergemäht. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Sperber unmutig abwinkte. Pfannkuchen sprach mit leiser, gebrochener Stimme und demütig gesenktem Kopf. Auch er habe es, wie sein Vorredner, nicht so gemeint. Er wolle alles wiedergutmachen und bereue seine Verfehlung schwer. Für Pfannkuchen war niemand gekommen, er schien keine Verwandten zu haben, oder es schien sie nicht zu kümmern. Das Gericht ordnete Unterbrechung an.
Sie kamen in Handschellen in einen Raum, in dem zwei Zellen in Form von Gitterkäfigen aufgestellt waren. Jeder bekam einen Käfig, und sie mußten warten. Christians Handschellen saßen zu eng, er wies den Posten darauf hin. Der Posten informierte den Aufsichthabenden Offizier, der die Handschellen weiter stellte. Danach erkundigte er sich, ob es nun korrekt sei. Sperber kam.»Sie hätten fast eine Dummheit gemacht, Herr Hoffmann, indem Sie auf Ihre besondere Situation hinwiesen. Ich dachte, das hätten wir besprochen? Ich habe Ihnen gesagt, daß das mein Part ist. Halten Sie sich zurück! Sie verschlimmern sonst alles.«
«Herr Rechtsanwalt …«
«Ich weiß, was Sie wissen wollen. Sind Sie eigentlich immer so ungeduldig? Rauchen Sie erst mal eine, kommen Sie runter.«
«Werde ich freigesprochen?«
Der Rechtsanwalt warf einen ungläubigen Blick auf Christian, dann auf Pfannkuchen, der ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.
«Sie haben wohl noch immer nicht ganz begriffen, was Sie getan haben, Herr Hoffmann. Sie haben etwas sehr Schlimmes gesagt! Im übrigen rate ich, nicht in Panik zu verfallen, Panik ist immer unangebracht. Die Dinge stehen, wenn ich meiner Erfahrung trauen darf, nicht ganz schlecht. Jetzt ist Frühstückspause; beim Mittagessen werde ich noch einmal mit dem Militärstaatsanwalt sprechen, wir sind alte Studienkollegen.«
«Dann werde ich verurteilt? Gefängnis?«
«Greifen Sie doch den Entscheidungen nicht immer vor! Die Frage ist nicht Strafarrest, sondern das Maß.«
«Und … mein Studium?«
«Herr Hoffmann«, Rechtsanwalt Sperber schien jetzt ernstlich ungehalten.»Sie können doch wohl tatsächlich nicht so begriffsstutzig sein. «Er zündete sich, kopfschüttelnd, eine Zigarette an.»Ich möchte Ihnen eins sagen. Das habe ich auch Ihrem Vater schon auseinandergesetzt. Berufungen«, er blies den Zigarettenrauch zum Fenster, es war nicht vergittert,»haben so gut wie nie Erfolg. Damit verschwenden Sie bloß Papier und bereiten sich Unannehmlichkeiten. Akzeptieren Sie das Urteil, wie es kommt. Die Gerichte entscheiden von vornherein nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit. In Ihrem Fall, in Ihrer beider Fall«, Sperber nickte zu Pfannkuchen hin, der sofort aus seiner Apathie erwachte,»ist der Tatbestand der angezogenen Gesetze erfüllt, wobei Sie, Herr Kretzschmar, besonders vorsichtig agieren sollten; Sie wissen, warum.«
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